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gekommen war, und beruhigte sich.

      »Es ist mir wohl nur so vorgekommen,« sagte er.

      Katerina Lwowna lehnte sich an die Kopfwand seines Bettes.

      Fedja blickte die Tante an und fragte sie, warum sie so blaß sei.

      Katerina Lwowna hüstelte nur und blickte erwartungsvoll auf die Türe des Gastzimmers. Dort knarrte leise ein Dielenbrett.

      »Ich lese eben die Lebensgeschichte meines Namenspatrons Fjodors des Stratilaten. Was der für ein gottgefälliges Leben führte!«

      Katerina Lwowna stand schweigend da.

      »Tantchen, wollen Sie sich nicht hinsetzen? Ich möchte Ihnen vorlesen!« sagte der Neffe, sie liebevoll anblickend.

      »Wart, ich komme gleich, ich will nur das Lämpchen im Saal richten,« antwortete Katerina Lwowna und verließ schnell das Zimmer.

      Im Gastzimmer wurde ganz leise, fast unhörbar geflüstert; das Kind hörte es aber in der tiefen Stille mit seinen scharfen Ohren.

      »Tantchen! Was ist denn das? Mit wem tuscheln Sie denn?« schrie der Knabe mit tränenerstickter Stimme. »Tantchen, kommen Sie doch her, ich habe solche Angst!« rief er nach einem Augenblick noch klagender: es kam ihm vor, als ob die Tante im Gastzimmer zu jemand »Jetzt!« gesagt hätte. Der Knabe bezog es auf sich.

      »Was hast du Angst?« fragte Katerina Lwowna heiser, mit festen, entschlossenen Schritten ins Zimmer tretend. Sie stellte sich vor das Bett so hin, daß ihr Körper die Gastzimmertüre vor den Blicken des Kranken verdeckte. »Leg dich!« sagte sie ihm.

      »Ich will nicht, Tantchen.«

      »Nein, Fedja, hör auf mich, leg dich ... Es ist spät ... Leg dich ...« wiederholte Katerina Lwowna.

      »Was fällt Ihnen ein, Tantchen! Ich will noch gar nicht liegen.«

      »Nein, leg dich, leg dich,« sagte Katerina Lwowna mit veränderter, abgerissener Stimme. Sie nahm den Jungen unter den Achseln und legte ihn gewaltsam hin.

      In diesem Augenblick stieß Fedja einen wahnsinnigen Schrei aus: er sah Ssergej, blaß und barfuß ins Zimmer treten.

      Katerina Lwowna drückte ihre Hand auf den vor Entsetzen weit geöffneten Mund des Kindes und schrie:

      »Schnell! Halt ihn einmal, damit er nicht zappelt!«

      Ssergej packte Fedja an Armen und Beinen, Katerina Lwowna warf mit einem schnellen Ruck ein großes Daunenkissen auf das Gesicht des unglücklichen Kindes und legte sich mit der ganzen Schwere ihres Rumpfes darauf.

      An die vier Minuten herrschte im Zimmer eine Grabesstille.

      »Er hat genug,« flüsterte Katerina Lwowna. Kaum hatte sie sich aber erhoben, um alles in Ordnung zu bringen, als die Wände des stillen Hauses, das so viele Verbrechen in sich barg, von wuchtigen Schlägen erdröhnten: die Fenster klirrten, die Böden bebten, die Lämpchen vor den Heiligenbildern zitterten an ihren Ketten, und unheimliche Schatten huschten über die Wände.

      Ssergej fuhr zusammen und stürzte hinaus; Katerina Lwowna rannte ihm nach, und das Dröhnen folgte ihnen. Es war, wie wenn überirdische Kräfte das sündige Haus bis auf den Grund erschütterten.

      Katerina Lwowna fürchtete, daß der von Entsetzen gepeitschte Ssergej hinauslaufen und sich durch seinen Schreck verraten könnte; er lief aber in das Schlafzimmer hinauf.

      Als Ssergej die Treppe hinaufgelaufen war, schlug er im Finstern mit der Stirne an die Tür und stürzte, ganz wahnsinnig vor Entsetzen, die Stufen hinunter.

      »Sinowij Borissowitsch, Sinowij Borissowitsch!« stammelte er, kopfüber die Treppe hinunterstürzend und Katerina Lwowna umwerfend und mit sich reißend.

      »Wo?« fragte sie.

      »Da flog er eben als ein eisernes Blech über uns vorbei! Da fliegt er!« schrie Ssergej auf. »Da dröhnt er schon wieder!«

      Nun war es klar, daß viele Hände von außen gegen alle Fenster hämmerten und auch die Türe einzuschlagen versuchten.

