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die nur geschaffen scheinen, den Menschen zu verdrießen. Das übliche Mißtrauen wandelte sich langsam in ein schmunzelndes Entgegenkommen. Zuletzt waren die fünf, die es anging, beisammen. Er lud die Fuhre ins Gemeindebüro.

      Indes nun der Anwalt den Wortlaut der Urkunden in die Maschine diktierte — seine Schreibhilfe sah aus wie Fräulein Macke — und jedermann froh war, daß hier ohne die gewöhnlichen Schwierigkeiten etwas geschah, und eine zufriedene Heiterkeit die verwetterten Bauerngesichter beseelte, saß Tidemunt, behaglich vor sich hinsummend, am Fenster.

      9

      Wie zufällig ließ er den Blick durch die gestärkten Spitzengardinen ins Freie gleiten. Da sah er ein seltsames Paar die Dorfstraße heraufkommen, einen Mann und ein Mädchen. Der Mann war lang und dürr und in seemännischer Kleidung, rotbärtig und einarmig und blies im langsamen Daherwandern auf einer kurzen dikken Tonflöte.

      Zu vernehmen war nichts; das Geklapper der Schreibmaschine übertönte alles. Das Mädchen wirkte neben dem Langen überaus zierlich; Tidemunt dachte, es sei ein Kind. Er sah aber bald, es war wie eine Nonne gekleidet, in Schwarz und Weiß, aber Rock und Haube und Schleier waren fast gleichmäßig von grauem Staube überzogen. Das Gesicht unterschied er nicht deutlich, er sah nur, daß es sehr schmal und ein wenig bräunlich sei.

      Auf einmal hörte er auch die Flöte, weiche, schwermütige Okarinatöne. Es waren nur drei Töne, die sich immer wiederholten, und waren die gleichen, die er die ganze Zeit vor sich hingesummt, seit er die Barkasse gen Böwerder gesteuert. Und nun wußte er auch, woher er sich dieses kleinen Themas entsann. Es hallte nicht nach aus den hastigen Geigenschreien von jenem Abend des Abschieds. Das Hauskonzert, darin sie erklungen, stieg in seiner Erinnerung auf, das letzte vor manchem Jahr, da seine Frau noch den Mut aufgebracht hatte, sich aus ihrer wachsenden Scheu herauszuwagen und die enge Dachwohnung mit erlesener Gesellschaft und schöner Musik zu weiten. Das Brahmssche Streichquartett in a-moll war es, und sie hatte einleitend auf das Hauptmotiv hingewiesen, auf die elegisch sich wechselvoll verzweigenden drei Töne F, A, E, die der dreizackige Leitstern des Komponisten gewesen, übernommen von seinem Freunde, dem Geiger Joachim. Die Bedeutung dieser drei Töne liege in der persönlichen Auslegung ihrer Bezeichnung als Anfangsbuchstaben für drei schwerwiegende Worte — so hatte sie gesagt —, für die drei Worte „Frei, aber einsam“. Ein Motto, fordernd und verzichtend zugleich, stolz und gnadenlos, ein rechtes Künstlerwort, das künstlerische Schicksal kennzeichnend.

      Tidemunt sah sich behaglich im Hintergrund in einen Sessel gestreckt. Er hatte, als sie so wohllautend und geschickt ihren kleinen Vortrag hielt, ein angenehmes Gefühl von Besitz und Zugehörigkeit gehabt, überschattet nun von einem anderen Erlebnis in jenem gleichen Sessel, das in damals noch nicht vorgeahntem Zusammenhange damit stand. Frei aber einsam ...

      Es war eine Ankündigung gewesen, er hatte es nicht erfaßt gehabt, er war so sehr ihrer sicher gewesen, so sicher wie seiner selbst. Wohl hatte er das fern Bedrohende nicht überhört, das Ausgeliefertsein, aber er hatte es einzig auf sich selber bezogen, auf frühe Versuchungen, aus denen er sich in die klare Zucht und Geborgenheit technischer Belange und des Staatsdienstes rechtzeitig abgesetzt. Frei? Nein, nicht frei, sondern aufs vernünftigste gebunden, beruflich wie menschlich. Und er war dessen froh gewesen. Einsam? Das schon eher, beruflich bestimmt, auch ohne rechte Freunde — bis auf die sonderlich schwebende Freundschaft des Stadtbaumeisters —, aber menschlich nicht einsam, sondern der lieben Sprecherin und Musikantin aufs innigste verbündet. Wie denn auch sie es nicht nötig hatte, frei und einsam zu sein.

      „Frei und einsam?“ Es hieß „frei, aber einsam“. Hatte sie es nicht ausgesprochen? Ach, es kehrte sich um, es hieß „einsam, aber frei“. War es so? War es wirklich so mit ihr? Und wie nun war es mit ihm?

      Das alles floß in Bildern, Gedanken, Worten und Tönen rasch und luftig durch Tidemunts Halbbewußtsein, als er nun, ohne den Blick auf die Versammlung zurückzulenken, aufstand und ohne Gruß hinausging, wie einer, der ein vergängliches Geschäft zu erledigen hat und nicht weiß, daß er draußen bleiben wird.

