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gegangen. Sie hatte von der Mahlzeit, welche Robert mitgebracht hatte, einen Theil zurückgelegt, um Andere, welche auch litten, damit zu beglücken. Sie wußte, wie willkommen diese Gabe war.

      Da unten stand nämlich an einer Thür zu lesen: »Wilhelm Fels, Mechanikus«. Oeffnete man diese Thür, so trat man in ein ärmliches Stübchen, auf dessen Ofenbank eine ewig strickende, leidend aussehende, blinde Frau saß. Sie war des Tages stets allein, denn ihr Sohn arbeitete im Atelier seines Principales. Des Abends aber kam er, und anstatt sich auszuruhen, arbeitete er an der Herstellung eines Mechanismus, welcher ihm von einem reichen Engländer zur Aufgabe gemacht worden war.

      Er war der Lieblingsgehilfe seines Meisters. Er verdiente einen schönen Lohn; aber er war leider ein ehrlicher Junge. Sein Vater hatte Ehrenschulden hinterlassen, die von ihm übernommen worden waren. Er wollte das Andenken des Todten rein erhalten und sah sich gezwungen, diesem Vorhaben über die Hälfte seines wöchentlichen Verdienstes zu opfern.

      Auch heut, als Marie eintrat, saß er am Tische und sann und feilte, feilte und sann, daß ihm trotz der im Stübchen herrschenden Kälte der Schweiß von der Stirn tropfte.

      Marie theilte ihre Gaben aus. Sie sollten nicht angenommen werden, aber sie besiegte jeden Widerstand mit der Versicherung, daß Robert einen Speisenvorrath für mehrere Tage mitgebracht habe. Man sah es dann der Blinden an, daß sie wohl schon seit Tagen sich nicht vollständig satt gegessen habe.

      Sie ging dann schlafen, und nun befanden sich die beiden jungen Leute allein. Er blickte zu ihr herüber und legte die Feile weg. Sie blickte zu ihm hinüber und legte die Seide fort, aus welcher sie sich einen Vorrath von Stickfäden gezogen hatte.

      »Marie?« sagte er halblaut.

      »Wilhelm?« antwortete sie ebenso.

      »Liebe Marie!«

      »Lieber Wilhelm!«

      »Die Mutter ist schlafen!«

      »Ja.«

      »Ob sie wohl schon eingeschlafen ist?«

      »Vielleicht,« antwortete sie erröthend.

      »Oder ob Sie noch einmal zurückkehren wird?«

      »Auch das ist möglich.«

      »Aber, liebe Marie, sie kann doch nicht sehen!«

      »Leider, lieber Wilhelm.«

      »Darf ich also kommen?«

      Sie antwortete nicht mit Worten, aber sie nickte mit dem hübschen Köpfchen. Das war genug. Er stand von seinem Stuhle auf und kam zu ihr. An der Wand stand ein Sopha, ein Kanapee, oder doch Etwas, dem man diesen Namen beilegen konnte, wenn man es nicht gar zu sehr genau nahm. Vier hölzerne Beine, drei Bretter darauf genagelt, hüben und drüben eine hohle Rolle aus starker Pappe und darüber ein Ueberzug von groß geblümtem Zitz, die Elle für fünfzehn Pfennige; das war das Kanapee, oder das Sopha, oder der Divan, welchen Wilhelm vor zwei Jahren seiner Mutter als Christgeschenk gegeben hatte. Er hatte damals das Möbel selbst zusammengenagelt und Marie hatte den Ueberzug besorgt und eingesäumt.

      Darauf saß sie jetzt und er setzte sich zu ihr.

      »Weißt Du, daß Du recht angegriffen aussiehst?« fragte er, indem er ihr kleines, arbeitsames Händchen ergriff.

      »Und weißt Du, daß Du heut wieder blässer bist als gestern?« antwortete sie, indem sie ihr Händchen nicht aus seiner fleißigen Hand zurückzog.

      »Du solltest Dich viel, viel mehr schonen!«

      »Du nicht minder!«

      »Ja, ja,« lächelte er. »Wir geben einander nur immer guten Rath; aber weißt Du, was wir ganz und gar vergessen, uns zu geben, liebe Marie?«

      »Nun, was?« fragte sie sehr neugierig.

