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er vor. Und als wir nicht reagierten, fragte er: „Ihr habt wohl Angst?“

      „Angst?“ fragte ich, so verächtlich wie möglich. „Wenn, dann fahr’ ich mit dem Tango.“

      Markus lachte mit glitzernden Augen.

      „Wollen wir? Ich hol’ ihn. Den Schlüssel hab’ ich.“ Tango ließ sich nur einspannen, wenn ihm jemand eine Schüssel mit Hafer vorhielt.

      „Ihr seid verrückt“, sagte Brigitte und wälzte sich auf die andere Seite. „Aber von mir aus. Vater fährt ja auch mit ihm. Und Vater ist heute nicht da.“ Er war über Land gefahren, die Gelegenheit war also günstig. Wir waren schon manchmal heimlich gefahren, gerade, weil wir nicht sollten. Es war nie herausgekommen. Es verlockte uns, keine Frage. Wir standen auf. Während wir dem Stall zu gingen, gerieten wir beiden Mädchen schon mit Markus aneinander.

      Der Ponystall auf dem Vorwerk lag etwas abseits und hatte zwei große Boxen, eine für Tango, eine für die andern Ponys. Im Stallgang stand die Haferkiste, weiter nichts. Wir hatten uns wegen einer Kleinigkeit so zerstritten, daß unser Plan zu scheitern drohte. Markus setzte sich auf die Haferkiste, und wir gingen zu den Stuten und Fohlen hinein und streichelten sie. Und dann, ohne noch etwas zu Markus zu sagen, spannten wir Tango ein.

      Die Ponygeschirre waren uns so vertraut wie anderen Kindern ihre Schulranzen, auch die verschiedenen Kutschen kannten wir. Wir nahmen den Einspänner, den sogenannten Dogcart. Tango ließ sich gutwillig hinausführen und machte keine Schwierigkeiten, als ich ihn striegelte. Währenddessen kämmte Brigitte ihm die Mähne. Er war wirklich bemerkenswert schön, zierlich und dabei kräftig, kein Wunder, daß Onkel Hagemann ein wachsames Auge auf ihn hielt. Markus war im Stall geblieben. Als ich noch einmal hineinging, um den Hufkratzer zu holen, sah ich ihn nicht, plötzlich aber polterte es in der Haferkiste, der Deckel krachte hoch, und ich erschrak fast zu Tode. Natürlich war es Markus, der sich hineinverkrochen hatte, um mich zu erschrecken. Das war ihm gelungen.

      Ich weiß nicht mehr, ob ich überlegte oder in Wut handelte. Jedenfalls griff ich zu, bums! schlug der Deckel der Kiste zu, ich fingerte am Schloß und schob es durch die Haspe. Er war gefangen.

      „So, wenn du nun schön bittest, lass’ ich dich wieder raus, eher nicht“, sagte ich atemlos und schadenfroh. Ich wußte, daß Markus nicht bitten würde. Er tat es auch nicht. Er war so still, daß es bedenklich wurde. Hatte ich ihm den Deckel etwa so auf den Kopf gehauen, daß er betäubt war? Vorsichtig schlich ich heran, um durch den Spalt des Deckels zu schielen — und war beruhigt. Markus, der mich wohl gehört hatte, versuchte, mir durch eben diesen Spalt ins Auge zu spucken.

      „Du bist ein Ferkel“, sagte ich entrüstet, während ich zurückfuhr, „nun sitz und tu Buße.“

      Damit drückte ich das Schloß zu — es war ein Schnappschloß —, steckte den Schlüssel ein und stand noch einen Augenblick davor. „Möchtest du noch was?“ fragte ich.

      Darauf ertönte ein höhnisches: „Danke der Nachfrage!“

      Ich ging. Mochte er hocken, es würde ihm nichts schaden. „Iß nicht zu viel Hafer, sonst sticht er dich!“ rief ich noch zurück. Dann trat ich zu Tango hinaus.

      „Kommt Markus nicht mit?“ fragte Brigitte. Sie stand an Tangos Kopf und hielt ihn. Bei ihm konnte man nämlich nicht einsteigen, ohne daß er sofort im Galopp losging.

      „Nein“, sagte ich obenhin und stieg in den Wagen, „wir fahren ohne ihn.“

      Während ich die Zügel nahm, ließ Brigitte den kleinen Hengst los und sprang im Anfahren auf. Der Tango ging los, daß uns Hören und Sehen verging. Er mußte lange gestanden haben, war stallmutig wie ein Rennpferd.

      „Das kann ja heiter werden“, sagte Brigitte. Wir fegten durch den Hof und bogen in die Straße ein. Heute, am Sonntag, war alles still und menschenleer.

