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Julie kehrt heim. Anne Karin Elstad
Читать онлайн.Название Julie kehrt heim
Год выпуска 0
isbn 9788711441121
Автор произведения Anne Karin Elstad
Жанр Документальная литература
Серия Julie
Издательство Bookwire
Danach versuchte sie über Wochen und Monate, sich ihm zu nähern, aber er ließ sie nicht richtig an sich heran. Am Ende fasste sie einen Entschluss, sie wollte ihm die Stelle auf dem Friedhof zeigen. Entweder würde sie ihn endgültig verlieren, und das wäre noch immer besser als das Verhältnis, das sie jetzt hatten, oder sie würde alles damit retten und es würde werden, wie es einmal war.
An einem schönen Vorsommerabend ging sie zu ihm.
»Jørgen, ich möchte gerne, dass wir zusammen eine kleine Tour unternehmen.«
Er kam mit.
»Wohin soll es denn gehen?«
»Zur Kirche.«
Stumm ging er an ihrer Seite, sie wusste nicht, ob er da bereits alles ahnte.
Sie traten durch die Kirchhofspforte und sie ging ihm voran zu der Stelle. Inmitten aufrecht stehender, vertrockneter Halme des Vorjahresgrases, zwischen sprießendem Grün schaute eine Unzahl von Tausendschön hervor, rote, rosafarbene, weiße.
Sie drehte sich zu ihm um, ihr Herz hämmerte gegen die Rippen, ihre Kehle war wie zugeschnürt, so dass sie kaum atmen konnte.
»Hier ist es, Jørgen«, flüsterte sie.
Er wurde grau im Gesicht unter der Bräune.
»Meinst du ..., du meinst nicht das Kind?«
»Doch, hier liegt es, hier irgendwo.«
»Seit wann weißt du das?«
Während er vor ihr stand, veränderte sich sein Gesicht, sie stand da und sah ihn an, dieser Moment kam ihr vor wie eine Ewigkeit.
»Warum hast du nichts gesagt?«
»Weil ... weil ich nicht die Kraft dazu hatte, ich konnte es nicht, nicht zu der Zeit. Kannst du mir irgendwann verzeihen, Jørgen?«
»Julie, Liebste, was musstest du nicht alles ertragen«, sagte er. Mehr sagte er nicht, er zog sie in seine Arme, hielt sie fest umschlossen, so fest, als wollte er sie nie wieder loslassen.
Da stiegen ihr Tränen in die Augen. Sie weinte, wie sie wohl noch nie in ihrem Leben geweint hatte. Endlich konnte sie weinen, um ihr Kind, das sie verloren hatte, um sie, um all die schlimmen Jahre.
Wie in einem stillschweigenden Übereinkommen erwähnen sie das Kind nicht mehr, doch in ihrem Innern ist es da, bei ihnen beiden, als Trauer, von der sie irgendwann einmal erlöst werden, wie es mit jeder Trauer geschieht. Manchmal, wenn sie in der Kirche sind oder alleine auf dem Friedhof, um die Gräber zu pflegen, kommt es vor, dass sie zusammen in die Ecke an der Friedhofsmauer gehen. Wenn sich ihre Augen dort begegnen, kennt der eine die Gefühle und die Gedanken des anderen. Das reicht aus, und das ist gut so.
Doch wenn sie schwanger ist, wie jetzt, wird sie die Angst nicht ganz los, nicht eher, bis das Kind geboren ist und die ersten Wochen und Monate überlebt hat. So war es schon mit Sven und so ist es auch jetzt wieder. Dagegen kann sie nichts machen.
Nachdem sie das Kind verloren hatte, glaubte sie nicht, dass sie noch weitere bekommen könnte. Dachte, die Entbindung hätte etwas in ihr zerstört. Sie hatte sich damit abgefunden, war dankbar für ihre drei Jungen. Deshalb war es wie ein Schock für sie, als sie auf einmal begriff, dass sie wieder schwanger war. Zuerst dachte sie schon, ihr fehle etwas. Sie konnte nicht glauben, dass es wahr sein sollte, bis sie die ersten fast unmerklichen Bewegungen des Kindes in ihrem Bauch spürte. Helge, der Jüngste, war da schon im zehnten Lebensjahr, und die erste Zeit, nachdem Sven geboren worden war, fühlte sie sich, wenn sie ihn versorgte, genauso unbeholfen wie damals, als sie Krister bekommen hatte. Sie erinnert sich noch, wie sie das erste Mal mit ihm in den Armen dalag. Noch ein Junge, sie betrachtete das kleine Gesicht, die roten Haarbüschel, und sie dachte, was es für ein Wunder ist, dass sie das erleben durfte. Und nun soll es wieder geschehen. In ihrem vierzigsten Lebensjahr wird sie einem neuen Menschenkind das Leben schenken. Ein Wunder ist das. Doch in dem Zustand zu sein ist für sie jetzt schwerer als damals, als sie jung war. In dem Maße, wie das Kind in ihrem Bauch heranwächst, spürt sie deutlicher als sonst, dass die Jahre mit der schweren Arbeit im Haus und im Stall Spuren in ihrem Körper hinterlassen haben. Es ist zu sehen, wenn sie sich im Spiegel anschaut. Runzeln um die Augen, Furchen und Linien, die sich eingegraben haben, man sieht, dass die Festigkeit, die die Haut in der Jugend hatte, zu verschwinden beginnt. Doch ihre Haare sind noch dick und glänzend wie früher, schwarz, mit Ausnahme eines fingerbreiten weißen Streifens, der an der Stirn herauswächst und auf der einen Seite des Kopfes vom Scheitel abwärts wie ein weißes Band hängt. Er ist schon seit vielen Jahren da, wird weder größer noch kleiner. Ursache dafür muss sein, dass sie genau an der Stelle einmal einen kräftigen Schlag abbekommen hat. Doch für sie selber ist er eine ständige Erinnerung an die Jahre, die vergangen sind. Jørgen ist auch noch nicht grau geworden. Sein Haar ist noch genauso dick wie früher, es liegt nicht in der Familie, dass die Männer auf Storvik eine Glatze bekommen. Mit den Jahren ist Jørgens Haar jedoch fahler geworden. In seinem Gesicht sind fremde Furchen, die Züge markanter geworden. Manchmal, wenn sie ihn anschaut, kommt es vor, dass sie eine merkwürdige Wehmut in sich verspürt. Sie sind nicht mehr jung.
