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Am Pier. Gerd Mjøen Brantenberg
Читать онлайн.Название Am Pier
Год выпуска 0
isbn 9788711454992
Автор произведения Gerd Mjøen Brantenberg
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Inger riß ein neues Blatt aus ihrer Kladde. „‚Dr. Livingstone, I presume‘, sagte Stanley“, sagte Magnor und blickte bei dieser verdichteten Klimax über die Klasse und klappte den Mund zu. Torsrud notierte ein zutiefst geheimes „Sehr gut“ im Klassenbuch und machte sich an eine Schilderung des ostafrikanischen Hochlandes. „Geliebte Pflaumensülz! Ich ahnte schon, daß Sie warteten, obwohl ich in all diesen Jahren nichts von Ihrer Existenz gewußt habe. Aber ich bitte Sie zu verstehen, daß ich ein vielverschlungenes Leben mit vielen gefahrvollen und abenteuerlichen Reisen hin und her im Kongobecken und unter meinen Lieblingselefanten in der Savanne führe. Wie stark würde mein Herz doch brausen, wenn Sie sich einmal von Ihren tiefen, stinkenden Kellerverschlägen auf Kapellfjellet losreißen könnten, um mit mir in die Welt zu ziehen! Falls Ihnen dabei der weitläufige und gorillahafte Torsrud zu sehr fehlen sollte, könnten wir ihn gut als Führer anstellen. In ohrenbetäubendem Herzenssausen warte ich auf Ihre liebenswerte herzförmige Antwort. Vielfältige Grüße von Apfelsaft.“
„Auf Seite 99 seht ihr ein Bild von einem Kaffernkraal im Betschuanaland. Seht euch die vielen Neger auf dem Platz an.“
„Wem gehört Betschuanaland?“
„Betschuanaland ist ein britisches Protektorat.“
„Hochgeachteter Herr Apfelsaft! Ich finde, Sie bringen der Bevölkerung von Kappelfjellet wenig Respekt entgegen. Vergessen Sie nicht, daß sie doch trotz allem Menschen sind, wie wir anderen auch. Abgesehen von Magnor natürlich. Den möchte ich nicht mit weiteren Kommentaren aus meinem Goldstift berühren. Leider muß ich wohl sagen, daß mein Schicksal ist und bleibt, in einem verstaubten Regal in einem Kellerverschlag des bereits erwähnten Chapel Rock zu stehen. Sie können mich besuchen. In der Dunkelheit und Verschwiegenheit der Nacht, natürlich. Am liebsten bei Mondschein. (Es gibt ein kleines Kellerfenster.) Spärliche, aber tränenerfüllte Grüße, für immer die Ihre, Pflaumensülz.“
„Auf Seite 100 seht ihr den berühmten Tafelberg in Kapstadt.“
„Meine unwiderstehliche Pflaumensülz! Darf ich meinen Lieblingselefanten mitbringen? Ihr trauriger Apfelsaft.“
„He, da hinten! Was ist das?“ Die Augenbrauen ruhen auf dem Zettel auf Beates Tisch. Torsrud nähert sich. „Das Kapland!“ sagt plötzlich Liv Abrahamsen und will sich ausschütten vor Lachen. Die Mädchen um sie herum lachen. Beate hält die Hand über den Zettel. „Nichts“, sagt sie und blickt zu ihm hoch. „Weg mit der Hand! Wollen wir uns doch mal nichts ansehen.“ Beate rührt sich nicht. „Also los. Mach schon. Wir können im Erdkundeunterricht solche Zettelwirtschaft nicht dulden!“
„Vielleicht sollten wir sie lieber im Norwegischuntericht betreiben!“ platzt es aus Liv heraus. Hier ist die Grenze. Torsrud dreht sich zu Liv um und zeigt auf die Tür. „Raus!“ Liv geht und füllt ihr Taschentuch mit Lachen. Beate hat immer noch die Hand über dem Zettel. Torsrud packt sie am Handgelenk und zwingt die Hand beiseite. Aber darunter gibt es keinen Zettel. Torsrud glotzt die Luft über der Tischplatte an. Eine Weile steht er da. Dann zuckt er die Schultern. „Ihr müßt aufhören mit diesem Unfug“, sagt er und kehrt ins Kapland zurück.
Nach dieser Stunde gingen Inger und Beate nebeneinander die Treppe hinunter. Eigentlich hatten sie bisher noch nicht viel miteinander geredet, abgesehen vom Zeichenunterricht. „Du bist verrückt“, sagt Beate. „Stimmt. Aber ich wußte nicht, daß du auch verrückt bist.“ Plötzlich kennen sie einander.
