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Warten auf diesen nahe bevorstehenden, fiebrig herbeigesehnten Augenblick förmlich den Schlag. Die Uhr tickte laut, es schien Lotte dieses Ticken plötzlich fast zu überdeutlich vernehmbar. Es störte sie beim Hinauslauschen. Jetzt — nein, nichts! Doch nun klingelte es wirklich.

      Aber es war nur der Geldbriefträger, der Zeitungsgeld einzog.

      Die unbarmherzige Uhr tickte weiter und tat ihre Pflicht. Es wurde halb zwölf und wurde zwölf. Die Geschwister wechselten manchmal ein paar Worte, um halb eins aber sprang Hans Wendel auf, wollte etwas Zorniges sagen, doch schluckte er es hinunter, zu blass und elend sah Lotte aus.

      „Er hat sicher nicht kommen können, er wird schreiben“, versicherte Lotte, und Hans Wendel dachte voller Mitleid, dass seine Schwester den Eindruck eines Menschen machte, der jämmerlich fror.

      Lotte fror wirklich, so recht von innen heraus. Das vergebliche Warten hatte sie in eine grosse, unbestimmte Angst hineingejagt, dem Geliebten müsse etwas zugestossen sein. Sie wollte sich gleich erkundigen. Oder nein, lieber noch nicht, schliesslich konnte er wohl noch kommen.

      „Immerhin werden wir jetzt essen“, schlug ihr Bruder vor. „Ich habe Hunger.“

      Die Schwester nickte. „Gleich wird aufgetragen werden.“

      Es wurde ein stilles Mahl zu zweien. Lotte quoll der Bissen im Mund vor bitterer Enttäuschung und auch vor Angst, es könnte Klaus von Tannstätten ein Unglück geschehen sein. Hans Wendel schmeckte es ebensowenig. Er war wütend auf den angekündigten Besucher, der nicht gekommen war.

      Wahrscheinlich hatte er es sich in letzter Minute noch überlegt, der noble Herr, und die Liebe zu Lotte war nichs weiter gewesen als ein kleiner Schritt vom gewohnten Wege, den er schon bedauerte. Er hatte vielleicht gar nicht an eine Heirat gedacht; das hatte sich Lotte wahrscheinlich nur selbst eingeredet.

      * * *

      Der Tag verging, es kam keine Nachricht, keine Entschuldigung.

      Abends fing Lotte plötzlich an zu lachen: „Er wird vergessen haben, wo wir wohnen, das ist des Rätsels Lösung!“

      „Unser Name steht im Adressbuch und im Telephonbuch, Lotte“, erinnerte er sie.

      Sie ging ans Telephon, und nach einem Weilchen kehrte sie sichtlich verwirrt zurück.

      „Er wohnt gar nicht in dem Hotel, das er mir genannt hatte.“

      „So, so!“ machte Hans Wendel, und kopfschüttelnd stellte er fest: „Ein merkwürdiger Heiliger, dieser Herr, der einen Namen trägt, welcher ihn eigentlich verpflichten sollte, sich nicht wie ein Stromer zu benehmen.“

      „Hans, ich bitte dich!“ wehrte sie entsetzt ab.

      „Da soll der Teufel daraus klug werden! Was hat denn der Mensch eigentlich beabsichtigt, dass er dir eine falsche Wohnung angab? Es lässt auf Dinge schliessen, die meines Erachtens mit der Handlungsweise anständiger Menschen nichts mehr zu tun haben.“ Er polterte heraus: „Sei froh, Lotte, dass er dich nicht hochgenommen, ich meine angepumpt hat. In diesem Fall würde ich nämlich sofort wissen, woran wir bei ihm sind.“

      Lottes Augen starrten ihn, unnatürlich geweitet, plötzlich mit einem solchen Ausdruck des Entsetzens an, dass er abbrach; aber ehe er noch zuspringen konnte, glitt die Schwester bereits vom Stuhl und lag nun regungslos auf dem neuen farbigen Teppich, den sie in der Vorfreude auf den Besuch gestern noch gekauft hatte.

      Eine schwere Ohnmacht ersparte ihr zunächst jedes weitere schmerzhafte Denken. Die Worte des Bruders hatten ihr blitzartig das Dunkel erhellt, das um ihr „Märchen“ lag. Sie hatte erkannt, dass dieses nur ein geschickt eingefädeltes Gaunerstück gewesen war.

      Am nächsten Tage berichtete sie dem Bruder die volle Wahrheit, und dann verbrachte sie acht schlimme Tage, zwischen Hoffnung und Verzweiflung hin und her gerissen. In diesen acht Tagen stellte Hans fest, dass es allerdings einen Klaus von Tannstätten gegeben hatte, einen alten Herrn, der als Junggeselle vor einigen Jahren gestorben war.

