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Belladonna. Rudolf Stratz
Читать онлайн.Название Belladonna
Год выпуска 0
isbn 9788711506967
Автор произведения Rudolf Stratz
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
„Olga Féodorowna,“ sagte ich, stehen bleibend, „wer sind Sie?“
Olga schien meine Frage überhören zu wollen; sie schlüpfte rasch über den breiten Fahrdamm, auf dem die Iswoschtschiks in ihren unförmlich auswattierten, mit bunter Schärpe gegürteten Röcken, mit weit vorgestreckten Armen die Zügel haltend, ihre kleinen, offenen Wagen dahinsausen liessen. Gleich darauf waren wir in dem Restaurant. Die beiden Herren hatten bereits in einem kleinen Extrazimmer, hinten am Korridor, Platz genommen. Als ich das hörte, hatte ich gute Lust, umzukehren. Aber man macht sich nicht gern lächerlich, und ich beschloss, mich unter allen Umständen sofort nach dem Essen zu entfernen. Mochten dann die beiden Arkad Wassiljéwitsch verraten, — denn darauf schien mir doch die ganze Sache hinauszulaufen —, mich ging das nichts weiter an. Olga musterte übrigens beim Eintreten ihren Geliebten, der bereits am Tische sass, mit einem erschreckend kalten, prüfenden Blicke, der meinen Verdacht bestätigte. Dann wandte sie sich zu dem Greis und sagte ihm ein paar Worte auf russisch. Der Alte nickte lächelnd und schaute auf Arkad. Und es war mir einen Moment, als sähe ich an dem verhängten Fenster unseres Zimmers ein paar dunkle Schatten sich hin und her bewegen. Sollte ich nicht doch Arkad warnen? Vielleicht hatte er gar nichts verbrochen, war das Opfer eines Irrtums. Ich entschied mich dafür. Die erste Gelegenheit wollte ich benutzen und dann ins Hotel zurückkehren.
Inzwischen setzten wir uns zu Tisch.
Solch eine russische Tafel ist eine durchaus nicht zu verachtende Sache, und unter anderen Umständen hätte ich ihr gewiss mehr Ehre angetan. Es war alles recht gut: die Sakuska, das aus Kaviar, kleinen Fischen, mariniertem Stör, kalten Eiern, eingemachten Pilzen und tausend anderen Sachen bestehende Vorgericht; dann der Schtschi, die berühmte Kohlsuppe mit den heissen, fleischgefüllten Pastetchen; das blendend weisse Stück Sterlet, mit aufrecht stehenden Krebsschwänzen garniert; das unvermeidliche Boeuf à la Stroganoff, jene wohlschmeckende Mischung von gedünstetem Fleisch, Champignons und Kartoffeln; und die jungen Steppenhühner mit dem ‚Saft‘, den eingemachten Früchten aus Kiew. Dazu tranken wir Champagner. Olga wollte es nicht anders. Es sei der einzige Wein, meinte sie, den man in Russland nicht fälsche, da man die Flaschen nicht öffnen könne. Sie trank ein Glas nach dem andern und wurde munter und gesprächig.
Allmählich war so die Stimmung gewichen, die anfangs über unserer Tafelrunde lag. Olga plauderte und lachte über die Versuche ihrer Freunde, sich deutsch auszudrücken; sie berichtete von unserm Eisenbahnunfall; sie erzählte von Konstantinopel, von dem Nebel, von tausend Dingen, und sie wurde beinahe wehmütig bei dem Gedanken, nun wieder nach Saratow zurückzukehren, an die Ufer der Wolga, in das Herz des heiligen Russlands, wohin die gleissende Kultur des Westens noch nicht gedrungen.
So kam das Ende des Diners. Olga schickte den schlitzäugigen tartarischen Kellner weg und präsentierte uns selbst den Kaffee. Die unvermeidlichen Zigaretten füllten den kleinen Raum mit dem Parfüm des bessarabischen Tabaks. Die Lichter flimmerten auf dem Tische. Es war eigentlich ganz gemütlich. Nur Arkad sass schweigend und finster da.
Ich benutzte den Moment, wo Olga auf dem Tablett den Nalifka, den süssen Fruchtlikör, eingoss. „Ich gehe jetzt,“ sagte ich leise und deutlich zu Arkad, „nehmen Sie sich in acht!“
Er schien mich nicht verstanden zu haben. Sein Gesicht nahm einen fragenden Ausdruck an.
„Ich warne Sie,“ wiederholte ich recht langsam; „Sie sind von Feinden umringt.“
„Belieben Sie ...!“ Olga streckte mir über meine Schulter das Tablett hin, auf dem mein Likörglas stand.
Ich nahm es dankend in Empfang. Das Zeug schmeckte recht gut. Olga goss mir, halb zerstreut mit dem Alten plaudernd, ein zweites Glas ein.
