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bis ich Sie fand! Und nun ist weit und breit bei dem furchtbaren Schmutz kein Fuhrmann in Sicht!“

      „Wir müssen eine Strecke zu Fuss gehen! Wir Armen sind das gewohnt!“ sprach Grischa schwermütig. „Ich kann Sie ja durch die Pfützen tragen!“

      „Danke! Ich komme im Leben allein durch! Aber wenn Sie das nur Pfützen nenner . . .“

      Das waren ganze schmutziggraue Seen von schmelzendem Schnee, die die Fahrbahn bis über den Bürgersteig hinaus überschwemmten. Moskau im März. Moskau im Matsch. Es tröpfelte und triefte von den Dächern, unter den Galoschen knirschten morsche Eisbänke, Bäche rieselten von tauenden Schneehügeln und sammelten sich in grossen, knietiefen Pflasterlöchern, auf deren Grund immer noch neue verharschte Schichten von Wintereis der Frühlingssonne harrten.

      Es war ein mühseliger Marsch. Aber er schien Grischas Begleiterin nichts anzuhaben. Er musterte sie im Gehen von der Seite. Das Profil des ernsten, ruhigen Mädchengesichts zeigte ihm die Willenskraft eines Menschen, der schon viel im Leben durchgemacht hat. Jetzt lachte sie und sagte, unbekümmert mit ihren hohen Gummigaloschen durch einen Morast voll schwimmender Eisbrocken watend:

      „Dieser Sumpf erinnert mich lebhaft an meine Moskauer Kindheit!“

      Da war wieder der deutsche Anklang in ihrem fliessenden Russisch. Grischa sprach das schwere, volltönende, echte Russisch Moskaus. Er fragte:

      „Sind Sie eine Deutschstämmige?“

      „Ich bin eine Reichsdeutsche!“ sagte das junge Mädchen. „Aber hier in Moskau geboren und aufgewachsen. Mein Vater stammt aus Leipzig. Er hatte hier in Moskau ein schönes Pelzmagazin an der Schmiedebrücke. Als der Krieg ausbrach —— vor zehn Jahren — konnte er gerade noch mit uns nach Deutschland flüchten. Wir verloren alles.“

      „Und wohin führte Sie draussen Gott?“

      „Dahin und dorthin in Deutschland!“ sagte das junge Mädchen. „Mein Vater schlug sich so durch. Vor einem Jahr starb er in Berlin. Meine Mutter und ich standen allein. Sie stammt aus den Ostseeprovinzen. Von dort ist jetzt auch keine Hilfe. Das bisschen, was wir noch hatten, verschlang die Inflation. Ich suchte nach einer Tätigkeit. Aber Berlin ist ja von russischen Flüchtlingen überfüllt. Da kam Mr. Roop. Er versteht kein Wort Russisch. Er brauchte eine Dolmetscherin und Sekretärin für seinen Aufenthalt in Moskau.“

      Das junge Mädchen sprach lebhaft und freimütig. Grischa merkte, dass er ihr gefiel.

      „Nun — er hätte sie auch hier unter wahren Russen finden können!“ sprach er launisch.

      „Und Gott hätte ihm eine Agentin der Geheimpolizei beschert, so sicher als die Sonne hinter den Sperlingsbergen untergeht!“ Das junge Mädchen lachte hell. „Genosse Grischa — das wissen Sie doch so gut wie ich! Davor war Mr. Roop schon in Berlin gewarnt. Go fiel seine Wahl auf mich als Reichsdeutsche!“

      „Wie alt ist dieser Geldsack?“

      „Wieder leitet Sie Ihr Scharfsinn fehl, Genosse Grischa! Mr. Roop ist schon zu Anfang Fünfzig und leidenschaftlich verliebt!“

      „In Sie?“

      „Wie denn in mich? In seine Frau ist er verliebt. Er spricht den ganzen Tag von ihr. Er kabelt ihr jeden Tag. Sie ist zwanzig Jahre jünger als er. Eben weil er sie so liebt, hat er sie und die beiden Kinder nicht mit nach Russland genommen, sondern in Amerika gelassen. Nun gehe ich ihm auch hier im Haushalt zur Hand und passe auf, dass er nicht zu grimmig bestohlen wird. Ich kenne ja Moskan bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr.“

      „Nun — und Sie, Genosse Grischa?“ Sie wandte ihm mit einem plötzlichen Anflug von Befangenheit ihr

      hübsches, braunäugiges Gesicht zu. „Ich habe Ihnen so viel von mir erzählt. Ich weiss selber nicht, wie ich dazu kam. Von wo kommen Sie? Wie lange sind Sie schon in Moskau?“