      Jetzt war auch Lotte Wendel überzeugt, dass der elegante Herr Baron, der mit ihren fünftausend Mark wohl längst das Weite gesucht hatte, tatsächlich ein Heiratsschwindler gewesen war.

      Sie wünschte aber keine Anzeige bei der Polizei; aufgeregt bat sie den Bruder, nichts in der Sache zu unternehmen. Sie verachtete den schlechten Menschen, der sie so elend betrogen, aber ihr Herz schlug immer noch für ihn.

      Hans mochte nicht schweigen, er wollte Anzeige erstatten.

      „Der Kerl muss gesucht werden!“ beharrte er ihren Bitten gegenüber. „Er kann sonst noch viel Unheil anrichten, der Schuft! Das schmutzige Handwerk, das er treibt, muss ihm gelegt werden.“

      Lotte litt an Schlaflosigkeit und nahm manchmal ihre Zuflucht zu Veronal. Eines Abends, als ihr Herz vor Sehnsucht nach ihm, den sie immer noch liebte, keine Ruhe gab, nahm sie zuviel von dem Schlafmittel und schlief ein, um nicht mehr aufzuwachen zu Erdenfreude und Erdenleid . . .

      Und nun da er es gekonnt hätte, ging Hans Wendel nicht zur Polizei. Er mochte das Andenken der geliebten Schwester nicht in einem Prozess dem Hohn und dem Spott fremder Menschen aussetzen. Aber er gelobte sich, wenn ihm jemals dieser Verbrecher in den Weg kommen sollte, sein Schweigen zu brechen und an ihm zu rächen, was er der armen Lotte angetan hatte.

      Als der Sarg in die Erde hinuntergelassen wurde, war es ihm, als ob er mit unheimlicher Deutlichkeit den Mann dicht vor sich sähe, dem er doch nur ein einziges Mal im Leben begegnet war. Sein Bild hatte sich unverlierbar in sein Gedächtnis eingegraben. Er wusste, er würde ihn sofort wiedererkennen.

      Arme, arme Lotte! Sie hatte ihn mit der ganzen Inbrunst ihres Herzens geliebt und war in den Tod gegangen, weil er sie so entsetzlich enttäuscht hatte.

      Hans Wendel warf drei kleine Schaufeln Erde auf den Sarg der Schwester und dachte: Vielleicht kann ich dich später einmal rächen, arme, liebe, törichte Lotte . . .

      1.

      So ein Septembertag hat es in sich. Wenn er schön sein will, bringt er das besser fertig als ein Frühlingstag, und die Menschen spüren seinen Sonnenschein wie ein Gottesgeschenk.

      Monika Holm lächelte unwillkürlich, als die Sonne aus der kleinen Agraffe, die sie auf Anordnung der Direktrice in die schwarze Hutrosette aus Ripsband einnähen sollte, bunte Blitze hervorlockte.

      Die Direktrice, Frau Schade, beobachtete ihr Tun ein Weilchen und rief plötzlich scharf: „Monika, Sie scheinen zu glauben, sich in einem Kinderhort zu befinden. Ich möchte Sie daran erinnern, dass wir hier sind, um zu arbeiten. Sie vergessen das leider manchmal.“

      In Monikas blasses Gesicht stieg jähe Röte.

      „Ich habe nur ausprobieren wollen, ob die Agraffe wirklich in die Rosette hineinpasst.“

      „Ich finde, sie passt dahin, wo ich sie angebracht wissen will, Monika“, gab Frau Schade, eine üppige Vierzigerin, ärgerlich zurück. „Sie haben immer eigene Ideen und glauben, Schick und Geschmack gepachtet zu haben. Ich verbitte mir ein für allemal Ihr ewiges unausstehliches Besserwissen. Schliesslich bin ich hier Direktrice!“

      Dunkelbraune Mädchenaugen blitzten sie an, und eben wollte Monika ihre, ein ganz klein wenig mit Rot nachgezogenen Lippen zu einer unüberlegten hastigen Antwort öffnen, als sie einen so kräftigen Fusstritt spürte, dass sie beinah einen Wehlaut ausgestossen hätte.

      Sie neigte den Kopf tief über die Arbeit und begann mit geübten, schnellen Fingern das umstrittene unechte Schmuckstück in die Rosettenmitte festzunähen, wo es nun als schimmernder Kelch prangte.

      Diese Misshelligkeiten zwischen Frau Schade und Monika Holm wiederholten sich oft. Hätte die Chefin nicht immer wieder alles ins rechte Gleis gebracht, Monika hätte längst den netten Fensterplatz in dieser Arbeitsstube, von wo aus man am besten in den kleinen Hof mit der grossen Akazie sehen konnte, aufgeben müssen. Frau Schade machte kein Hehl daraus, wie angenehm es ihr gewesen wäre, wenn Monika Holm eines Tages nicht mehr wiederkäme.

      Monika aber tat ihr

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