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zu finden waren. Gerhard hatte zwar schon manchmal darüber gemuckt, heimlich unterstützt von seinem Vater, aber Frau Ernestine liess sie ruhig grollen und umging die Sache immer mit der Ausrede, dass sie selbst in die Nähe des Geschäfts gehöre und erst Günther so weit sein müsse, dass man sich auf ihn verlassen könne. Sie hatte auch sonst noch ihre besonderen Gründe, die aber niemand von ihnen zu wissen brauchte.

      Im übrigen brauchte man sich durchaus nicht zu schämen, in einem Hause zu wohnen, das noch von Schinkel erbaut war und in dem sich schon beim seligen Kommerzienrat Minister wohlgefühlt hatten. In den letzten zehn Jahren hatte man nach und nach sechzigtausend Mark hineingesteckt, um der Wohnung grössere Räume zu schaffen und sie neuzeitlicher zu gestalten, und dieses Kapital musste erst wieder abgewohnt werden.

      Das war wenigstens Frau Frobels Meinung, die sie gewöhnlich noch durch Bemerkungen ergänzte, dass man ja, wenn sie mal tot sei, machen könne, was man wolle. Ihr Mann lachte dann gewöhnlich und behauptete, sie werde sicher hundert Jahre alt werden. Gerhard jedoch dachte bei sich: Hübsche Aussicht für den Zug nach dem Westen!

      Am Tische sass bereits Annemarie, die Dreizehnjährige, ein blasses, spillriges Ding, mit dem Vogelgesicht des Vaters aus dessen späterer Periode, was sich namentlich zeigte, sobald ihre Augen suchend in die Höhe gingen. Mit diesem Kinde hatte man am meisten durchgemacht, denn, obwohl tadellos gewachsen, war es von frühester Jugend au schwach und kränklich gewesen, trotzdem man es fast in Watte gewickelt und ihm die gesundeste Amme gehalten hatte, die man finden konnte. Die Neigung zur Bleichsucht war nicht herauszutreiben. Ewig war sie müde, klagte sie über Kopfschmerzen, so dass man sie wie ein Wesen aus Glas behandelte. Nur vorübergehend hatte sie die Schule besucht, dann war sie wieder ihrer Erzieherin anvertraut worden, die sich abquälte, sie aus ihrer geistigen Trägheit aufzurütteln. Neuerdings trug man sich mit der Absicht, sie auf mindestens zwei Jahre in eine Pension im Süden zu bringen, deren Inhaberin die Frau eines Arztes war, so dass man sie in guter Behandlung wusste. Geheimrat Völckner, der alte Hausarzt, hatte es so verordnet, und deshalb sollte Frobel senior die Reise nach da unten machen und Edda gleich auf ein paar Wochen mitnehmen.

      Ewig voll zappelnder Unruhe, wie Annemarie war, hatte sie das Sitzen bereits lästig gefunden, und so lief sie auf ihren Storchbeinen der Mutter mit den Worten entgegen: „Mammi, wo bleibst du denn? Ich verhungere schon.“ Und sogleich knutschte sie die Mutter ab, springend wie ein junger Hund, der sich mit seinem Schnäuzchen durchaus reiben will. Sie sagte immer Mammi, weil sie das süsser als das „Ma’chen“ der Älteren fand.

      Jedes der Kinder hatte überhaupt seine besondere Art, sich der Mutter gegenüber zu geben, die sie alle zusammen am liebsten vor Herzlichkeit aufgegessen hätte. Daran war nicht zu zweifeln.

      „Und nachher isst du wieder so wenig“, erwiderte Frau Frobel und schickte dann gleich den Diener hinaus, der ihr heute, wo der Hausherr nicht anwesend war, überflüssig erschien. Das war mit Annemarie immer so: sie hatte zuerst mächtig Appetit, und kam dann das Essen auf den Tisch, so war sie auch schon wieder satt.

      „Du gehst gleich nachher ins Bett und nimmst dir deine Wärmflasche“, fuhr Frau Frobel fort. „Und morgen, in der Mittagstunde, fahrt ihr wieder spazieren, du und Edda. Wir haben jetzt immer Sonnenschein, das wird euch gut tun, dir ganz besonders, der Geheimrat ist auch dafür. Ihr werdet euch hübsch die Pelzschuhe anziehen.“

      „O ja, Mammi.“ Annemarie klatschte in die Hände und benahm sich beinahe dumm vor Freude. Sie war und blieb immer das Baby.

      Man setzte sich und begann zu essen. Eines der Hausmädchen trug auf und Frau Doktor gab in ihrer stillen, bestimmten Art die Anweisung, oftmals nur durch einen Wink nach dem Anrichtetisch hin. Man tafelte immer schnell und ohne Aufenthalt, denn jedes war froh, wenn es vom Tisch weg war, weil es seinen Neigungen nachgehen wollte. Am meisten sehnte sich Frau Ernestine danach, denn für gewöhnlich war die Unterhaltung öde und ohne Reiz. Jeder ritt sein Steckenpferd. Der Alte sprach von seinen Münzen, der Älteste erzählte die nichtigsten Dinge, Edda schwieg sich aus, wenn sie nicht gerade einen neuen Roman erwähnungswert fand, und die Jüngste plauderte von ihren Puppen, mit denen sie immer noch so gern spielte, und ärgerte damit die Ältere, die kleiner als sie war und daher mit diesen leblosen Wesen immer verglichen wurde. Und wenn die Mutter und Günther sich über Geschäftsdinge unterhielten, so interessierte das wieder die anderen nicht.

