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Grischa der Geiger. Rudolf Stratz
Читать онлайн.Название Grischa der Geiger
Год выпуска 0
isbn 9788711507391
Автор произведения Rudolf Stratz
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Droben, in dem Wanzengemach Ludwigs des Vierzehnten, hockt neben Grischa klein, dick, weissköpfig und verwahrlost, der Vater Ilja, der einstige grosse Branntweinpächter. Wässerig glitzern die rotgeliderten Äuglein in dem gedunsenen Trinkergesicht. Er lauscht mit offenem, zahnlosem Mund, die Wurstfinger über dem Spitzbauch gefaltet, und Grischa geigt und spricht — mehr zu sich als zu dem alten Bettler.
„Dies ist meines Vaters Haus . . .“ sagt er. „Hier sind meine Kindheitserinnerungen. Hier bin ich aufgewachsen. Wenn ich die Augen schliesse und geige, dann steht meines Vaters Haus wieder vor mir, wie es einst war. Glanzvoll die Säle. Alles voll Menschen. Ausländer kommen, um die Sammlungen zu besichtigen, Gelehrte, Museumsdirektoren. Generale mit Ordenssternen sind bei meinem Vater zu Tisch. Teehändler, Baumwollhändler, Pelzhändler — Geschäftsfreunde aus England und China, Künstler — mein Vater hielt ein offenes Haus!“
„Ich habe ihn noch oft gesehen!“ Es klingt heiser aus Vater Iljas Kehle. „Damals, als er vor dreissig Jahren dies Haus baute. Damals übernahm die Krone von uns Branntweinpächtern den Verkauf in den Schnapsbuden. Ich setzte mich als reifer Mann zur Ruhe. Harte Menschen nahmen mir Greis vor sieben Jahren Glück und Geld!“
Vater Ilja sieht sich vorsichtig um, ob auch niemand diese fredelhafte Lästerung wider die Schreckensmänner drüben auf dem Kreml gehört hat. Dann krächzt er weiter:
„Ob ich ihn noch gekannt habe — den alten Grigorieff und deine selige Mutter, Grischa! Bedächtig schritt er daher, dein Vater, im Überschlagpelz mit Gürtel und in hohen Filzstiefeln, langbärtig — sich vor jedem Heiligenbild bekreuzigend, ein Russe vom alten Schlag.“
„Mein Vater war noch als Leibeigener geboren!“ Grischas Bogen zittert nur noch ganz leise auf der G-Saite. „Wir stammen aus dem Volk. Wir vergassen es. Ich wurde als das einzige Kind wie der Sohn eines Bojaren erzogen. Für diese Trennung vom Volk hat Gott uns Hoffärtige gezüchtigt. Erst draussen in der Fremde habe ich zum Volk zurückgefunden, weil ich selbst wieder dazugehörte. In der Armut habe ich euch Arme liebgewonnen. Ihr seid meine Brüder, Ilja, und sollt es bleiben, auch wenn ich wieder ein grosser Herr bin. Ich glaube an euch!“
„Ich höre es mit Dank gegen Gott, Euer Wohlgeboren!“ Der greise Spion des Kreml nickt andächtig. Ein lauerndes Lächeln läuft über seine schnapsroten Züge. Er rückt zutraulich näher. „Ihr sagtet, Herr: das Versteck öffnet sich auf einen leisen Fingerdruck und schliesst sich geräuschlos wieder?“
„Mein Vater zeigte mir vor zehn Jahren, ehe ich in den Krieg ging, die Stelle, die sonst niemand auf der Welt kennt. Du meisst, ich habe ihn nicht wiedergesehen. Nach drei Jahren erfuhr ich in der deutschen Kriegsgefangenschaft, dass er sich auf der Flucht vor den roten Garden Moskaus in Nishni-Nowgorod von der Jahrmarktsbrücke in die Wolga gestürzt hat!“
„Gott helfe ihm!“ Vater Ilja schlägt mit zitterigem Zeigefinger ein Kreuz. „Dir werden wir helfen! Wir schliessen das leere Versteck wieder, als sei nichts geschehen. Wir verwahren die Schätze hier in unsern paar Kästen und Laden. Wer vermutet etwas bei uns Armseligen? Machmet“, er blinzelt in die Ecke der Stube, „trägt die Stücke einzeln zwischen seinen Teppichen aus dem Haus, ohne dass ein Milizionär draussen etwas merkt!“
Aber Machmet, der schlitzäugige, fast bartlose Teppichhausierer, ist jetzt nicht zu sprechen. Er ist ein Tatar. Er glaubt an Allah. Er kniet in seinem langen dunkelblauen Kaftan und den weissen Baumwollhosen auf seinem Gebetteppich und presst Stirne und Handteller gegen die buntgeknüpften Wollfäden und murmelt seine Abendandacht.
„Und der Mensch, zu dem der Tatar die Kostbarkeiten bringt . . .?“ Grischa lässt zögernd den Bogen sinken.