      Hastig trat er ins Freie und sah das merkwürdige Paar davonziehen, landeinwärts, auf die dünnen bläulichen Hügellinien der Heide zu, angestrahlt von der schrägen Vormittagssonne. Der rote Kranzbart bebte beiderseits des dürren Matrosennackens wie eine Flamme hervor, und unter dem graustaubigen Gewandsaum des Mädchens leuchteten in schreitendem Aufwellen schmale bloße Fersen wie rosige Blinkzeichen. Und immer noch erscholl die karge Tonfolge, nicht so sehr klagend, als vielmehr ergeben, und nun hörte er auch die Stimme des Mädchens. Sie sang sehr leise und ein wenig glitzernd.

      Er beeilte sich, den beiden unauffällig näherzukommen. Lauteten die Worte, die das Mädchen sang: „Ach, bleib doch!“ oder „Komm wieder!“ oder „Für dich nur!“? Hieß es nicht alles andere als „Frei, aber einsam“, was da so süß und bedrängend erklang?

      Er ging und ging, gesenkten Hauptes lauschend, hinter den beiden her, doch wurde die Entfernung zwischen ihm und ihnen nicht geringer, und er wunderte sich, daß er keine Ungeduld empfand, sondern nur ein ziehendes, beglückendes Verlangen, immer so weiterzugehen, einer ungeklärten Verheißung nach.

      10

      Noch bevor der Hausmeister den Kaffee brachte und bevor die Putzfrau kam, war Fräulein Macke schon im Büro. Die übrigen Beamten und Angestellten hatten als kleine Anerkennung dieses Wochenende frei bekommen. Tidemunt hörte seinen Namen rufen, leise und ehrerbietig, dann etwas lauter. Fräulein Macke wagte, ihre Hand auf seine Schulter zu legen, ihn sogar ein wenig zu rütteln. Sie flehte ihn an, doch aufzuwachen und sich bequemer zu betten. Er vermochte sich nicht zu rühren; er atmete schnarchend vor sich hin auf die zerknitterten Planzeichnungen. Was war mit ihm? War er betrunken? War er krank? Fräulein Macke ging zur Tür, den Hausmeister zu rufen; da stolperte sie über eine leere Schublade, die da herumlag.

      Tidemunt hob den Kopf, als lausche er. Dann starrte er sie lange an, die so betroffen und erleichtert dastand. „Wo sind denn die beiden?“ fragte er mit belegter Stimme. Es klang ungewöhnlich milde. Und da sie abwartend schwieg, gewohnt, die meisten Fragen von Vorgesetzten viel besser von denen selber beantwortet zu finden, richtete er sich ächzend auf. Er sann nach, wie er ins Amt zurückgelangt sei. „Es war gegen neun Uhr, als der Notar ... als wir ins Gemeindebüro ... die Kirchturmuhr schlug gleich danach ...“ murmelte er.

      „Jetzt ist es fünf Minuten nach sieben“, sagte Fräulein Macke.

      Tidemunt strich sich über das rauhe Kinn. Mag sein, dachte er. Entweder habe ich hier zwanzig runde Stunden geschlafen oder auch nur acht oder auch gar nicht und Zeit ist sowieso nur ein vager Begriff, genau wie die übrige Wirklichkeit und gewisse fünf Grade Unterschied ...

      Er stand mühsam auf, ging in sein Schreibzimmer und saß dort eine Weile vor sich hinträumend auf der Sofakante. Fräulein Macke wies ihm einen Strauß Rosen als Glückwunsch zu der endlichen und so erfolgreichen Erledigung des Arbeitspensums. Er lächelte abwesend. Sie redete ihm zu, sich noch ein wenig hinzulegen. Sie dachte sichtlich, er habe die Nacht ausgiebig gefeiert, und das im Arbeitskittel. Ihr Mut wuchs, da er so hilflos dasaß, und sie begann, mit zaghaften Händen ihn zu entkleiden. Da schrillte das Telefon in ihrem Zimmer. Sie eilte hinüber.

      Als sie zurückkam, stand Tidemunt halbnackt an dem kleinen Waschbecken und wusch sich schnaufend. Sie zog sich hinter die Tür zurück. „Nur ein Telegramm, Herr Oberbaurat.“

      „Erledigen Sie es“, erwiderte er matt.

      Er blickte vom Spiegel weg, darin sein Gesicht wie ein zerfallender Mond ihm zu entschwimmen drohte. Wir haben alles beisammen, dachte er müde, die Bagger, die Greifer, die Betonmischer, die Bauern ... aber ich selber falle auseinander. Mein Werk ist getan, ich bin frei ... frei, aber einsam ...

      Diese drei Töne, das ist alles, was von der ganzen Hafensymphonie an mir hängenbleibt, und auch die gingen vor mir her und waren nicht zu erreichen und hatten andere Worte, und ich konnte es nicht genau hören und weiß schon nicht mehr, warum ich vom Fenster aufgestanden und wem ich nachgelaufen bin ...

      Er hörte Fräulein Macke am Türspalt mit einem Zettel rascheln. „Was ist denn, Maxi?“

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