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den Bahnsteig, ein Mädel mit blonden Zöpfen und einem weißen Südwester — das war Reni, zweifellos! Ach, lieber Gott, ich danke dir — Erika rannte den beiden entgegen, feuerrot vor Aufregung und Glück.

      „Wie lieb, Erika, daß du kommst — nein, den Koffer trag ich selber! Da ist Reni — wirklich, sie ist größer als du! Und dabei ein Jahr jünger ...“

      Sie lachten alle drei.

      „Kein ganzes Jahr“, ereiferte sich Erika, „ich hab’ im August Geburtstag und Reni im Juni — da sind es nur zehn Monate ...“

      „Woher weißt du denn, wann ich Geburtstag hab’?“ fragte Reni erstaunt. Erika wurde noch röter als sie schon war.

      „Ach, ich hab’ halt deine Mutter gefragt!“

      „Und du hast im August? Das ist doch jetzt bald“, schwatzte Reni, während sie, mit Taschen und Koffern in den Händen, den Bahnsteig entlang gingen, „was wünschst du dir denn?“

      „Ich hab’ mir schon was gewünscht — und auch bekommen“, sagte Erika halb lachend, halb verlegen, „aber ich bekomm’ sicher auch außerdem noch was, und du kriegst die Hälfte davon ab! Wir sind doch jetzt wie Schwestern!“

      „Ach nein, du, lieber wie Freundinnen“, sagte Reni und boxte den kleinen Koffer mit Schwung auf den Wagen hinauf, „Schwestern — wenn im Heim Schwestern waren, haben wir sie meistens getrennt. Eine in den einen Schlafsaal und eine in den andern, und möglichst an verschiedene Tische. Sonst gab es immerfort Zank. Die großen Schwestern wollten die kleinen erziehen, und die kleinen waren viel ungezogener, wenn die großen dabei waren, als wenn man sie allein hatte. Vor allem, wenn sie im Alter nicht so weit auseinander waren — eben so wie wir. Wenn eine ganz klein war, war die große manchmal sehr nett zu ihr. Aber bei beinah gleichaltrigen gab es immer Krach.“

      Erika sah sie mit staunender Bewunderung an. „Wir“, sagte Reni, „wir taten sie in verschiedene Schlafsäle“, und: „Wir trennten sie lieber ...“

      „Du hast wohl dort — ich meine, du durftest dort wohl viel mitbestimmen?“ fragte sie scheu. Eigentlich hatte sie ein kleines, schüchternes, ziemlich trauriges Mädel erwartet, mit dem man hier lieb und tröstlich umgehen konnte ...

      „Ja, ziemlich. Tante Mumme fragte mich immer: Was meinst du, Reni, wohin stecken wir die? Und den? Und wie machen wir diesmal die Tischordnung? Und was fangen wir mit diesem gräßlichen Klaus an, der immer am Essen mäkelt?“

      „Ist das wahr, Reni?“ fragte Frau Jahnecke erstaunt. „War Tante Mumme so zu dir? Ließ sie dich so was bestimmen?“ Sie hatten sich alle drei im Wagen zurechtgesetzt und fuhren eben los. Reni nickte unbefangen.

      „Ja, die Tischordnung hab’ ich zuletzt sogar immer ganz allein gemacht. Das war so lustig — ich las doch immer alle Anmeldebriefe mit und dachte mir aus, wie das oder jenes Mädel aussehen würde ...“

      „Hast du es immer richtig erraten?“ fragte Erika gespannt. Reni schüttelte den Kopf.

      „Gar nicht. Ich hab’ oft so lachen müssen, wenn die Kinder dann kamen.“

      „Und wenn Erika Niethammer sich angemeldet hätte, wie hättest du dir die denn vorgestellt?“ fragte die Mutter lächelnd.

      „Wie ein Schneewittchen, mit weißer Haut und schwarzen Haaren ...“

      „Kunststück! Wenn ich hier vor dir sitze!“ lachte Erika.

      „Nicht deshalb. Aber ich kenn’ dich doch schon viele Jahre“, sagte Reni selbstverständlich. „Durch Bilder — und durch Mutters Briefe — sie hat mir doch immer alles von dir geschrieben!“

      „Hier fängt unser Wald an“, sagte Erika froh. „Und alle Felder dahinter sind auch von uns — und die Teiche. Wir haben viele Teiche! Im Herbst gehen wir mit zum Karpfenfischen ...“ Ihr Herz fühlte eine niegekannte, stürmische Freude. Daß sie „wir“ sagen konnte! Immer, wenn sonst einmal Besuch gekommen war, war das Besuch für Tage oder höchstens Wochen gewesen, jedenfalls für kurze Zeit. Aber daß man im Sommer sagen konnte: Im Herbst gehen wir zum Fischen ... oder: Im Winter rodeln wir ..., das war noch nie dagewesen, noch nie! Ach, wenn es Reni nur bei ihnen gefiele!