      »Einen Kuß.«

      Da schlug sie ihm mit der Hand auf den Mund, aber so, daß es ihm ja nicht wehe thun konnte, und dann antwortete sie:

      »Was hat man vom Küssen! Geh doch!«

      »Was man vom Küssen hat? Hm! Den guten Geschmack und dazu dann das Vergnügen!«

      »Ah! Du denkst wohl, Du schmeckst sehr gut?«

      »Etwa nicht?«

      »Hm! Ich weiß es nicht.«

      »So probire doch einmal, Mariechen!«

      »Ich bin nicht neugierig.«

      »Aber ich desto mehr!«

      »Worauf?«

      »Wie Du schmeckst. Darf ich probiren?«

      »Nein.«

      »Auch nicht ein aller-, aller-, allereinziges Mal?«

      »Hm! Wenn Du mir versprichst, daß es dabei bleiben soll.«

      »Ganz gewiß, ganz gewiß! Aber nun gieb auch rasch Dein liebes, kleines, süßes Mäulchen her!«

      »Da hast Du es! Aber blos geborgt!«

      »Schön! Ja! Na, komm!«

      Es ließ sich ein eigenthümliches Geräusch vernehmen, ganz so, wie man es in gewissen Jahren, an gewissen Orten und bei gewissen Personen zu lieben und zu üben pflegt, und dann – fuhr Marie auf einmal sehr rasch mit dem Köpfchen zurück und rief schmollend:

      »Geh, Ungehorsamer! War das denn nur Einer?«

      »Ja freilich! Wie viele denn sonst?«

      »Fünf oder sechs. Es können sogar auch acht gewesen sein.«

      »Welch ein Irrthum! Wie zählst Du nur heut wieder einmal! Komm! Ich will Dir ganz genau zeigen, wie es gewesen ist, und dann sollst Du mir sagen, ob es wirklich nur sechs oder acht waren. Ich denke nämlich, es müssen zwölf oder sechzehn gewesen sein.«

      Und nun thaten sie, als ob sie zählen wollten, aber es fiel ihnen ganz und gar nicht ein. Wer die Küsse zählt, der ist noch viel schlimmer dran als Derjenige, welcher die Kirschen zählt, welche er ißt; der eigentliche Haut goût, das Mousseux geht ganz und gar dabei verloren. Und wer es ohne Zahlen und Ziffern nicht vermag, der thut am klügsten, gleich zu multipliciren, da kommt doch zuletzt ein artiges Sümmchen heraus.

      So hielten sich die beiden jungen Leutchens also fest umschlungen. Ihre Herzen waren so froh und voller Blumen wie der Zitzüberzug, auf dem sie saßen, und dabei hatten sie sich einander Tausenderlei zu sagen und zu fragen, obgleich sie täglich um ganz dieselbe Zeit ein Stündchen zusammen kamen.

      Daß dann die gute, blinde Mutter stets schlafen ging, war natürlich der reine Zufall. Aber eine Mutter kennt das Menschenherz nur allzu gut und gar eine blinde Mutter weiß ganz genau, daß in all das Elend der Arbeit und des Hungers zuweilen ein Sonnenstrahl gehört, und den wärmsten, hellsten Strahl versendet doch eigentlich nicht die Sonne, sondern die Liebe, welche die Sonne aller Sonnen ist. Und kommt nun so ein Sonnenstrahl, so geht die Blinde schlafen, da er ihr ja doch nichts nützen kann.

      »Wann wirst Du fertig mit Deiner Stickerei?« fragte Wilhelm.

      »Morgen.«

      »Gott sei Dank. Dann kannst Du doch einmal ausruhen.«

      »Aber ich bekomme auch ein schauderhaft vieles Geld.«

      »Wieviel?«

      »Das weiß ich selbst noch nicht. Wie geht es mit Deiner Maschine.«

      »Immer langsam, aber sicher. Man hat so viel zu berechnen.«

      »Das ist sehr wahr,« nickte sie verständnißinnig, obgleich sie von der Sache gar nicht viel verstand. Aber wer einen Mechanikus liebt, muß doch wenigstens wissen, daß er sehr viel zu berechnen hat. »Wann wirst Du fertig?«

      »Noch vor Weihnacht.«

      »Wie schön! Dann kannst auch Du zu den Feiertagen ruhen.«

      »Und dann das viele Geld.«

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