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ihrem Gesicht sehen, was sie jetzt dachte. Oh, wie sie sich schämte!

      Da hatten die Küchenmädel einfach den Mund gehalten, anständig und nett wie sie waren — wahrscheinlich hatten sie sie doch gesehen, als sie aus dem Keller hinausliefen, und wollten sie nicht verpetzen. Oder sie konnten es sich selbst nicht erklären ... Jetzt jedenfalls konnte sie doch aber nichts mehr sagen, oder? Denn dann zog sie die Mädel, die so nett zu ihr waren, mit hinein — und Liselotte natürlich auch ...

      Sie sagte nichts. Niemand fragte sie ja, — aber sie hatte ein sehr, sehr schweres Herz, als sie an diesem Abend ins Bett ging, in ihr liebes, schmales, weißes Bett hier ...

      Die Reise - Erika und ein neuer Anfang

      „Du, Reni“, sagte die Mutter und hielt im Packen inne — sie stand über den großen Koffer gebeugt und hatte gerade den Bademantel hineingelegt — „sag mal, fährst du eigentlich gern mit? Oder — nach deinem Brief dachte ich nämlich ...“

      „Nach welchem Brief?“

      „Nun, nach dem, den du mir neulich schriebst — daß es so traurig hier wäre, keine Kinder da, und der Onkel Doktor auch fort!“

      „Ach ja, der.“ Reni stand und sah aus dem Fenster. Ihre Mutter blickte nachdenklich zu ihr hinüber.

      „Ich habe mir immer so sehr gewünscht, daß du bei mir wärst, für immer. Aber ich mochte Niethammers nicht bitten — es ist doch eine sehr große Gefälligkeit, weißt du, wenn du mit dort wohnen und mit Erika zusammen erzogen werden sollst. Nun bat Erika von sich aus darum — und sehr dringend. Sie sehnt sich so sehr nach einer Freundin, war immer allein. Und du schreibst so betrübt, vor allem deshalb wollte ich dich mitnehmen. Nun weiß ich nicht — du hast dich wohl mit Liselotte sehr angefreundet?“

      „Mit Liselotte? Ach wo! Jedenfalls nicht mehr als mit den andern Mädeln hier“, sagte Reni hastig. Es kam so rasch und unsicher heraus, daß Frau Jahnecke merkte: hier stimmte irgend was nicht. Aber sie war sowenig mit Kindern zusammen, immer hatte sie mit großen Leuten zu tun gehabt, und so meinte sie, sie könne sich auch irren. Trotzdem fragte sie noch einmal:

      „Also kommst du gern mit, mein Mädel? Du brauchst mich nicht zu beschwindeln, bestimmt nicht — ich möchte wissen, wie du wirklich denkst ...“

      Reni verließ ihren Platz am Fenster, legte die Arme um Mutters Hals und schmiegte sich an sie an. „Ich komme gern mit, Mutter“, flüsterte sie erstickt.

      Es war wahr. Sie wollte fort hier — noch nie hatte sie so etwas getan wie die schreckliche Geschichte gestern. Sie mochte nicht hierbleiben. Vor Tante Mumme ein schlechtes Gewissen haben müssen, den Küchenmädeln begegnen und denken müssen: sie haben für dich gelogen — und gar Liselotte ins Gesicht sehen! Ach nein, sie wollte fort. Und wenn Mutter es sich wünschte, und Erika sich so freute ...

      Es war ja auch nicht mehr so, wie es früher gewesen war. Wenn auch Tante Mumme und Tante Thea und viele von den Kindern nett waren, so wie der Onkel Doktor war keiner. Und der kam vielleicht überhaupt nie wieder. Außerdem — wenn er kam und von dieser Geschichte hörte — sie hatte bei ihm das Gefühl, als wüßte er immer alles, ähnlich wie der liebe Gott, wenn er auch nicht alles sagte, dann wollte sie erst recht nicht mehr hier sein. Denn er konnte bei aller Güte so streng sein, so schrecklich ernst — nein, sie wollte nicht. Schnell ging sie zum Schrank und hob einen Stapel Wäsche heraus, legte ihn aufs Bett. Schließlich gehörte jedes Kind zu seiner Mutter, gerade der Onkel Doktor hatte das immer gesagt.

      Trotzdem wurde ihr der Abschied bitter schwer. Sie hing an Tante Mummes Hals und weinte, und es war ihr eine schreckliche Beschämung, als sie merkte, daß die alte Dame auch weinte.

      „Sei nicht böse, Tante Mumme, bitte bitte!“ flüsterte sie, mehr konnte sie ja um Liselottes Willen nicht sagen. Tante Mumme schnupfte gerührt. „Aber ich bin doch nicht böse, Kind, dummes, liebes du!“

      Sie gaben ihr allesamt das Geleit, und es war ein so seltsames Gefühl, daß s i e es jetzt war, die von den andern zum Bahnhof gebracht wurde. Sonst war es immer umgedreht gewesen.