      »Narr! Steh auf, Narr!« schrie Katerina Lwowna. Mit diesen Worten lief sie schnell wie der Blitz in Fedjas Zimmer, legte seinen toten Kopf in der natürlichen Stellung eines Schlafenden auf die Kissen hin und machte mit fester Hand die Türe auf, in die ein großer Haufen Menschen einzudringen suchte.

      Das Bild, das sich ihr bot, war schrecklich. Katerina Lwowna blickte über die Köpfe der Menge, die die Haustüre belagerte, sah viele unbekannte Menschen über den hohen Zaun in den Hof klettern und hörte das Brausen vieler Stimmen.

      Katerina Lwowna hatte noch nicht Zeit gehabt, die Sachlage zu erfassen, als die Menschen, die vor der Türe standen, über sie herfielen und sie zurück ins Haus drängten.

      XII

       Inhaltsverzeichnis

      Dieser Menschenauflauf war aber folgendermaßen entstanden. In allen Gotteshäusern der recht großen und lebhaften Kreisstadt, in der Katerina Lwowna lebte, hatte sich am Vorabend des großen Festes eine Menge Menschen angesammelt; in der Kirche aber, die morgen ihr Altarfest feiern sollte, war das Gedränge so groß, daß keine Stecknadel zu Boden fallen konnte. In dieser Kirche sang ein Chor, der aus Handelsgehilfen bestand und von einem bekannten Liebhaber der Gesangskunst dirigiert wurde.

      Unser Volk ist religiös und dem Gottesdienste zugetan; außerdem haben die Leute bei uns eine künstlerische Ader, und schöner Chorgesang und prunkvoller Gottesdienst sind für sie der reinste Hochgenuß. Wenn in einer Kirche ein Chor singt, läuft gleich die halbe Stadt zusammen; in erster Linie aber der Handels- und der Arbeiterstand: Handelsgehilfen, Lehrjungen, Handlanger, Fabrikarbeiter und auch die Geschäftsinhaber selbst mit ihren Gemahlinnen. Alle drängen sich in einer der Kirchen zusammen, ein jeder will wenigstens vor der Kirchentüre oder vor dem Fenster, selbst bei brennender Sonnenglut, selbst bei strengstem Frost stehen und den tiefen Bässen und kunstvollen Tenören, wenn sie ihre Variationen singen, lauschen.

      In der Kirche, zu deren Sprengel das Ismailowsche Haus gehörte, gab es einen Altar zur Darstellung Mariä. Zu derselben Zeit, als sich alles oben Beschriebene mit Fedja abspielte, hatte sich die Jugend der ganzen Stadt in dieser Kirche versammelt; die Leute verzogen sich nach dem Gottesdienste in Scharen und besprachen die Vorzüge des bekannten Tenors und die Fehler des ebenso bekannten Basses.

      Aber nicht alle interessierten sich so für die musikalischen Dinge; in der Menge gab es auch Leute, die andere Fragen erörterten.

      »Seltsame Dinge erzählt man sich von der jungen Ismailowa,« sagte der junge Maschinist, den sich einer der Kaufleute für seine Dampfmühle aus Petersburg verschrieben hatte, mit seinen Freunden am Ismailowschen Hause vorbeigehend. »Man sagt, daß sie mit ihrem Angestellten Ssergej ein Liebesverhältnis hat ...«

      »Das ist ja allen bekannt,« sagte ein Mann in einem mit blauem Nanking besetzten Schafspelz. »Sie war heute wohl auch gar nicht in der Kirche.«

      »Ach was, Kirche! Die Frau ist so tief gesunken, daß sie weder vor Gott, noch vor ihrem Gewissen, noch vor den Menschen Angst hat!«

      »Schaut nur, da brennt bei ihr Licht,« sagte der Maschinist, auf einen Spalt im Fensterladen zeigend, durch den ein Lichtschein drang.

      »Sieh mal hinein, was sie jetzt treiben,« schlugen einige Stimmen vor.

      Der Maschinist stützte sich auf die Schultern zweier Freunde, blickte durch den Spalt hinein und schrie entsetzt auf:

      »Brüder! Da wird gerade jemand erwürgt!«

      Der Maschinist begann mit aller Kraft an den Fensterladen zu klopfen. An die zehn Mann folgten seinem Beispiel und hämmerten mit den Fäusten gegen die Fenster.

      Die Menge wuchs von Augenblick zu Augenblick an, und so entstand die uns bereits bekannte Belagerung des Ismailowschen Hauses.

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