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      Tidemunt riß die Schublade vollends heraus, darin er den „munteren Trödel der unweißen Unschuld“ zu sammeln pflegte. Er hegte es dort als Speicher für die kleinen häuslichen Geschenke, wie er sie hafenlängs bei den Althändlern als vertanes Seemannsangedenken aufstöberte, zumeist keine wertvollen Stücke, sondern für den Fremdenverkehr ferner Küsten zurechtgedrehtes billiges Zeugs und dennoch nicht ganz der Ursprünglichkeit entkleidet, Abbild des Dämonischen zu sein und der Beschwörung zu dienen. Es ärgerte Tidemunt, sich dieser allzu privaten Sammlung eben geschämt zu haben, und er schüttete den ganzen Krempel in den Papierkorb.

      Dabei fauchte er des öfteren: „Ich gebe nicht nach!“ Doch indes er dieses gegen die Wände hervorstieß und die hastige zerklirrende Melodie der Geige sich darunterschob, krampfte sein Eingeweide sich übel zusammen. Und als er nun gar in den Modellsaal stürmen wollte, wo auf riesiger Platte in reizvoller Akribie die plastische Darstellung der neuen Hafenanlagen aufgebaut war, und er sich mit seinen Fäusten darauf zu stürzen gedachte, schlug er an der Tür jäh rücklings zu Boden.

      Im Nu aber war er wieder auf den Beinen. Verdutzt taumelte er an seinen Arbeitstisch zurück, sank auf einen Hocker. Ich bin plötzlich ohnmächtig geworden, dachte er. Das ist mir noch nie passiert. Er horchte, ob etwa der Hausmeister den peinlichen Aufschlag bemerkt habe. Es blieb aber alles still. Nur der Lärm der nächtigen Stadt drang von fern durch die Vorhänge der Fenster, verging und schien entsetzlich anzuschwellen, zugleich mit einem schraubenden Schmerz unterm Zwerchfell. Tidemunt krümmte sich vornüber, lag hingepreßt über die verwirrten Pläne. Die Höhlungen und Gefäße seines Körpers, bis dahin wenig bedacht, kündigten an, daß sie nicht lange mehr geneigt sein würden, bei weiterem Mißbrauch den überlasteten Kräften zu dienen.

      8

      Eben nach Mitternacht fand Tidemunt sich in der Wachbude der Sektion Außendienst des Strom- und Hafenbauamtes und veranlaßte ohne viel Worte, daß die Barkasse ihn nach dem neuen Hafengelände befördere. Da der Beamte ihm zu schläfrig fuhr, ging er selber in den Führerstand, nahm das Rad und ließ, keinem Einwand erreichbar, den Motor das äußerste hergeben. Er mußte gegen die Flut an und kümmerte sich nicht um den Sprühschwall, der übern Bug hereinstob. Der Hut wehte ihm davon. Er blickte ihm nicht nach. Er hob auch kein Auge auf zu den vorbeirauschenden Ozeanern und spürte nicht wie sonst bei deren Anblick das alte knabenhafte Erschauern vor der gnadenlosen Ferne. Er hatte nur das eine hämmernde Verlangen, den Baggern zu Böwerder und deren fressenden, saugenden und speienden Rachen zuvorzukommen und sie seiner rücksichtslosen Einsicht gemäß in die neue Richtung umzulenken. Dabei summte er vor sich hin: Fünf Grad West, fünf Grad West ... Immer nur diese drei Worte, diese drei Töne vielmehr, und es war ihm, als seien sie aus den hastigen Geigenschreien des letzten Abends, den er seine Frau gesehen, in ihm hängengeblieben. Doch war die Betonung sonderbar auf das Wort Grad verschoben, und die Worte verwandelten sich, indes die Töne verharrten, und hämmernd im Takte des Motors summte es in ihm: Ach, bleib doch! Ach, bleib doch! Er vermochte aber den Zusammenhang mit seiner Fahrt nicht zu fassen; es klang auch nicht verzweifelnd, es klang nicht nach Schrei, es war ganz sanft und wehmütig, und er wollte es grimmig abstoßen, er wollte in den spritzenden Gischt hineinbrüllen, aber es war hinwider angenehm, so unbeschwert dahinzusummen.

      Das Gelände der Sände und der Uferstrecke Böwerder lag unter dem grell violetten Schein der Tiefstrahler und übertobt von dem Gejaule einer Herde riesiger Saugbagger, die dabei waren, die neue Abfangrinne für den Schwemmsand des Stromes und die Einfahrt der neuen Hafenbecken zu schlürfen und den aufgenommenen Grund durch lange, mannsdicke Rohrleitungen hinter die Ostkante zu blasen, dorthin, wo die großen Zufahrtsstraßen und Parkplätze für den Fernlastverkehr entstehen sollten. Tidemunt kletterte auf die schmierigen Decks von Bagger zu Bagger und stoppte den Betrieb. Die Pumpen kamen stöhnend zur Ruhe. Er zeichnete den Baggermeistern die neue Peilstrecke ein und ordnete die Verholung auf zweihundert Meter stromabwärts und die entsprechende Verlegung der Rohre für den Beginn der Tagschicht an. Dann ließ er sich an Land setzen und schickte die Barkasse nach Hause.