      Solange sie noch die hellen Kleider und die winkenden Arme sah, hing sie aus dem Fenster, so weit, daß die Mutter sie hinten am Kleid festhielt, damit sie nicht hinauspurzelte. Sie schalt aber mit keinem Wort. Ein alter Herr, der als einziger mit ihnen im Abteil saß, schüttelte mißbilligend den Kopf. Eine Kindererziehung war das heutzutage!

      Die Kindererziehung, über die er sich aufregen mußte, ging auch unverständlich weiter. Kaum hatte sich Reni hingesetzt, so packte die Mutter eine Tafel Schokolade aus und gab sie ihr, herrliche Nußschokolade, bei deren Anblick jedes Kinderherz lachen mußte. „Nun iß, wir wollen heute mal schrecklich unvernünftig sein!“ sagte diese unglaubliche Mutter. Der alte Herr zuckte die Achseln. Da war es ja kein Wunder, wenn die Kinder s o wurden ...

      Reni merkte es scheinbar nicht. Sie zählte die kleinen Vierecke, in die die Schokoladentafel eingeteilt war — oder besser, sie rechnete aus, wieviel es waren. An der Schmalseite vier, an der Längsseite zehn: das gab vierzig Stück. Durch drei — dreißig durch drei sind zehn, zehn durch drei sind drei Rest eins — das überzählige steckte sie gleich in den Mund. Dann brach sie, die Schokolade vorsichtig mit dem Silberpapier anfassend, den Rest in drei gleiche Teile, legte einen davon der Mutter auf den Schoß, nahm sich den andern, und den dritten reichte sie, mitsamt dem Papier, dem alten Herrn hinüber.

      „Bitte schön! Weil Sie so traurig aussahen!“

      „Aber Kind! Aber Kleines!“ stotterte der Herr in großer Verlegenheit, „das sollst du doch nicht!“

      „Ach, ich hab’ doch genug. Ich hab’ sogar ein Stück mehr als Sie und Mutter, bloß es ging nicht auf“, sagte Reni eifrig und mit Genuß kauend, „im Heim bekamen wir nie eine ganze Tafel auf einmal!“

      „Ja, bitte behalten Sie es doch“, sagte die Mutter und lächelte den alten Herrn warm und herzlich an, „Reni würde es sonst gar nicht schmecken, und mir auch nicht!“

      Es wurde dann eine wunderschöne und fröhliche Bahnfahrt. Sie unterhielten sich, und es stellte sich heraus, daß der Herr Friedrichsaue kannte. Sogar Niethammers — er fuhr in die Nähe und versprach, als er ausstieg und sich von Reni und ihrer Mutter mit tausend Dankesbezeugungen verabschiedete, weil sie ihm seine Koffer herausreichten, daß er einmal auf Besuch kommen wollte. Sie winkten ihm nach, und sein Gesicht war jetzt ganz anders, „wie aufgetaut“, sagte Reni, und die Mutter nickte. Mutters Herz war auch aufgetaut; wenn es auch vorher nicht gefroren gewesen war — aber ängstlich war es gewesen. Der Zwischenfall mit der Schokolade hatte sie so seltsam beglückt.

      Sie würde mit dem Kind schon zurechtkommen. Es war alles so schnell gegangen, Erikas Wunsch und die Zustimmung der Eltern Niethammer, ihre eigene Reise — und daß Reni überrascht war von ihrem Entschluß, sie nun zu sich zu nehmen, das hatte sie wohl gespürt. Der Brief Renis damals war wohl tatsächlich, wie sie schon angenommen hatte, mehr in einer augenblicklichen traurigen Stimmung geschrieben worden, aber es sind ja oft Kleinigkeiten, die uns in eine neue Richtung weisen, und trotzdem kann die Richtung richtig und gut sein ...

      An der Station — Friedrichsaue hatte keinen eigenen Bahnhof, es lag ziemlich einsam mitten im Flachland — wartete der Zweispänner, und auf dem Bahnsteig stand Erika, gespannt und erwartungsvoll. Wenn Reni nun nicht mitkam? Frau Jahnecke hatte extra gesagt, sie wollte sie nur mitbringen, wenn Reni wirklich damit einverstanden sei. Aber vielleicht gefiel es Reni jetzt wieder im Kinderheim, wenn dort neue Erholungskinder gekommen waren, vielleicht ganz furchtbar nette, lustige Kinder? Und der Onkel Doktor konnte ja auch überraschend wieder heimgekommen sein, vielleicht weil er schneller wieder gesund geworden war oder einfach aus Sehnsucht.

      Der Zug mußte unbedingt Verspätung haben, sie wartete doch sicher schon eine Viertelstunde. Nein, nach der Bahnhofsuhr waren es erst sieben Minuten, aber vielleicht stand die? Es war doch unmöglich, daß die Zeit s o langsam verging!

      Endlich tauchte die Lokomotive auf. Erika spähte die Wagen entlang — es konnte ja sein, daß sie den Zug

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