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Am Pier. Gerd Mjøen Brantenberg
Читать онлайн.Название Am Pier
Год выпуска 0
isbn 9788711454992
Автор произведения Gerd Mjøen Brantenberg
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Mit den Mädchen war es etwas leichter. Aber Mädchen waren nicht für ernste Gespräche geschaffen. Sie waren für etwas anderes geschaffen, und Hartvig war ganz beklommen zumute, wenn er daran dachte. Aber wie er es angehen sollte, um mit einem Mädchen bekannt zu werden, wußte er auch nicht. Die anderen redeten von einem Dachboden, den sie abends aufsuchten. Mittwochs abends gingen sie in die Wochenschau und saßen auf der Galerie. So mußte man es wohl machen. Aber Hartvig bekam kein Mädchen ab, obwohl er in die Wochenschau ging. Nie sah ihn eine an, weder vor noch nach der Vorstellung, und während der Vorstellung konzentrierten sie sich wohl darauf.
Was sollte er auch mit Mädchen? Die hatten doch bloß Filmstars im Kopf. Im Oktober war die Nachricht von James Deans Tod gekommen. „Vor einigen Tagen“, hatte es in den Zeitungen geheißen. Die Mädchen seufzten und stöhnten. Sie redeten von James Deans hellbraunen Haaren, seinem weichen, geschwungenen Mund und seinen wehmütigen Sternenaugen. „Die Augen!“ sagten die Mädchen, tagelang sagten sie nichts anderes. Sie hörten, daß sich Mädchen drüben in Amerika bei Paso Robles, wo er tödlich verunglückt war, auf die Straße legten und nicht glauben wollten, daß er tot war. Sie wollten die Straße erst wieder freimachen, wenn ihnen jemand versicherte, daß er noch lebte. Da niemand ihnen das erzählen konnte, hatten mehrere Selbstmord begangen.
So waren Mädchen. Hartvig tadelte seine Klassenkameradinnen im „Radiergummi“, der Klassenzeitung, die sie in den Norwegischstunden herstellten. Was für eine Vorstellung, um einen Typen am Ende der Welt zu weinen und zu wehklagen, den sie nicht einmal gekannt hatten, schrieb er. Das war total idiotisch, einfach ein schwachsinniger Tick, und sie sollten sofort damit aufhören. Außerdem hättet ihr ihn ja doch nicht heiraten können, schrieb Hartvig. „Woher weißt du das?“ fragte Astrid ihn nachher auf dem Schulhof. Sie war zutiefst verletzt. Die Mädchen trauerten unbeirrt weiter.
Jetzt gingen dahinten Liv Abrahamsen und Stina Weidel mit der Zahnklammer und diskutierten über die Auferstehung. Was wußten die denn darüber? Sie sprachen so laut, daß der ganze Schulhof sie hören konnte. Stina war nämlich gerade frisch bekehrt. Eingesperrt in die Einfalt des Kleinbürgertums, genau wie seine Eltern. Land, Land, Land, lausche den Worten des Herrn. Aber wenn irgendwelche Mädchen zu ihm herüberkamen, diskutierten sie niemals solche Fragen. Sie juxten bloß. „Was liest du denn jetzt schon wieder, Gravdahl?“ fragten sie. Schon die Frage war ein Witz. Das war ihm klar. Anfangs hatte er nämlich ernsthafte Antworten gegeben. Aber warum sollte er mit ihnen über Goethe reden? Das einzig Geistige, das sie interessierte, waren die Top Twenty von Radio Luxemburg. Wenn man diese tierischen Geräusche überhaupt als Geist bezeichnen konnte. „You are my special angel“, jaulten die Mädchen auf dem Schulhof.
Beate war ziemlich nett. Sie redete nicht soviel. Er hatte sie immer schon gekannt, trotzdem kannte er sie nicht. Jetzt ging sie Hand in Hand mit Inger. Mädchen machten so viele seltsame Dinge. Vor Inger fürchtete er sich ein bißchen. Man wußte nie, was sie als nächstes sagen würde. Und in allen Diskussionen glaubte sie, das Pulver erfunden zu haben. Aber als er seine Ansichten zum Thema James Dean geschrieben hatte, war sie zu ihm gekommen und hatte gesagt: „Dein Kommentar hat mir wirklich aus der Seele gesprochen.“
Das machte ihn stolz. Ach, es brauchte so wenig, um ihn stolz zu machen. Außerdem hatte er das Gefühl, daß zum erstenmal eine wirklich mit ihm gesprochen hatte.
In der E-Klasse gab es ein Mädchen namens Gyda Gulldahl. Sie hatte langes volles Haar wie die Loreley und wohnte auf Kråkerøy. In jeder Pause ging sie mit einer aus der 2, die die Verrückte Maja genannt wurde und Locken und ein spitzes Gesicht hatte, über den Schulhof. Sie hieß nicht wirklich Verrückte Maja, aber er hatte nie gehört, daß sie anders genannt worden wäre. Die schrecklich dicke Gudrun Hauger aus seiner Klasse ging auch mit ihnen zusammen. Gyda Gulldahl hatte einen geraden Rücken und einen schmalen Körper. Er konnte sich an ihr einfach nicht sattsehen. Warum machte er das? Er kannte sie ja nicht einmal.