Als ich dieses getrunken hatte, wollte ich nochmals Arkad aufklären. Ich wandte mich zu ihm und sah ganz erstaunt, dass sein Auge mit einem ernsten, forschenden Ausdruck auf mir ruhte. Es wurde still am Tisch. Und dann blickten mich auch die anderen gespannt an.
*
Ich weiss nicht, ob Sie einmal einen jener Kater gehabt haben, die man sich nur in früher Jugend erwerben kann, solange der Magen noch nicht an Spirituosen gewöhnt ist. Es ist ein furchtbarer Zustand: Kopfschmerz, Übelkeit, Schwindel, völlige Erschlaffung, Lebensüberdruss, — kurz, die Empfindungen eines Menschen, der aus Versehen irgendein Gift verschluckt hat.
In diesem Zustand erwachte ich tags darauf in meinem Gasthofzimmer.
Gegen Mitternacht waren, wie sich später ergab, zwei Hausdiener des Restaurants im Hotel mit der Anfrage erschienen, ob ein fremder Herr, der schon die ganze Nacht durchaus betrunken in einem Extrazimmer liege, etwa hier zu Hause sei. Seine Gesellschaft habe ihn abends verlassen, ohne sich viel um ihn zu kümmern, und gemeint, er werde seinen Rausch schon ausschlafen.
Der Hotelportier aber war eine argwöhnische Natur. Er liess nicht nur den Fremdling, sondern bei dessen Anblick auch einen Doktor holen.
„Seien Sie froh!“ sagte der Arzt, ein geschmeidiger junger Pole, zu mir, während er meinen Puls fühlte, „Sie werden von dem Narkotikum, das Sie mit dem Likör hinunterschluckten, keinen bleibenden Schaden haben. Ihr Geld dürften Sie freilich nicht wiedersehen.“
„Mein Geld ...?“ Ich versuchte nach meiner Rocktasche zu fassen.
„Geben Sie sich keine unnütze Mühe!“ bemerkte der Arzt trocken, „es ist alles fort, auch Börse und Uhr. Wie sollte es anders sein? Unter allen Umständen hätten doch die tartarischen Kellner und die Hausdiener alles gestohlen, was Ihnen etwa ‚die goldene Hand‘ übrig liess ... Sie wird neuerdings masslos frech, diese Bande! Man hört es von allen Seiten.“
„Wer?“
„Nun, eben ‚die goldene Hand‘. Sonst arbeitet die Spitzbubengesellschaft nur auf den Eisenbahnen. Da ist ihre Spezialität, Reisende mit Chloroform zu betäuben oder auch kurzweg im Schlafe zu erdrosseln, um sie dann auszuplündern.“
„Aber wer sind die Menschen? ... Hat man sie verhaftet ...?“
„Sie sind erst seit gestern in Russland,“ sagte der junge Pole, „sonst würden Sie nicht danach fragen. Niemand weiss, wo die Leute geblieben sind, wie zahlreich die weitverzweigte Bande ist, und selbst wenn ein eifriger Beamter sie finge, was dann? Ihre Begleiterin zum Beispiel wurde schon wiederholt festgenommen. Ich sprach eben mit dem älteren Gehilfen des Staatsanwalts darüber, der hier war, um ein Protokoll aufzunehmen. Sie war schon zweimal unterwegs nach Sibirien und ist immer wieder entwischt. Verschicken sie sie morgen zum dritten Male, so ist sie nach einem Vierteljahre abermals da!“
„Und Sie meinen damit Olga Féodorowna?“ fragte ich mühsam.
„Sie hat viele Namen,“ sagte der Arzt kaltblütig, „aber sie bleibt immer, was sie ist: das gefährlichste Mitglied der ‚goldenen Hand‘, verschlagen und raubgierig wie eine Katze. Nun, einmal wird sie doch auf ihren Streifzügen das Schicksal ereilen, sei’s hier oder im Orient oder im Balkan!“
„Und die Polizei ist machtlos?“
„Es gibt hier nur eine Macht: den Rubel! Und dass die ‚goldene Hand‘ diese besitzt, zeigt Ihnen schon ihr Name. Apropos, haben Sie viel verloren?“
„Ich kann es verschmerzen,“ sagte ich ingrimmig.
„Aber ein anderes Mal seien Sie vorsichtiger! Es ist schon mancher schlimmer dabei weggekommen als Sie. Und nun halten Sie sich ruhig und nehmen die Medizin. In einigen Tagen können Sie reisen.“
Der Doktor ging. Zwei Tage darauf erhielt ich ein Darlehen von dem Konsulat, bestieg das Coupé, in dem ich Ihnen gegenübersitze, und glaube, Ihnen als ehrlicher Mann versichern zu dürfen, dass es keineswegs meine Absicht ist, noch einmal Abenteuer in Russland aufzusuchen.
*
Eben als mein Reisegefährte endete, liefen wir in der Station Birsula ein. Es entstand das übliche Lärmen und Treiben auf dem hohen Bretterperron.