Скачать книгу

Er ließ sich in den lederbezogenen Clubsessel sinken.

      »In diesem Sessel«, sagte Frau Kreuger, und ihre Stimme klang, als wenn sie aus weiter Ferne käme, »in diesem Sessel hat Birgit gestern abend gesessen!«

      Die Minuten verrannen; niemand sprach ein Wort.

      Rechtsanwalt Kreuger saß zusammengefallen auf seinem Stuhl. Er schien sehr alt und sehr müde. Frau Kreuger sah ihn an, und sie verzieh ihm in ihrem Herzen. Sie hatte ihm, seit es geschehen war, die Schuld an dem Unglück gegeben, ohne es auszusprechen. Jetzt sah sie, wie er litt, und wußte, es gab keine Schuld, sondern nur Verhängnis. Er hatte sie oft nervös gemacht, wenn er mit raschen Schritten, die Hände auf dem Rücken, das Zimmer durcheilt hatte, aber jetzt hätte sie gewünscht, er würde es wieder tun. Sein bewegungsloses Kauern war zutiefst beunruhigend. Er wirkte wie ein zusammengebrochener alter Mann.

      Marius Ellmann blickte unentwegt auf das Telefon. Er hatte seit Jahren nicht mehr gebetet, jetzt aber betete er, ohne es selber zu merken: ›Laß das Telefon klingeln… endlich eine Nachricht… so oder so! Laß uns nicht länger auf eine Entscheidung warten! Wir sind am Ende.‹

      Aber das Telefon blieb tot und stumm.

      Als es dann endlich – nach Ewigkeiten hoffnungslosen Bangens – doch schrillte, begriff er es erst nicht. Er fuhr zusammen, sein Herz ging in unruhigen Stößen.

      Die Eheleute standen gleichzeitig auf, sahen sich eine Sekunde lang an. Dann ging er zum Telefon. Die Klingel schrillte wieder, aber es schien, als wagte er nicht, den Hörer abzunehmen. Dann straffte er die Schultern, nahm mit entschlossenem Griff den Hörer.

      »Hier Rechtsanwalt Kreuger«, meldete er sich. Eine lange Pause, dann: »Ja, er ist hier!«

      Rechtsanwalt Kreuger legte den Hörer aus der Hand, sagte, ohne Marius anzusehen: »Für Sie, Herr Ellmann!«

      Marius Ellmann begriff nicht. Er wollte etwas entgegnen, aber das Gesicht des Rechtsanwaltes ließ ihn verstummen. Er ging zum Apparat, nahm den Hörer auf, räusperte sich, um seine Stimme frei zu bekommen: »Bitte, hier Marius Ellmann…«

      Eine aufgeregte Frauenstimme war am anderen Ende der Leitung. Marius war im ersten Augenblick außerstande, irgend etwas zu verstehen.

      »Wer spricht denn da?« fragte er. »Bitte, was wollen Sie von mir… ich weiß nicht…«

      »Aber Marius! Ich bin es doch, Helen! Deine Frau!«

      Er erkannte ihre helle, durch die telefonische Verbindung ein wenig verzerrte Stimme, und ehe er noch reagieren konnte, fügte sie rasch hinzu: »Mein Gott, ich bin froh, daß ich dich endlich erreicht habe. Ich hatte ja keine Ahnung, wo du steckst. Wenn Marina mir nicht gesagt hätte… in ganz Hamburg habe ich herumtelefoniert. – Die Leute werden mich für wahnsinnig gehalten haben, aber…«

      »Was willst du?« fragte er.

      »Marius«, sagte Helen nervös, »deine Stimme klingt so komisch. Kannst du mich überhaupt verstehen? Ist die Verbindung nicht gut?«

      »Doch, ich verstehe. Bitte, sprich endlich.«

      »Es ist etwas Furchtbares passiert, Marius. Sonst hätte ich dich ja nicht angerufen. Stell dir vor, Marina ist hier! Ja, sie ist hier! Gestern abend ist sie angekommen. Sie ist völlig verstört… Du kannst dir schon denken, weswegen.«

      »Ich habe keine Ahnung.«

      »Aber, Marius! Hast du wirklich geglaubt, die Kinder würden deinen Entschluß so ohne weiteres hinnehmen? Es war ein Schock für Marina… ein schrecklicher Schock. Völlig außer sich kam sie hier an, ich habe mich entsetzlich aufgeregt. Das arme Kind! Hörst du, Marius, du mußt sofort nach Düsseldorf kommen… sofort!«