      „Was ist von mir zu berichten?“ sagte Grischa der Geiger. „Sie waren hier eine Herrenmässige. Ich bin einer von den Vielen. Mein Vater ernährte sich als Ofenheizer auf einem Adelsgut im Iwerʼschen Gouvernement. Der Pope brachte mir Lesen und Schreiben bei. Zigeuner lehrten mich das Geigenspiel. Mit ihnen kam ich schon vor Jahren nach Moskau. Siehe da, Herrin!“ Er hob den Arm und winkte. „Da kommt eine leere Droschke!“

      Der dick in den Hüften wattierte Iswoschtschik trieb sein struppiges Bauerngäulchen im Schritt durch einen kleinen See heran. Aber dann sagte er los, dass das Wasser hoch zu beiden Seiten unter den rasselnden Rädern aufspritzte. Das winzige Wägelchen ohne Rückenund Seitenlehne schwankte wild hin und her. Es war so eng, dass Grischas linkes Bein in die Luft hinaushing. Mit dem rechten Arm umschlang er den Pelz seiner Begleiterin.

      „Sie werden sonst aus dem Wagen geschleudert!“ schrie er ihr durch den Lärm der Räder zu. „Warum suchen Sie sich meiner Hilfe zu entziehen? Missfalle ich Ihnen so?“

      Das junge Mädchen drehte sich zu ihm herüber. Ihm schien, als habe sich unter der Pelzmütze die Windröte ihrer Wangen ein wenig verstärkt.

      „Was sollte ich gegen Sie haben?“ sagte sie gelassen. „Ich kenne Sie ja gar nicht! Sind Sie wirklich der Sohn eines Ofenheizers?“

      „Warum nicht?“

      „Nun — Sie machen auf mich einen anderen Eindruck . . .“

      „Sie sind eine Ausländerin!“ Grischa schüttelte feindselig abwehrend den blondmähnigen Kopf. „Sie waren zehn Jahre nicht in Moskau. Man hat sich dort ohne Sie beholfen! Was wissen Sie noch von Russland?“

      „Je weniger heutzutage, desto besser!“ versetzte seine Begleiterin. Sie liess sich jetzt ruhig von ihm stützen. Das Wägelchen rasselte schon über die Twerskaja. Ein graues, farbloses Menschengewimmel wogte auf der endlosen Geschäftsstrasse Moskaus. Grau der Schnee am Boden. Grau der Schnee auf den Dächern. Grau der niedere Himmel. Grau die Welt.

      „So halte doch, Bruder!“ Das junge Mädchen gab dem Jswoschtschik mit dem Muff einen freundschaftlichen Stups in den breiten, gepolsterten Rücken und wandte sich zu Grischa:

      „Hier wohnt Mr. Roop!“

      Im zweiten Stock des Hauses wurde ein Fenster geöffnet. Das grosse, runde, glattrasierte Gesicht eines wohlgelaunten grauköpfigen Gentleman blinzelte humoristisch herab.

      „Haben Sie ihn, Fräulein Frobe?“ rief er mit dröhnender Stimme.

      „Wohl! Da bringe ich den Volksgeiger, Mr. Roop!“ rief seine Dolmetscherin, leichtfüssig aus dem Wagen kletternd, in hellem Englisch zu dem breitschulterigen Yankee am Fenster empor. „Er ist so froh, kommen zu dürfen — lässt er Ihnen übersetzen!“

      „Das ist nicht wahr!“ schrie Grischa der Geiger auf Russisch, während er behutsam, um sein Instrument nicht zu beschädigen, aus der Droschke stieg. „Fürchten Sie denn nicht Gott, so zu lügen? Fast mit Gewalt brachten Sie mich hierher!“

      Das junge Mädchen riss die Augen auf und starrte ihn an.

      „Wieso verstehen Sie denn Englisch?“ fragte sie. „Ich denke, Sie sind der Sohn eines Ofenheizers?“

      Grischa der Geiger biss sich unter dem blonden Vollbart auf die Lippen. Er schaute finster die Iwerskaja entlang.

      „Nun — ich genoss einigen Unterricht . . .“ sprach er endlich unsicher.

      „In Englisch . . . von einem Dorfpopen im Twerschen? Oh, Genosse Grischa!“

      „Nicht doch . . . hier in Moskau . . .“

      „ . . . wo kein Mensch im Volk ein Wort einer fremden Sprache versteht?“ Das junge Mädchen lächelte. Es war ein freundschaftliches, still hilfsbereites Lächeln. „Sie brauchen nicht so verstört auszusehen, Genosse Grischa! Von mir haben Sie nichts zu befürchten! Ich sage es niemandem weiter und frage auch Sie nicht weiter, wer Sie sind!“

      „Ja — bitte — vergessen Sie den Zwischenfall!“ sprach düster Grischa der Geiger und trat hinter ihr in das Haus an der Twerskaja.

      3.

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