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Glück erfahren, nahm sich zusammen, senkte den Blick und las, indes sie errötete, das Telegramm mit energischer Stimme vor: „Hätte gern mit dir gesprochen bin in Salzburg Mozarteum ... Unterschrift: Berta.“

      Tidemunt rieb sich die mächtigen bläßlichen Schultern.

      „Was soll ich antworten?“ fragte Fräulein Macke.

      Der Baumeister sann ins Handtuch. Wie war es doch gewesen, dieser flötende, rotbärtige Mensch und die nonnenhafte Zierlichkeit ... Salzburg? Ah, welche Musik! Ja, es würde dies und das zu bereden sein oder auch nicht, es war alles erledigt, er war ja auf dem Wege, die Richtung war gen Süd, er ging und ging ... Antworten? Welche Frage! Was war groß zu antworten? Ah so! Wie war es mit den Dokumenten? Hatte der Notar ... Waren die Unterschriften getätigt? ... Hatte Fräulein Macke gestern ... oder wann? ... Es verschwamm und zerfloß. Ich werde mich zu rasieren haben, dachte er.

      Überall war das Wartende und ging vor ihm her und stand in Salzburg und hier in der Türöffnung, und alles war ungewiß und fragend und ohne Antwort. Und war doch alles so selbstverständlich und zweifellos. Nur er selber war die Frage. Er zuckte die Achseln. Er hörte, wie die hohen Absätze Fräulein Mackes sich an den Schreibtisch zurückzogen. Er hörte, wie im Zeichensaal die Putzfrau aufräumte, er hörte, wie nebenan der Hausmeister die Post brachte und übers Wetter sprach. Es ging alles unendlich langsam. Alle Bewegungen mündeten in eine endlose, ziehende Weite und einen dünnen, verwehenden, schwermütigen Flötenklang.

      Es gelang ihm, sich anzuziehen. Und er kam in Hut und Mantel aus seinem Zimmer, fragte nach dem Wagen. Der stehe unten bereit wie immer. Eine Weile ging er vor dem Schreibtisch auf und ab, den schwarzen Zimmermannshut in den Nacken geschoben. Die Sekretärin wartete mit Bleistift und Stenogrammblock. Sie horchte auf das Gemurmel. Was sagte er? „Sonderbar, der Hut war mir weggeweht ...“

      „Soll ich das schreiben?“ fragte sie betreten. Die Nacht mußte an Abenteuern reich gewesen sein. Tidemunt besann sich, schlug mit den frischen weißen Wollhandschuhen gegen die Tischkante. „Bitte, bestellen Sie dem Oberbaudirektor, sobald er in seinem Büro ist, und das persönlichst: Alles, was in dieser Nacht erreicht worden ist, hat als unabänderlich zu gelten.“

      Er trat dicht neben ihren Stuhl. Seine Stimme war schwerfällig und kaum an sie gerichtet. „Es geht vor mir her und ist nicht zu erreichen ... Wie soll ich erklären ... Wir denken Falsches, auch voneinander, und richten uns danach ein ... Ich hätte das viel früher erkennen sollen ...“

      Er stockte, als habe er sich auf Geschwätz ertappt. Er sah, wie befremdend es wirkte. Fräulein Macke zog die Schultern zusammen und blickte unter gesenkten Lidern, als erwarte sie, begierig und furchtsam zugleich, nähere Aufschlüsse.

      Tidemunt nahm eine Zigarre. „Es ist noch nicht Bürozeit!“ knurrte er: „Warum sind Sie eigentlich so früh gekommen?“

      „Um Ihnen zu helfen“, erwiderte sie leise: „Am Montag, also übermorgen, beginnen die Bagger im Strom; man wird vom Hafenbauamt aus eine kleine Feierlichkeit zu bedenken haben. Wie wärs in der Neuenfelder Kirche? Oder an Bord eines der Bagger selbst?“

      Tidemunt starrte ins Unwegsame.

      Er murmelte: „Wieso beginnen? ... Es ist doch alles ...“

      Sie schwieg betreten. Er sog den beizenden grauen Qualm in sich hinein. Auf unendlichem Gefilde wanderte er hinter einer dünnen Stimme her, lauschend, lauschend. Was sang sie nur? ... Aus der Tiefe hörte er Fräulein Macke heraufflüstern: „Wir müssen uns entscheiden, Herr Oberbaurat.“

      Er faßte sich, besann sich unwillig, empfahl mürrisch, einen der Bauräte mit dem Zauber zu behelligen und im übrigen dafür zu sorgen, daß die Einzelpläne den neuen Weisungen gemäß umgezeichnet würden. Er habe ein paar Tage zu verreisen und wünsche, bei seiner Rückkehr viel geleistet zu finden.