      Auf dem Gut angekommen hätte sie Reni am liebsten gleich mit in die Ställe geschleppt. Aber es gab erst Essen — als Nachtisch zufällig rote Grütze und —, nein, keine Vanillesoße, sondern Milch. Reni war ganz erleichtert — sie behielt durch ihre ganze Kindheit hindurch einen leichten Grusel vor Vanillesoße, konnte sie nie mehr richtig genießen. Und wie gern hatte sie die früher gegessen! Es war wie eine Strafe vom lieben Gott: da sie es nicht eingestanden hatte, sollte ihr nie mehr welche schmecken.

      Reni saß auch über der Milch mit etwas bedrücktem Herzen: vielleicht konnte sie die gräßliche Geschichte an Tante Mumme schreiben, wenn Liselotte wieder fort war aus dem Heim? In sechs Wochen? Vorläufig schob sie aber dann doch diese Überlegungen auf das Abstellgleis ihres Gedankenbahnhofs, es gab zu viel Neues zu sehen.

      Ein Wunsch Erikas hatte sich, wenigstens vorläufig, nicht erfüllt: Reni sollte nicht bei ihr im Zimmer, sondern bei ihrer Mutter schlafen. Sie sagten auch beide nichts — Mutter sah so froh aus, daß sie nun nicht mehr allein wohnte.

      Sie hatte ein Wohn- und ein Schlafzimmer. Im Wohnzimmer gab es einen Lederdiwan und einen tiefen Ledersessel, neben dem ein kleines Tischchen mit Aschenbechern und. Zigarettenschachteln stand. Denn Mutter rauchte gern abends eine Zigarette und bot auch Leuten, die zu ihr kamen, stets welche an. Sie hatte sich das in dem langen Alleinsein angewöhnt, auch, daß sie viel in der Reithose umherging. Sie war nicht männlich geworden, aber so ungeheuer pferdeverbunden — wenn man sie ansah, dachte man sofort an Pferde.

      Überall hingen auch Pferdebilder, und sie erzählte Reni sofort von allen wie von bekannten Leuten. Dies sei Wotan, und dies Sylvia, die jetzt das dritte Fohlen hatte — ein ganz ungewöhnlich schönes Tier. Und dort hinge ein Bild von Wunder, das einzige übrigens — er sei seit drei Jahren verkauft, aber sie konnte ihn nicht vergessen. Sie habe Herrn Niethammer so abgeraten, denn solch einen Hengst bekamen sie nie wieder ...

      Reni war das schon gewöhnt: Mutters Briefe handelten auch mehr von Pferden als von Menschen. Sie hatte sich das Gut eigentlich ganz von Pferden bevölkert vorgestellt und nicht gedacht, daß außer Niethammers und Erika, von denen die Mutter natürlich auch immer berichtet hatte, noch mehr Menschen auf dem Gut lebten. Jetzt staunte sie über die vielen, die sie im Hof sah.

      „Dummerle, wir sind ein Gut, kein Gestüt, leider“, lachte die Mutter. Noch ehe sie alle Sachen ausgepackt und verstaut hatten, kam Erika schon wieder angelaufen. Ob Reni mitkommen dürfte?

      „Na, dann saust ab, wir räumen heut abend fertig ein“, sagte die Mutter gutmütig. „Ich muß ohnehin auch hinüber ins Büro ...“

      Die beiden waren schon auf und davon. Es gab doch so unendlich viel anzugucken und zu zeigen, zu fragen und kennenzulernen, eine ganze neue, unerhört interessante Welt ... Nicht einmal zu den Puppen kamen sie an diesem Tage. Im Sommer sind Puppen auf dem Land Nebensache: gar zu viel Lebendiges und Buntes gibt es dann draußen, und Erika hatte auch ein bißchen das Gefühl, daß Reni sie womöglich ein bißchen über die Achseln ansehen könnte mit ihrer Liebhaberei. So nahm sie Reni lieber in die Ställe und Scheunen mit, in den Garten und auf die daran anschließenden Wiesen. Sie hatten beide verwilderte Schöpfe und rote Backen und einen fast unstillbaren Hunger, als sie endlich endgültig heimkamen. Frau Niethammer sah ihnen entgegen, und ihr schmales, gütiges und kluges Gesicht bekam einen warmen Schimmer. Wie sehr hatte sie sich immer noch ein weiteres Kind gewünscht, wie bitter ihre Kränklichkeit empfunden, die sie oft an Lehnstuhl oder Bett fesselte. Niemand wünschte Erika so sehr einen netten Kameraden wie sie, obwohl ihr ängstliches Herz sich sofort wieder allerlei Gefahren und Unfälle ausmalte. Alle Mutterherzen bangen, keins aber wohl so wie jene, die um ein einziges Kind zittern. Ein Kind ist kein Kind — aber jetzt, jetzt hatte sie doch zwei! Fast heftig fuhr sie Reni über die heiße Wange — liebes, liebes Kind du, mach dem meinen das Leben schön und bunt!

      Ein

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