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es in den Vorratshäusern dürftig aus. Den meisten ist es außerdem in Fleisch und Blut übergegangen, dass Fremde besser bewirtet werden als die, die zum Hof gehören, sogar alltags. Aber heute machen auch die Frauen nicht mehr, als sie müssen. Und sie suchen beieinander Zuflucht, finden darin Trost, niemand hält es aus, allein zu sein.

      In der Küche auf Storvik halten sich so viele auf, dass sie sich gegenseitig auf die Füße treten. Julie und Astrid, Helene und eine fremde Frau aus der Stadt, Frau Solberg, die mit ihren Kindern herkam, gemeinsam mit Helene und Selma und den beiden Dienstmädchen, die hier mit grauen Gesichtern herumlaufen, weil sie sich um ihre Familien ängstigen, die in der Stadt zurückgeblieben sind. Jeder möchte gerne etwas zu tun haben. Die einen schälen Kartoffeln für das Mittagessen, andere waschen ab, eine kümmert sich um die Topfpflanzen an den Fenstern, aber alles geschieht nach eigenem Gutdünken und unsystematisch. Selma und Synnøve sitzen auf der Schlafbank, untätig. Sonst halten sie sich meistens im Altenteil auf, aber heute nicht. Selbst die drei kleinen Mädchen aus der Stadt sind in der Küche geblieben. Die beiden größeren sind Schulkinder. Eine geht in die erste Klasse, die andere in die dritte. Sie sitzen bei den beiden alten Frauen ruhig auf der Bank und lauschen, auf alles, was gesagt wird. Nur die Jüngste, sie ist drei Jahre alt, hockt auf dem Fußboden und spielt mit dem kleinen Sven. Diese beiden sind heute friedfertiger als sonst, obwohl sie von dem, was vor sich geht, noch gar nicht allzu viel verstehen können. Doch die Spannung im Raum spüren sie wohl auch. Dem kleinen Mädchen aus der Stadt kommt alles fremd und merkwürdig vor, und Sven, verwirrt und ungewöhnlich scheu, schaut mit großen Augen auf die vielen Fremden hier in der Küche.

      Julie fühlt sich erschöpft und abgespannt, sie geht mit einer nagenden Unruhe umher. Sie alle hier empfinden die Ungewissheit als unerträglich, aber sie sprechen nicht darüber. Nicht viel. Wenn jemand etwas davon erwähnt, wird es plötzlich ganz still im Raum, bevor sich die Gespräche dann wieder fieberhaft alltäglichen Dingen zuwenden. Doch diese leise geführten Unterhaltungen hämmern in ihrem Kopf, gehen ihr auf die Nerven, sind eine furchtbare Marter, die nicht auszuhalten ist. Es macht sie gereizt und aufbrausend. Sie möchte sie hier haben, um sich haben, alle, wie sie in der Küche sind, diese Frauen und die Arbeit, das Geplauder, das einen am Nachdenken hindert. Und sie wünscht sie weg, wünscht sich ihre Ruhe, es sind widersprüchliche und verwirrende Gefühle, und wie zum Hohn mitten in all dem dieser schöne, warme Frühlingstag, der durch die geöffneten Fenster und Türen hereinkommt. Diese Zeit, in der man sich über alles freuen könnte. Die Weiden voller dicker Weidenkätzchen, Knospen, kurz vor dem Aufbrechen, die Bäume in vollem Saft, Krokusse, Scilla und Schneeglöckchen auf den Beeten, darüber ein strahlend blauer Himmel. Ein Himmel, der auch heute von den schwarzen Wolkenbänken dort hinten verdunkelt wird.

      »Könnt ihr nicht wenigstens die Kleinen mit nach draußen nehmen, anstatt euch hier gegenseitig auf die Füße zu treten«, faucht Julie die beiden kleinen Mädchen aus der Stadt an. Ärgert sich, dass sie so scharf im Ton war, als sie deren vorwurfsvolle Blicke sieht, die sie ihr zuwerfen. Doch sie verlassen die Küche, jede mit einem Jungen auf dem Arm, die beiden anderen kleinen Mädchen eilen ihnen schnell hinterher.

      »Seid vorsichtig, falls irgendetwas sein sollte«, ruft sie ihnen nach.

      Sie wissen, was gemeint ist. Einmal kam hier eines von den inzwischen so verhassten deutschen Jagdflugzeugen tief über die Häuser geflogen. Noch waren sie eher neugierig als ängstlich gewesen, hatten draußen im Hof gestanden und zu dem Flugzeug geglotzt, das über dem Hof kreiste. Das Flugzeug drehte in Richtung Norden ab, dann war ein ratterndes, unbekanntes Geräusch zu hören.

      »Sie schießen, die Schweine«, schrie Jørgen.

      Stumm standen sie da, Julie mit Sven auf dem Arm.

      »Feindige Bombefugzeug«, wimmerte das Kind. In diesem Jahr ist er zwei geworden und kann noch nicht richtig sprechen, aber in diesen Tagen schnappt er merkwürdig fremde Wörter auf.

      Als das Maschinengewehrfeuer im Wald niederging, meinte Jørgen, die Deutschen würden schießen, um den Leuten Angst einzujagen.