      Sie stand auf von ihrem Schreibtischstuhl, geschult in den Prüfungen ihres Postens. Sie reichte dem Chef die Hand. Sie vermochte zu sagen: „Ich werde für das Nötige sorgen und auch, daß Sie von hier unerreichbar bleiben.“

      „Danke Ihnen ... Fräulein Macke ... für alles!“ Er wandte sich schnaufend zur Tür. Der Schmerz von irgendwann, der Krampf unterm Zwerchfell wurde wieder wach. Wurde ihm viel Freude gewünscht? „O danke, danke! ... Also? Sodann!“

      Im Davoneilen meinte er zu hören, wie sie lautlos ihm nachschrie: Gottseidank, daß ich so amtlich gebunden bin, Ihnen Freude zu wünschen, an der ich nicht teilhabe. Ach, sie wird grammweise auf einer Hausstandswaage nachzuwiegen sein. Sie sind allzu hoch bei sich, Sie brauchen ein bißchen Leid, Herr Hafenbaumeister, aber vielleicht ist es Ihnen längst näher, als ich Ihnen gönne, indes ich meinen Anteil zwischen Aktendeckeln einsarge.

      Doch dann umfing ihn der Lärm der Straße, und dann schnurrte der Motor, und er sagte: „Hauptbahnhof!“ und sagte: „Nach Salzburg!“ Und dann war lange nicht viel anderes als der kleine glitzernde Lamettafaden im Wind ...

      Hinter Rosenheim wurden die krampfartigen Schmerzen, die seit dem Gespräch mit dem Oberbaudirektor in ihm gelauert, sehr heftig. Er verbiß das Stöhnen, aber den Mitreisenden blieb sein Zustand nicht verborgen. Sie rückten von ihm ab, sie riefen nach dem Schaffner. Er wollte sich erheben und sich in den Gang schleppen, doch ehe es ihm gelang, erbrach er sich und dachte noch, es sei die Flasche Burgunder, die er vor München im Speisewagen genossen. Er sank zwischen die Sitze zu Boden. Es fand sich ein Arzt im Zug, und auf der nächsten Station wurde der Erkrankte ausgeladen und ins Hospital gebracht.

      11

      Tidemunt blieb lange bewußtlos. Die Magenblutung wurde mit Gelatinespritzen, Eisauflagen und Opiaten bald gestillt. Der Leidende hatte fast die Hälfte seines Blutes verloren, und da das Herz sich als überempfindlich und die Kranzgefäße als gefährdet erwiesen, ein Durchbruch der Magenwand aber nicht anzunehmen war, sah man von einer Operation ab. Der leitende Arzt, ein geachteter Chirurg, hätte wohl lieber das Messer gerührt, als sich auf ein Diätexperiment einzulassen, wie es von fortschrittlichen Kollegen hier und da mit kaum glaublichen Erfolgen angewandt wurde.

      Nach vier Tagen strikter Rückenlage und völligen Fastens erhielt der immer noch halb Bewußtlose als erstes einen Teelöffel lauwarmen Kamillentees. Es schmeckte ihm wie ein nirgends einordbares Wunder. Der Kranke blickte die Schwester, die sich über ihn neigte, grübelnd an, als suche er nach einer Erinnerung, schien es aber bald aufzugeben. Zwischen den Krampfanfällen, die sein Inneres mit ungeheuren Greiferzähnen packten und es in zwei Spiralen umeinanderdrehten, lag er in brütenden Schwebeträumen. Doch stach der Zustand der Schmerzen so höllisch davon ab — kein zuträgliches Linderungsmittel schlug an —, daß er wie ein Ungeheuer brüllte und dem Hause ein Schrecken und eine Last war.

      Allmählich aber verebbten die Krämpfe, wurden seltener und erträglicher. Statt der üblichen Schonkost aus in Milch gekochten Weißmehlpräparaten, versuchte man es mit frischgepreßten rohen, doch leicht erwärmten Obst-, Gemüse-, Kräuter- und Kartoffelsäften, und es ergab sich, daß die natürlichen Kräfte zu Abstoß und Aufbau ermunternd davon angeregt wurden, jene Kräfte, die unter den üppigen Speisekarten mitteleuropäischer Verkochkunst verschüttet und betäubt lagen. Die robuste Anlage des Patienten hatte den fröhlichen Giften jener verbreiteten Getränke, die sich zwielichternd geistig nennen, und dem teerfarbenen Sud, der sich aus den duftreichen Schwaden der Tabakbolzen ins Innere schlägt, nur scheinbar so lange standgehalten. Die Krisis hatte sich seit Monaten und Jahren angebahnt. Ein Übermaß von Anstrengung hatte sie verzögert, aber auch verschärft, heftige Anreizmittel sie vernebelt, und durch ein wenig Kummer und die jähe Einsicht, nicht mehr auf der Höhe zu sein, sondern gänzlich versagt zu haben, war sie ausgelöst worden.

      Der Arzt hatte eine eigene Ansicht über derartige Fälle. Er hielt den Zusammenbruch, abgesehen von seiner Heftigkeit, für normal, als ein Klimakterium des Mannes und mehr des Geistes als des Körpers. Die Krisis mochte im allgemeinen in den gleichen Jahren liegen wie bei Frauen, aber — weniger beachtet — zumeist unauffälliger verlaufen; jenes plötzliche Absinken der Leistung gegen Fünfzig.

      Es ist das Stadium der Schattenschwelle, wo oft auf weite Strecken das innere

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