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Und so was nennt ihr Liebe. Marie Louise Fischer
Читать онлайн.Название Und so was nennt ihr Liebe
Год выпуска 0
isbn 9788711719190
Автор произведения Marie Louise Fischer
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
»Hei, Senta!«
Sie hielt mitten in der Bewegung inne, sagte erstaunt, aber durchaus nicht unangenehm überrascht: »Hei!« und blieb abwartend stehen.
Er machte einen raschen Schritt auf sie zu. Sie standen sich gegenüber, er mit vor Verlegenheit zornigem Gesicht, sie mit halb geöffneten Lippen und einem fragenden, erwartungsvollen Ausdruck in den schwarzen Augen.
»Kommst du vom Training?« fragte er und war sich im gleichen Moment bewußt, wie idiotisch diese Frage war, da die Antwort doch auf der Hand lag.
»Ja«, sagte sie ruhig.
»War’s schön?«
»Ziemlich anstrengend.«
Er hatte das Gefühl, ihr eine Erklärung geben zu müssen. »Ich war zufällig hier in der Gegend, bei einem Klassenkameraden«, sagte er.
Andere Mädchen gingen vorüber, warfen Jürgen neugierige Blicke zu, stießen sich an, kicherten unterdrückt, zogen weiter. »War nett, dich zu sehen, Jürgen«! Senta hielt ihm die Hand hin. »Auf bald!«
Er nahm ihre Hand, preßte sie verzweiflungsvoll. »Du, kann ich dich nicht ein Stück begleiten?«
»Mach kein Apfelmus aus mir!« sagte sie lächelnd. Als er losließ, rieb sie sich die Hand, die von seinem schmerzenden Zugriff gerötet war.
»Also … willst du?« fragte er.
»Tut mir wahnsinnig leid«, sagte sie, »aber ich hab’s eilig.«
»Ich bin dir wohl nicht gut genug«, stieß er, mit hochrotem Gesicht zwischen den Zähnen hervor.
»Rede doch kein Blech!«
»Ist ja wahr! Wenn ich ein Auto hätte …«
»Quatschkopf! Ein Fahrrad würde mir für heute schon genügen, dann könnten wir nämlich miteinander fahren.«
»Schieb’s doch!«
»Keine Zeit!« Sie schwang sich halb in den Sattel, drehte sich dann, ein Bein auf dem Boden, noch einmal um. »Wenn ich gewußt hätte, daß du auf mich warten würdest …«
»Habe ich ja gar nicht«, protestierte er trotzig, »reiner Zufall.« Sie lächelte, aber in ihren schwarzen, schräg geschnittenen Augen über den hohen Wangenknochen stand ein fast mütterliches Verstehen. »Worüber beklagst du dich dann?«
»Tu ich ja gar nicht.«
»Um so besser.« Sie trat auf die Pedale, rollte davon. »Ruf mich doch mal an!« rief sie zu ihm zurück.
»Könnte dir so passen«, entgegnete er patzig.
»Dann tu ich’s!« rief sie unbekümmert. »Wir müssen mal miteinander sprechen. Über Martina!« Sie war jetzt schon ein Stück entfernt.
Er legte beide Hände wie einen Trichter vor den Mund, damit sie ihn auch bestimmt verstehen konnte. »Interessiert mich nicht im geringsten!« schrie er.
Sie hob die rechte Hand, winkte ihm, ohne sich umzudrehen. »Tschau!«
»Du kannst mich mal«, knurrte er, »verdammte Weiber.«
Er fühlte sich zutiefst gedemütigt. Was fiel dieser Rotznase ein, ihn so von oben herab zu behandeln – »ein andermal« und »sag mir vorher Bescheid!« Schließlich war er fast zwei Jahre älter und gehörte einer anderen Garnitur an. Aber diesen Biestern konnte man ja nur mit Geld imponieren und mit einem Auto, darunter taten sie es ja nicht mehr.