      Wir lachten mit einem kleine Unterton der Angst, genossen die sausende Fahrt aber doch. Brigitte hielt jetzt die Zügel, sie fuhr nach dem alten Grundsatz: „Wenn das Pferd durchgeht, dann treib. Laß es laufen, schneller, als es selbst will. Einmal hört es auf.“

      Natürlich würde Tango einmal aufhören und langsamer werden. Und dann nichts wie zurück! Ich mußte ja Markus herauslassen. Vorläufig aber konnte ich nichts anderes denken als: Halt dich fest, und hoffentlich kommt nichts, wovor er scheut. Tango war autosicher, aber Mähdrescher, Trecker oder Lastwagen konnten ihn in blinde Panik jagen. Zum Glück würde heute am Sonntag wohl kein solches Schreckgespenst auftauchen.

      Schließlich gelang es Brigitte, den kleinen Vulkan einigermaßen zu bändigen. Er trabte jetzt, die Vorderbeine fast waagerecht aus der Schulter werfend, dahin, daß es eine Lust war, und wir konnten uns schon wieder unterhalten. Plötzlich hob Brigitte den Kopf.

      „Hörst du nichts?“ fragte sie. Ich lauschte. Tatsächlich, das klang wie ein Jammern, halblaut und kläglich. Brigitte parierte Tango durch, und da hörten wir es deutlich. Wie ein weinendes Kind — aber wo sollte hier eins stecken? Die Felder waren eben und weit zu übersehen, der Wald noch entfernt.

      „Dort!“ rief Brigitte, zeigte auf einen Steinhaufen etwas abseits der Straße und warf mir den Zügel zu, während sie absprang. Kurz darauf kam sie zurück, ein etwa vierjähriges Mädchen auf dem Arm tragend, dem sie beruhigend zuredete.

      „Nun wein doch nicht mehr, wir sind ja da. Sag, was ist los? Bist du ausgerissen von zu Hause?“

      „Nein, ich —“, Schniefen, Schluchzen, „ich — die Großen sind so gemein — sie wollten mich nicht —“, wieder schluchzte es herzzerreißend. „So ge-mei-hein ...“

      „Was wollten sie denn nicht?“ fragte Brigitte freundlich und wischte am Gesicht der Kleinen herum.

      „Mich — mitnehmen — und da bin ich — hinterher — rennt — und auf einmal warn sie weg.“

      „Wer sind denn die Großen?“

      „Na, Felix und Ingo —“

      „Deine Brüder?“

      „Mhm —“

      „Aha, große Brüder.“ Ich dachte an Markus, aber nur flüchtig. Denn nun galt es erst, herauszubekommen, woher dieses kleine Bündel stammte und wohin wir es bringen konnten. Das war schwierig, denn auf unsere Frage, wie sie hieße und wo sie wohnte, antwortete die Kleine zwar geläufig: „Monika Bülz, Frankfurt, Lerchesbergring fünfzig —“, das half uns aber nicht viel. Die vielen Kilometer von Frankfurt bis hierher konnte sie nicht hinter den bösen Brüdern hergelaufen sein. Es war, wie wir scharfsinnig schlossen, ein Kind, dessen Familie hier irgendwo Ferien machte. In welchem Dorf aber?

      Wir fragten. Wir schmeichelten. Schließlich hoben wir sie einfach auf den Ponywagen, Brigitte nahm die Zügel, ich den kleinen Ausreißer auf den Schoß.

      „Erst mal versuchen wir es in der nächsten Ortschaft, und wenn wir dort nichts hören, in der übernächsten“, sagte Brigitte und ließ Tango ausgreifen. Ich schwieg.

      Das war natürlich dumm. Jetzt hätte ich Brigitte erzählen müssen, daß — aber ich dachte, vielleicht geht es schnell, und wir kämen bald heim. Es ging aber nicht schnell. Und dann sagte ich erst recht nichts, denn ich schämte mich vor Brigitte, daß ich so lange geschwiegen hatte. Himmel, was mußte sie denken! Nun saß der Unglücksrabe schon zwei Stunden in seiner Dunkelhaft.

      Endlich fanden wir einen Anhaltspunkt. Wir hatten beschlossen, die Polizei einzuschalten. Die Wirtin des Gasthofes, von wo aus wir telefonierten, sah das kleine Mädchen und hielt uns erst einmal zurück. Sie fragte, und wir antworteten. Natürlich, so mußte es sein. Sie war vorhin angerufen worden, ob man etwas von einem verlaufenen Kind wüßte. Die Anschrift hatte sie. Wir riefen sofort an. Eine vor Glück und Erleichterung schluchzende Mutter antwortete. Wir versprachen, ihr das Kind auf der Stelle zu bringen. Das heißt, Brigitte versprach es, ich konnte nichts ändern, denn ich stand draußen bei Tango. Und dann brausten wir los, noch einmal in der falschen Richtung. Es war ein schönes Gefühl, der Mutter das Kind wiederzugeben. Aber daß sie uns dann noch unbedingt zum

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