      Es kam höchstens Leben in die Unterhaltung, sobald Günther mit seinem Temperament dazwischenfuhr und irgendeine Tagesfrage anschnitt. Denn er interessierte sich auch für alles, was ausserhalb der Kontorfrage lag. Dann fühlte sich Edda besonders hingerissen, und auch der Chefgemahl liess sein Münzthema fallen, während der Erstgeborene seine Gedanken zusammensuchte, um dem Jüngeren seine Weisheit entgegenzuhalten. Er liebte ihn zwar, aber stritt um so mehr mit ihm, weil er die Unterjochung seines bisschen Geistes nicht dulden wollte.

      Um so einsilbiger ging es also heute zu, da Günther wieder einmal den Tisch der Eltern verschmäht hatte. Ausserdem war auch Fräulein Assmus, die Erzieherin, nicht anwesend, da sie heute zu Verwandten geladen war. Sie wusste viel, gab, da sie immer aufgelegt zum Sprechen war, der Unterhaltung eine gewisse sachliche Färbung, wodurch dann die Pausen ausgefüllt wurden. Frau Doktor aber sprach am wenigsten, denn sie musste die Augen überall haben.

      „Wenn Günther nicht hier ist, weisst du, Mammi, dann ist schon gar nichts los“, meldete sich endlich das „Baby“, nachdem es von dem Braten langsam genug gekaut hatte, als hätte sie Pappe im Mund. Über diesen Geschmack klagte sie immer.

      „Zum Piepen ist es“, mischte sich Gerhard hinein, wobei er durch sein Kauen die Worte zerriss. „Dieser Knabe Günther fängt an, uns fürchterlich zu werden. Schneidet uns Abend für Abend. Schliesslich kommt man noch auf den Gedanken, dass er eine heimliche Braut hat. Willst du glauben, Mama?“

      „O, Mammi, Günther hat schon eine Braut, hörst du?“ rief die Kleine aus und hüpfte vergnügt auf ihrem Stuhl. „Eine heimliche sogar, Edda, denk nur! Damit zieh ich ihn morgen auf. O ja.“

      „Ganz still bist du und plapperst solchen Unsinn nicht nach“, sagte Frau Frobel streng und machte dem Ältesten Vorwürfe, auf solche törichte Dinge zu kommen. Und um sich diesmal selbst zu belügen, sagte sie dasselbe, was sie vorhin zu der Hausdame gesagt hatte.

      „Na, an den Klub glaubst du doch selbst nicht“, meinte Gerhard mit dickem Kopf.

      „Natürlich glaube ich daran“, sagte Frau Frobel noch bestimmter. „Beruhige dich darüber und gönne ihm die Freiheit. Du hast sie ja von früh bis spät.“

      „Das ist nun wahr, Gerhard“, erhob Edda ihre dünne Stimme, um ihm wieder eins auszuwischen. „Vor zehn Uhr stehst du nie auf, und Günther ist der einzige von uns, der den ganzen Tag über arbeitet. Ausser Ma’chen natürlich.“

      „Ja, das ist er, deshalb verdient er auch, dass man mehr Gutes von ihm spricht“, sagte Frau Frobel wieder und schloss damit dieses Gespräch.

      „Mama, was sagst du denn bloss dazu, dass dieser Emmerich wieder auftritt,“ fistelte Gerhard dann unvermittelt. „Papa sprach vorhin davon. Du, Edda, sprach er nicht davon? . . . Mir war die Geschichte von eurem Protegé, weisst du, schon ganz entfallen. Den hat Grossmama ja wohl berühmt gemacht, nicht wahr?“ Und er unterbrach sich: „Wollen Sie mir mal das Roastbeef herüberreichen, Frau Doktor, ja? Das ist ausgezeichnet heute. Danke, danke . . . Ja, also Mama, wie war doch die Geschichte gleich? Du hast mal für den Sänger geschwärmt, sehr geschwärmt, nicht wahr? Als er noch auf der Höhe stand, nicht wahr? Und dann benahm er sich unfreundlich zu Grossmama, nicht wahr? Ich habe die Chose nicht ganz kapiert, denn — Edda, die Remoulade, sei so gut, — denn Papa war wieder recht zerstreut dabei. Um nicht zu sagen konfus.“

      „O, Mammi hat für einen Sänger geschwärmt, denk nur, Edda!“ meldete sich Annemarie wieder und liess die Augen vergnügt nach oben gehen. „Das muss schön sein.“

      „Weshalb soll Mama nicht mal für einen Sänger geschwärmt haben“, diente ihr Edda altklug. „Das ist doch gar nicht etwas so Besonderes. Das tun viele junge Mädchen. Manche verschiessen sich sogar in die Tenöre und schreiben ihnen Liebesbriefe.“

      Annemarie wollte

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