„Der Lithauer Keleidis ist beglaubigter Fremdendolmetscher!“ tröstet Vater Ilja. „Er ist ständig mit den Ausländern in Berührung. Es ist ihm ein leichtes, eine versiegelte Kiste als zollfreies fremdes Diplomatengut in das Ausland zu verschicken. Natürlich fällt auch für ihn dabei etwas ab — ein goldener Becher — ein juwelenbesetztes Kruzifix. Seien Sie unbesorgt, Herr! Keleidis gibt Teegeld und besticht, wo es nötig ist. Er ist treu wie Gold! Und nun“ — der greise Branntweinpächter rappelt sich schwerfällig auf die Beine, „mit Gott!“
Vater Ilja steigt die Stufen des Wolkenkratzers hinab. Er tastet sich an einem gespannten Strick. Das kunstgeschnitzte Geländer aus einem altfranzösischen Barockschloss ist längst zu Kleinholz gehackt. Noch lachen nasenlose Amoretten von den Wänden. Es dünstet im Stiegenhaus nach Kohlsuppe, nach Zigaretten, nach Tee und Leder und aus einem Konzertflügel in der Ecke, der als zuklappbarer Abort dient. Drunten zur ebenen Erde weht frische kalte Märzluft von der Strasse herein. Dort steht, die Hände im Ledergürtel, Ossip der Gottlose. Vater Ilja gesellt sich zu ihm.
„Wo ist der Psalmensänger?“ fragt der Spitzel Ilja.
„Zur Geheimpolizei!“ erwidert der Spitzel Ossip. „Er hatte recht: es ist keine Zeit zu verlieren, falls Litzband wirklich heute nacht stirbt!“
Um die Ecke, in der Arbâtstrasse, vor dem Hause des grossen Kommissars Litzband, steht im Abendgrauen eine ebenso graue, stumm wartende Menschenmenge. Von dort stiefelt ein langer, hagerer, leidlich, aber kragenlos gekleideter Mann auf das Haus Grigorieff zu. Graue Wolfsaugen liegen tief in seinem bartlosen, grob wie mit
der Holzaxt ausgehauenen Antlitz. Ein paar flachsblonde Strähnen lugen unter der spitzen hohen Pelzmütze vor. Keleidis, der litauische Fremdendolmetscher und Polizeispion, schüttelt den beiden, Ossip und Ilja, die Hand, hebt zweifelnd die Schultern, lässt sie fallen.
„Wie es mit Litzband steht?“ sagt er. „Man weiss es nicht. Noch lebt er, wie es scheint . . .“
Er tritt zur Seite. Die Räder der Droschke, die plötzlich neben den dreien hält, spritzen weithin den tauenden Schneeschlamm der Fahrbahn über den vereisten Bürgersteig. Aus dem kleinen, offenen Gefährt beugt sich ein eleganter Herr. Er hat den Kragen seines Pelzes so hoch über die Ohren geschlagen, dass man fast nichts von seinem Antlitz sieht.
„Ich traf den Psalmensänger am Lubjanka-Platz!“ sagt er leise und schnell zu den Spionen. „Lasst den Geiger Grischa nicht aus den Augen, ausser wenn er zu dem Amerikaner Roop geholt werden sollte. Dort bin auch ich heute abend und überwache ihn! Wo ist er jetzt?“
„Er geigt oben sein Sterbelied!“ grinst Vater Ilja.
„Wer ist bei ihm?“
„Der Teppichhändler Machmet.“
„Gut denn! Fahr zu!“ Der Wagen mit dem grossen Geheimagenten spritzt weiter die Powarskaja hinab rechts und links seine schmutzig grauen Schneewasserfluten.
Oben hat Machmet der Tatar ausgebetet. Er steht vor Grischa. Er zwinkert treuherzig mit den Schlitzaugen. Er hebt mit einer bittenden Bewegung die inneren Handflächen.
„Was hast du, Machmet?“
„Du schenkst uns so viel Vertrauen, unser Ernährer! Lasse deine Sonne voll aufgehen! Nenne mir den Ort des Verstecks!“
„Erst heute nacht!“ sagt Grischa und fügt mit einem seltsamen Lächeln hinzu: „Es ist gar nicht so fern! Es ist vielleicht viel näher, als du ahnst!“
Der krummbeinige kleine Tatarenspitzel wartet auf weiteren Bescheid. Es kommt keiner mehr. Da nimmt er seufzend seinen Teppichballen auf die Schulter, um ihn jetzt, vor sinkender Nacht, sicher in einem Gewölbe in den Kaufmannsreihen drüben aufzubewahren, und schleicht gebückt hinaus. Und Grischa ist im Zimmer allein mit seiner Geige.
2.
Die Geige des Geigers Grischa war verstummt. Sie ruhte auf den Knien des einsamen Mannes in der Nummer acht des dritten Stockwerks im einstigen Wolkenkratzer Grigorieff. Zwischen dem kurzen, krausen, blonden Vollbart und den langen, blonden, wirren Haarsträhnen träumten in dem schwermütigen, etwas backenknochigen Gesicht mit der breitgeflügelten Nase die weichen, blauen Augen des Geigers Grischa in die Dämmerung.
Aus