Im Klassenzimmer war er in Sicherheit. Hartvig saß am zweiten Tisch in der zweiten Reihe. Wenn sich Stille über die Klasse senkte und sie sich in ihre Bücher vertiefen sollten, erfüllte ihn ein Friede wie immer, seit er sich zum erstenmal durch ein Wort hindurchbuchstabiert hatte. Die meisten Lehrer verstanden nicht viel. Aber Davidsen war toll, wenn er über die großen Schriftsteller sprach. Auch Hartvig hatte vor, ein großer Schriftsteller zu werden. Besonders schön war es, über Dostojewski zu hören. Wenn Davidsen über die großen Russen erzählte, spürte Hartvig, daß er trotz allem an einer Art Gemeinschaft teilhatte. Da saßen alle anderen genauso allein wie er an ihren Tischen, dann zählte es nicht, daß er in der Wochenschau nie ein Mädchen fand.
Hartvig hatte nicht immer in Fredrikstad gewohnt. Er war mit zehn Jahren hergekommen, aus einem Waisenhaus in Baerum. Wie oder wann er dorthin gekommen war, wußte er nicht. Er dachte aber oft darüber nach. Er hatte einige klare Erinnerungen, die er nicht einordnen und die ihm niemand bestätigen konnte. Er sah ein Tor vor sich. Nachdem sie das Tor passiert hatten, gingen sie über ein von der Sonne beschienenes Feld. Dann kam der Wald. Zuerst war er dunkel, mit einem schmalen Grasweg. Nach und nach stieg er etwas an und wurde hell. Hier gingen sie, zuerst die Frau im geblümten Sommerkleid, die ihn an der Hand hielt, hinter ihnen der Mann.
Hartvig blickte in sich hinein. In seinem Kopf sah er einen mit Gras bewachsenen Abhang voller Stiefmütterchen, und er saß darauf, zusammen mit einer Frau im dunklen Mantel, und pflückte Blumen und fragte die Frau, wie die Blumen hießen, und er wußte noch, daß er gedacht hatte: Sicher heißen sie so, weil sie meine Mutter ist. Das Wort „Stiefmutter“ kannte er damals noch nicht.
Vielleicht bildete er sich das alles nur ein? Und weil er es sich so oft eingebildet hatte, hielt er es am Ende für die Wahrheit? So etwas kam vor, davon hatte er gehört. Ein Mensch konnte sich selber täuschen und darüber verrückt werden.
Werde ich jetzt verrückt? dachte er. Ist diese Blumenwiese nur der Anfang einer schleichenden Schizophrenie, wie bei Nietzsche? Dann würde er vielleicht auch eines Tages große Gedankenbauwerke errichten können. Aber Irrsinn war natürlich keine Garantie für Größe.
Und dann ging Hartvig zu Hause über die Wiese und spürte einen bestimmten Blumenduft. Vielleicht auch den Geruch neuen Grases. Oder der Erde? Unmöglich zu sagen. Aber es war ein ganz bestimmter Geruch. Der Geruch kam leicht wie ein Schmetterlingsatem auf ihn zu, scharf, klar, plötzlich, und brachte Tor und Waldweg zurück. Sie gingen weiter aufwärts. Der Weg wurde heller. Schließlich war es so hell, daß sich der Wald zu einer kleinen Lichtung mit Gras öffnete. Hier ließen sie sich nieder. Und neben der Lichtung floß ein Bach.
Welcher Bach? Welcher Wald? Es mußte doch irgendwo gewesen sein – irgendwo auf der Karte von Norwegen. Wenn er nur wüßte, wer ihm sagen könnte, daß Tor und Weg wirklich waren und wo sie lagen. Er verspürte ein unbeschreibliches Verlangen gerade danach.
Manchmal ging er nach Bingedammen in der Hoffnung, die Stelle zu finden. Nicht, weil er glaubte, daß sie dort lag – sie war weit von Fredrikstad entfernt, ja, er war sicher, daß sie überhaupt nicht in Østfold lag –, sondern weil er hier manchmal denselben Geruch verspürte.
Zu anderen Zeiten wies er das alles von sich. Es gab anderes auf der Welt, worüber er spekulieren konnte, als die Frage, wo er als Dreijähriger gewesen war. Manchmal vergaß er Waldweg und Blumenwiese. Er war mit den Dutzenden von Büchern beschäftigt, die er immer gerade zwischen den Fingern hatte. Aber mitten in seiner Vertiefung in die halbseitenlangen Sätze in Goethes „Dichtung und Wahrheit“ konnte die Frage in seinem Kopf landen wie eine unerwartete Flugmaschine. Hatten sich Weg und Blumenwiese am selben Ort befunden?
Seit vielen Jahren wußte Hartvig schon, daß er nicht der war, für den seine Eltern ihn ausgaben. Seine frühesten sicheren Kindheitserinnerungen stammten aus dem Waisenhaus. Dort war es entsetzlich gewesen. Alle Jungen hatten gebrüllt und sich geprügelt, und die meisten von ihnen konnten keine Wörter, sie konnten nur kreischen. Und kreischend waren sie gekommen und hatten ihn zu Boden geworfen, wenn ihnen das gerade Spaß machte. Die Schwestern im Waisenhaus waren gelbgrau im Gesicht gewesen.
Hartvig wollte das Waisenhaus vergessen. Aber voller Freude erinnerte er sich an seinen