      »Das ist es, was sie Demoralisierung der Bevölkerung nennen«, sagte er. Aber beim nächsten Mal, wenn ein Flugzeug über dem Hof auftauche, sollen sie machen, dass sie ins Haus kommen. Irgendwann einmal könnte es ernst werden. Dann dürften sie sich nicht als lebendige Schießscheiben in den Hof stellen und wie die Narren in die Luft gaffen. In den Zeitungen sei in letzten Zeit genug von solchen Verhaltensweisen zu lesen gewesen.

      »Bleibt in der Nähe der Gebäude«, ruft Julie den Mädchen nach.

      »Du kannst gehen und dich ausruhen, Julie«, sagt Astrid. »Wir sind hier jetzt genug, um mit dem, was es zu tun gibt, fertig zu werden. Du bist ganz grau im Gesicht.«

      Sie zieht ihr Kleid und die Schuhe aus und legt sich hin, das Bettzeug ist kühl auf dem Körper, der ihr vorkommt, als würde er brennen. Hinter ihrem Nacken und Rücken stapelt sie Kissen auf, versucht eine Stellung zu finden, der für ihren schweren Leib bequem ist. Die Kinnladen schmerzen, nachdem sie stundenlang die Zähne zusammengebissen hat und mit angespannten Kräften herumgelaufen ist. Sie versucht, sich zu entspannen, die Schwere aus den Gliedern sickern zu lassen. Hinter der Stirn schmerzt Müdigkeit, dennoch ist sie hellwach.

      Sprühende Lichtfünkchen tanzen hinter den schmerzenden Augenlidern, in ihrem Kopf ein Gewirr von Gedanken und Bildern. Das Kind strampelt, stößt sanft in wellenartigen Bewegungen gegen ihre Rippen. Sie streicht mit den Händen über ihren nackten, aufgewölbten Bauch. Das Kind, jedes Mal wenn es sich in ihr bewegt, fährt ihr ein Schauder über den Rücken, und sie bekommt einen Schreck. Wenn es ruhig ist, lauscht sie in sich hinein, immer auf der Hut. Während dieser Schwangerschaft ist sie noch nie richtig entspannt gewesen. Genauso war es auch schon, als sie mit Sven schwanger war. Was sie durchmachen musste, als sie das Mädchen verlor, das Mädchen, das tot geboren wurde, sitzt in ihr fest, und diese Angst kommt immer wieder, dieser Schmerz, ebenso stark wie damals, als es passierte. Das Unglück, die Kuh, die auf sie losging, die sie mit den Hörnern stieß, auf ihr herumtrampelte, das unheimliche Licht im Morgengrauen, der Bulle, das hat sich in ihr festgefressen, verfolgt sie noch jetzt nachts in ihren Träumen, obwohl es schon acht Jahre her ist, seit es passierte. Und die Tage danach, die Stille in ihrem Bauch, die furchtbare Entbindung, der Schmerz, als sie erfuhr, dass das Kind ein Mädchen war. Der Kummer hat sich mit den Jahren gegeben, doch noch immer muss sie an dieses Kind denken, ihr Mädchen, das sie nie zu Gesicht bekam. Dem Pastor konnte sie abtrotzen, dass er ihr sagte, wo es begraben wurde. In einer Ecke des Friedhofs, es hatte kein Grab bekommen, weil es tot geboren wurde, ungetauft war. Sie geht immer noch dorthin, im Frühling, wenn die Tausendschön, die sie dort im Gras gepflanzt hat, zu blühen anfangen. Sie blühen den ganzen Sommer über. Noch immer träumt sie davon. Dass sie im Tor zum Kirchhof steht und sieht, wie der ganze Friedhof mit einem Teppich von Tausendschön bedeckt ist, dass sie suchend auf dem Friedhof umherläuft und ihre Stelle nicht wieder finden kann, weil die Tausendschön überall sind.

      Jørgen erzählte sie nicht, dass sie die Stelle gefunden hatte, an der das Kind begraben lag. Das wollte sie für sich allein haben. Auf Jørgen war sie böse gewesen, ohne einen richtigen Grund dafür zu haben, wie sie später einsah. Anstatt gemeinsam darüber zu sprechen, blieb jeder mit seinem Kummer für sich. Die Ehebetten hatte sie auseinander geschoben, so dass jedes für sich an einer Wand stand, sie ließ nicht zu, dass er sie berührte. Ab und zu, wenn sie Schuldgefühle überkamen, ging sie zu ihm, doch das war halbherzig, und es war keine Liebe dabei. Tagsüber betrachtete sie ihn, fragte sich verwundert, was sie bloß dazu gebracht hatte, diesen grantigen, finsteren Mann zu heiraten, war nicht imstande gewesen, seinen Schmerz zu erkennen. Bei der Erinnerung an diese Zeit läuft es ihr kalt über den Rücken. Alles war furchtbar schwer. Am Anfang die lähmende Trauer um das Kind, zu der Zeit glaubte sie, den Verstand zu verlieren. Hinzu kamen die miserablen wirtschaftlichen Verhältnisse, Jørgens viele Versuche mit der Fuchszucht und anderen unmöglichen Plänen, um sich daraus zu retten. Kristoffer, der den Hof nicht an Jørgen übergeben wollte, die Konflikte zwischen ihr und Synnøve, sie beide in einer Küche zusammen, und sie war sich wie eine Magd auf dem Hof vorgekommen.

      Schließlich hatte sie ihre Kinder genommen und war mit ihnen zu ihren Eltern gefahren. Wochenlang war sie geblieben, bis ihr Schwiegervater sie endlich bat, nach

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