      Auf den Vorländern bis zum Deich hin weideten rasselnd die Krangreifer, Sauriern der Urzeit gleichend, und schlangen das Erdreich und spien es in die Feldbahnen, die es landein beförderten. Tidemunt, aus Morast aufwatend, schwang sich hoch und faßte Fuß auf dem Kipprahmen einer Lore, der letzten eines eiligen Zuges. Vor ihm wölbte sich der aufgepackte Marschboden grabhügelgroß. Er atmete den Geruch der aus dem Frühling gerissenen schwärzlichen Krume, diesen gesegneten geheimnisvollen Urgeruch des Werdens. Die Humusschicht sollte nicht unterm Beton verfaulen, sondern soweit sie nicht den Gartenanlagen im eigentlichen Hafengelände zugute kam, im Austausch gegen Sand und Kies zu fruchtbarer Auflagerung in die Lüneburger Heide hinter Buxtehude gelangen, wo eine vorbildliche Siedlung für dreitausend Hafenarbeiterfamilien entstand.

      Tidemunt summte noch immer vor sich hin in der zehrenden Lust, so rechtzeitig einzugreifen. Er sah zur Seite Reihen ungetümer Rammstampfer aufgefahren, modern, wie er sie selber noch nie gesehen, und sie hatten begonnen, ofendicke, turmlange Föhrenstämme senkrecht in den entblößten Grund zu stoßen als Unterlage für die bislang in dieser Linie geplanten Kaimauern. Tidemunt lachte polternd und sprang ab; denn der Deich war erreicht, und dahinter erstreckten sich, groß wie ein Dorf, die Arbeiterbaracken und Werk- und Lagerschuppen rings um den breiten Turm des Umformer-Kraftwerkes. Ganz vorn stand bescheiden die Bauhütte. Von ihr strahlten die Kabel und Leitungen zu jeder einzelnen Maschine ins Gelände, und alles und jedes wurde von hier sichtbar an der Leine gehalten. Doch war Vorsorge getroffen, die einzelnen Baugruppen auch funktelefonisch zu erreichen, und davon ließ Tidemunt sofort Gebrauch machen. Und mit einem Schlage war der wilde nächtliche Lärm zum Schweigen gebracht. Der Bauführer hatte sich gerade für ein paar Stunden aufs Ohr werfen wollen in der Gewißheit, alles laufe nach Vorschrift am Schnürchen. Jetzt mußte er erleben, wie die sauberen Plantafeln mit den Trassen der Ausschachtungen und Aufschüttungen rasch und erstaunlich umgezeichnet wurden, indes eine Kanne Kaffee aus der Kantine hereinschwang und die niedrige Bude sich mit dem blauen Qualm der Corona füllte und mit dem schnaufigen Gesumme des Oberbaurats, daraus der Bauführer nur immer die gleichen drei Töne heraushörte in so unablässiger Wiederholung, daß er, völlig eingelullt, ohne Gegenrede alles hinnahm. Tidemunt sah ihm an, wie einige Bedenken wegen der kurzfristigen Kontrakte der beauftragten Firmen ihn bedrängten. Er beruhigte ihn vollends mit einem großartigen „Na, watt denn? Denn man to, Herr Inschenör!“ Und das war die Geländeformel für das büroliche „Also? Sodann!“

      Ja, dieser Tidemunt! Summend wogte er von dannen, unangreifbar, selbst unter perfidesten Fachkollegen unwiderlegbar. Wie selbstherrlich stand er da! Ein Turm auf dem Deich in der Wandlung der Zeit, von keiner Brandung erreicht, die Brandung und die Wandlung überschauend und regelnd.

      Hochbefriedigt knurrte er vor sich hin, als er nun sah, wie das unheimliche Heer der Greifer und Rammer sich keuchend auf Raupenketten in Marsch setzte, seiner Anordnung gemäß, und schwerfällig, aber genau in die neue Staffelung einschwenkte.

      Schon graute der Tag. Das Licht der Tiefstrahler zog sich zusammen und war nur noch Lampe. Darunter hin erkannte man das Blankeneser Ufer aufhügelnd, zart von Aufstehfenstern durchlöchert. Im Osten aber fern ragten die Türme der Stadt; sie griffen wie bläuliche Finger ins Gewölk, das grau und bärtig den Morgen hintanzuhalten suchte. Tidemunts Lachen dröhnte über die Wiesen und vermischte sich dem wieder auflebenden Arbeitslärm.

      Schon schwangen die am weitesten nach Westen vorgezogenen Greifer ihre Krallenrüssel in Gras und Kraut und schonten nicht Busch noch Zaun. Kiebitze flogen klagend auf und Enten, die im Grabenschilf genächtigt, und Kaninchen stoben davon, die unter einer Korbweide gewohnt. Kühe, die nachts auf der Koppel geblieben, drängten furchtsam brüllend dem Heckgatter zu.

      Tidemunt sah, daß es Zeit sei, die Sachlage kraft seiner Eigenmächtigkeit vollends zu klären. Er stiefelte gewaltig zu den betroffenen Bauernhöfen hinüber und setzte sich mit dem ersten Morgenstrahl neben die Frühstücksnäpfe, legte die Unumgänglichkeit dar, deutete Unliebsamkeiten an, erfand Vorschriften, Zwangsgesetze, bezeichnete sie als ungerecht, aber unumstößlich, bot die vorbeugende großzügige Hand und nannte Summen, die jene, welche zu den bisherigen Landkäufen bewilligt waren, wesentlich übertrafen.

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