      »Unmöglich!«

      »Unmöglich? Aber wieso denn? Jaja, ich kann mir vorstellen, daß dir das nicht angenehm ist, gerade jetzt. Aber schließlich geht es um dein Kind. Um Marina. Ich werde nicht allein mit ihr fertig, wahrhaftig nicht. Ich wage sie keine Minute allein zu lassen, aus Angst, daß sie etwas anstellt. Das Schlimmste ist, daß sie nicht ins Internat zurückwill. Ich habe ihr zugeredet, das kannst du mir glauben, ich habe es im Guten und im Bösen versucht, sie weigert sich. Was soll ich denn machen? Natürlich habe ich schon mit dem Internat telefoniert, aber sie wollen ihr keinen Urlaub geben. Sie bestehen darauf, daß sie sofort zurückkommt. Wegen der Schuldisziplin, du weißt schon. Wenn sie nicht sofort zurückkommt, werfen sie sie raus. Marius… Marius, hörst du mir überhaupt noch zu? Sag mir doch endlich, was soll ich tun?«

      Marius Ellmann schwieg. Er wußte beim besten Willen nicht, was er Helen sagen sollte. Ihre Sorge und ihre Aufregung erschien ihm belanglos, töricht und übertrieben. »Marius! Marius… um Himmels willen, bist du überhaupt noch in der Leitung?« rief Helen aufgebracht.

      »Doch«, sagte er, »und ich habe alles verstanden.«

      »Dann sag doch ein Wort! Äußere dich endlich! Gib mir einen Rat!«

      »Ich weiß nicht, was da zu raten ist. Marina muß natürlich zurück.«

      »Eben. Das sage ich ja auch. Deshalb rufe ich dich an. Sie muß zurück, es wäre entsetzlich, wenn sie relegiert würde. Bitte, Marius, komm! Komm sofort! Auf dich hat sie immer gehört. Du mußt ihr gut zureden, du mußt ihr alles erklären. Du kommst, nicht wahr? Ich kann mit dir rechnen?«

      »Nein«, sagte er dumpf.

      »Aber, Marius, das ist doch nicht dein Ernst! Du kannst uns doch nicht jetzt im Stich lassen. Du weißt genau, ich habe nie etwas von dir verlangt… nie. Aber diesmal… nein, da gibt es keine Ausrede. Du mußt kommen!«

      Die Versuchung war sehr stark, den Hörer aufzulegen, aber Marius Ellmann wußte, daß es sinnlos gewesen wäre. Er kannte Helens Hartnäckigkeit. Sie war so leicht nicht abzuschütteln. Sie würde wieder und wieder anrufen, bis sie ihr Ziel erreicht hatte.

      »Hör mal«, sagte er, und es fiel ihm schwer, seine Stimme in der Gewalt zu behalten, »ich kann jetzt nicht. Hast du endlich verstanden? Ich kann jetzt nicht. Es ist ausgeschlossen. Ich kann dir das nicht erklären.«

      »Völlig überflüssig«, sagte Helen, »ich verstehe durchaus. Du kannst deine Braut nicht allein lassen, wie?«

      »Es ist etwas geschehen, Helen. Was, kann ich dir nicht erklären. Aber glaube mir doch, daß ich jetzt nicht kommen kann. Du mußt dich damit abfinden, ich werde nicht kommen.«

      Helen schwieg einen Augenblick, und als sie wieder zu sprechen begann, zitterte ihre Stimme vor unterdrücktem Zorn. »Ich werde mich damit abfinden müssen. Natürlich, du hast recht. Was bleibt mir anderes übrig! Ich habe mich mit so vielem abfinden müssen. An mir hat dir ja nie etwas gelegen, aber ich dachte, wenigstens die Kinder…«

      »Helen!« sagte er verzweifelt. »Ich bitte dich, Helen! Muß das jetzt sein?«

      »Ja, es muß!« rief sie wild, und in ihrer Stimme schwang Hysterie. »Du hast immer nur das getan, was du wolltest… An uns hast du nie gedacht! Aber hab doch wenigstens Mitleid! Mitleid mit dem armen Kind. Sie leidet ja nur deinetwegen. Warum hast du ihr diesen Schlag versetzt? Sie wäre sonst niemals weggelaufen. Das weißt du ganz genau. Du bist schuld, du allein. Du kannst nicht einfach so tun, als wenn dich das alles nichts anginge. Du kannst sie wieder dahin bringen, daß sie zurückfährt, nur du. Du bist für Marina verantwortlich. Komm, Marius, ich flehe dich an, komm!«

      »Helen«, sagte er mühsam, »ich werde euch anrufen, sobald ich den Kopf frei habe. Mehr kann ich dir nicht versprechen.«

      »Nun gut. Dann hab wenigstens den Mut und sage es Marina selber. Sie steht neben mir. – Marina, dein Vater will dir etwas sagen!«

      »Helen! Warum…?« begann er.

      Aber da war schon Marina am anderen Ende der Leitung.

      »Bitte, Vati«, sagte sie, und ihre Stimme klang sehr jung und sehr hilflos, »bitte, komm doch!«

      Marius Ellmann hätte aufschreien mögen vor Verzweiflung, aber er

Скачать книгу