Wer ihr am meisten geholfen hat, über die schlimmsten Ängste hinwegzukommen, als sie mit Sven schwanger ging, war Randi, ihre Freundin aus der Kindheit, die in der Stadt wohnt. Randi, die ein paar Jahre älter ist als Julie und eigentlich die Freundin von Synna war, ihrer Schwester, die an der Spanischen Grippe starb. Nach Synnas Tod fanden Julie und Randi zusammen, und es entstand eine Freundschaft daraus, die bis heute gehalten hat. Der Umstand, dass Randi ein ganz anderes Leben führt als sie, unter ganz anderen Verhältnissen und in einem Milieu, das von dem, in dem die Familie auf Storvik zu Hause ist, wohl kaum entfernter sein könnte, hat nicht daran rütteln können. Randi, sie ist mit dem Sozialisten und Idealisten Yngvar Thorsen verheiratet. Er, der sich nach und nach zum Journalisten in der Arbeiterzeitung Tidens Krav hochgearbeitet hat. Niemandem ist es gelungen, die Freundschaft zwischen ihr und Randi zu zerstören, weder den Leuten hier auf dem Hof noch der Familie von Storvik in der Stadt. Auch Yngvar nicht, obwohl er in seiner Kritik verständnisvoller war als ihre Leute. Durch dick und dünn haben sie in diesen Jahren zusammengehalten, die beiden Freundinnen. Randi ist der Mensch, auf den sie in allen Dingen vertrauen konnte. Während der Zeit, als sie beide schwanger waren, wechselten sie Zug um Zug Briefe, häufiger als sonst. Wenn Julie ihr schrieb, was sie alles beängstigte, munterte Randi sie auf.
»Es geht schon alles gut, du wirst sehen, und zwar mit uns beiden«, schrieb sie. »Wir werden die Schwierigkeiten meistern.«
Während die Schwangerschaft für Julie wie ein Schock kam, hatte Randi zusammen mit Yngvar alles geplant. Es sah aus, als würden die Zeiten besser werden. Randi und Yngvar konnten ihre alte Zweizimmerwohnung gegen eine Dreizimmerwohnung tauschen. Aber sie blieben im selben Haus mit den Arbeiterwohnungen im Fløiveien in Clausenengen wohnen. Die drei Kinder, ein Junge und zwei Mädchen, waren herangewachsen, die Jüngste war fünfzehn, so alt wie Krister, als ein kleiner Junge geboren wurde, ein paar Monate vor Sven. Plötzlich hätten sie so viel Platz, hatte Randi ihr geschrieben. Sie wünsche sich noch ein Kind, und das kam dann auch.
Randi, wie geht es ihr? Ist sie aus der Hölle, die die Stadt dort jetzt sein muss, weggekommen? Vielleicht ist sie zu ihrem Bruder in ihren Heimatort gefahren. Und schon muss sie wieder an Krister denken. Wenn ihm etwas passiert, wird das dann ihre Schuld sein? Sie war es, die durchgesetzt hat, dass er auf dem Gymnasium beginnen sollte. Und er wollte es auch selber sehr gerne. Sie hatte es für undenkbar gehalten, dass sie ihm das nicht ermöglichen sollten, dass sie ihm verwehren sollten, seine Fähigkeiten zu nutzen; doch sie weiß, dass es wahr ist, wenn Jørgen sagt, sie sei ambitiös, wenn es um ihre Kinder geht. Mehr als er es ist. Aber ohne Selma, ohne Helene und ohne Ivar wäre es nie gegangen. Es hätte sich von selber erledigt, sie hätten es finanziell nicht geschafft, ihn so weit weg zur Schule gehen zu lassen. Denn er wohnt gratis bei ihnen, bei Selma, die das Erdgeschoss des großen Hauses für sich allein hat, während Helene und Ivar die erste Etage bewohnen. Selma will nichts davon hören, dass er etwas dafür bezahlt. Julie versucht es auszugleichen, indem sie ihm jedes Mal, wenn er nach Hause kommt,