„Und ich hab’ gedacht, in Lahellemoen gäb’s bloß doofe Leute, weißt du“, sagt Inger zu Lillian. „Aber jetzt kenne ich da eine, die nicht doof ist.“
„Ach? Wen denn?“
„Beate Halvorsen. Sie hat vor Torsruds Augen einen Zettel weggezaubert.“
„Wie hat sie das denn geschafft?“
„Ach, ich hab’ vergessen, sie zu fragen.“
Hinter ihnen kommt Svend Akselsen aus Trara angefahren und läßt seine Handbremse laut aufquietschen. Er geht in die A-Klasse. Lillian läuft knallrot an und starrt geradeaus. „Kommst du um acht mit in die Wochenschau?“ ruft er, er selber ist auch nicht weniger rot. „Ja“, antwortet Lillian und tut so, als hätte sie ihn gerade erst entdeckt. Kaum hat sie geantwortet, tritt Svend hektisch in die Pedale und saust Fergestedsveien hinunter, ohne mit den Händen den Lenker zu berühren.
„In Trara wohnen auch nicht bloß doofe Leute“, sagt Lillian.
Dann schweigen beide, tief ergriffen von dieser Erkenntnis.
„Ich schwöre bei Gott...“
Die Jungen standen auf dem Schulhof, hielten die rechte Hand schräg vor sich und sagten: „Ich schwöre bei Gott diesen heiligen Eid...“ und kannten den ganzen Hitlereid auswendig. Kjell Grunder an der Spitze mit seinem dicken großen Kopf und seinem Jokergesicht. Stramme Rücken, feierliche Mienen. Die Mädchen, Gravdahl und Rolf Magnor sahen zu. „Hört mit dem Quatsch auf! Mehrere von den Lehrern hier haben im Konzentrationslager gesessen!“ Vesia Jørgensen, die Gymnastiklehrerin der Mädchen, stand plötzlich vor ihnen. Ihre Stimme bebte. Die Jungen sahen sie an, ließen die Arme sinken, liefen davon. Als sie außer Hörweite gekommen waren, lachten sie. Und als Vesla Jørgensen mit ihrem geschmeidigen Rücken und ihren Turnschuhen im Altbau verschwunden war, legten sie den Eid noch einmal ab. Heil, Heil!
Muldvig trat in der nächsten Deutschstunde neben sein Pult und stemmte dabei die Hände in die Seiten. Er rümpfte die Nase. „Nein“, sagte er mit leiser Stimme. „Das da... das da... müßt ihr... an den Nagel hängen.“ Alle waren still. „Viele von den Lehrern hier sind... nach Deutschland geschickt worden. Ihr müßt damit aufhören.“
Die Klasse sah Muldvig an. Sie warteten. Niemand sagte jemals etwas darüber, was die von den Deutschen festgenommenen Lehrer erlebt hatten. Es wurde nur geflüstert. Alle flüsterten über Torsrud. Und über Konsul Saxeby. Und Sundt, bei dem sie Zoologie und Botanik hatten, war der nicht in Grini gewesen? Einige behaupteten, er sei von der Gestapo gefoltert worden. Deshalb sei seine Schulter schief. Aber die, die selber im KZ gesessen hatten, sagten niemals auch nur ein Wort. Weder über sich noch über die Deutschen. Und die anderen Lehrer sprachen nur darüber, wie die Deutschen an der Nase herumgeführt worden waren. Sie erzählten witzige Geschichten, daß die Deutschen Moelv wie „Mölf“ ausgesprochen und wie die Deutsche-Dirnen „Alf Vidersen“ als Kindsvater angegeben hatten, und wie ein Deutscher einmal einer Mutter mit ihrem Kind in der Straßenbahn seinen Platz angeboten hatte, worauf das Kind mit lauter Stimme zu seiner Mutter sagte: „Das war aber ein lieber Schweinehund, Mama.“ Im Krieg hatten sie viel zu lachen gehabt – insgeheim –, und das erzählten sie jetzt.
„Ich bin nicht selber im KZ gewesen“, sagte Muldvig mit noch tieferer Stimme als vorher. „Ich habe damals studiert. Zufällig ist mir das erspart geblieben. Die Reihe wurde fünf Studenten vor mir geteilt. Mehrere Bekannte von mir sind nicht zurückgekommen.“ Er schluckte. Änderte seine Stellung, schob das andere Bein schräg nach vorn. Er war ein ziemlich kleiner Mann. Er trug immer einen etwas zu weiten Anzug. Kleine Augen. „Aber die, die zurückgekommen sind“, fuhr er fort, „die wollen nicht darüber reden. Was sie erlebt haben, ist grausamer, als wir uns das vorstellen können.“
Zum erstenmal hatte ein Lehrer auch nur soviel zu ihnen gesagt. Nicht mehr, als sie ohnehin schon gewußt hatten. Aber in seiner Stimme hatte Bewegung gelegen.
Was hatten sie damals erfahren, als sie noch klein waren und mit einem norwegischen Papierfähnchen, das die Erwachsenen ihnen in die Hand gedrückt hatten, auf die Straße gerannt waren? Norwegen hatte den Krieg gewonnen! Yippieyeh, yippieh, yiippieh-yeh! hatten sie gesungen.
Drei,