Wahrscheinlich wartete auch Senta nur darauf, sich so einen Playboy an Land zu ziehen wie Martina.
Aber noch während er sich in diese wütenden Gedanken versteifte, wußte er, daß er dieser hier unrecht tat. Die war nicht so, die legte es nicht darauf an. Und trotzdem: wenn er mit einem schicken Sportwagen aufgekreuzt wäre, dann hätte sie sich bestimmt von ihm nach Hause bringen lassen!
Warum sie ausgerechnet mit ihm über Martina sprechen wollte? Schließlich war er doch nicht für seine Schwester verantwortlich.
Am Freitag, in der vorletzten Stunde, hatte die Unterprima Geographie bei Studienrat Dr. Berkeling.
Dr. Berkeling war an die sechzig. Die jahrzehntelange Beschäftigung mit Schuljungen hatte ihn nicht abgeklärt, sondern abgestumpft, obwohl seine Schüler ihm nicht selten Anlaß gaben, sich aufzuregen. Sie saßen einfach da, die langen Beine unter den Arbeitstischen weit vorgestreckt, das Kinn auf den gekreuzten oder aufgestützten Armen, starrten ihn an, oder vielmehr durch ihn hindurch, ohne eine Miene zu verziehen und ohne auch nur den Bruchteil dessen aufzunehmen, was er vortrug.
Dr. Berkeling besaß allerdings auch die fatale Fähigkeit, selbst den interessantesten Unterrichtsstoff zu einem grauen Brei zu verarbeiten. Alles, was er schilderte, verlor sofort Farbe und Gesicht. Interessante fremde Länder verwandelten sich in nüchterne Fakten – Klima, Bodenschätze, Längen- und Breitengrade, jährliche Niederschlagsmenge und dergleichen trockene Begriffe. So kam es, daß er nur den unentwegten Strebern hin und wieder eine Antwort oder eine Frage entlocken konnte. In dem gleichgültigen Schweigen der anderen sah er bewußte Bosheit, wie er überhaupt dazu neigte, sich ständig als Zielscheibe heimtückischer Grausamkeit und gemeiner Intrigen zu sehen.
Jürgen arbeitete im allgemeinen in Geographie mit, nicht gerade lustbetont, aber immerhin doch so, daß er, gemessen am Niveau der Klasse, eine glatte Zwei beanspruchen konnte. Er interessierte sich für Geographie, und überdies war es ihm nur zu sehr bewußt, daß er sich Schwächen in Fächern, die ihm keine Schwierigkeiten bereiteten, einfach nicht leisten konnte.
Aber an diesem Freitag war er abgelenkt. Immer wieder schob sich Sentas Bild zwischen ihn und den Lehrer, zwischen ihn und die Landkarte von Innerasien, und immer wieder suchte er es zurückzudrängen. Die monotone Stimme Dr. Berkelings war nicht dazu angetan, ihm die Konzentration auf den Lehrstoff zu erleichtern.
Jürgen versank in Träume.
Zuerst kritzelte er gedankenlos auf den vor ihm liegenden Notizblock, dann entstand ganz wie von selber Sentas Abbild daraus – nicht gerade ähnlich, aber für ihn deutlich zu erkennen: das glänzende, nahezu blauschwarze Haar, die achatschwarzen Augen über den schrägen Wangenknochen, die schmale, ganz leicht gebogene Nase, der volle Mund, das feste runde Kinn. Er zeichnete weiter, ihren schlanken Hals, die geraden Schultern, die schmale Taille, die langen Beine. Aber der Körper blieb unlebendig wie der einer Schaufensterpuppe, er strich ihn, einem plötzlichen Impuls folgend, mit dicken Schrägstrichen aus.
Er saugte die Lippen zwischen die Zähne, blickte nach vorne. Dr. Berkeling stand immer noch an der Landkarte, aber Jürgen sah ihn gar nicht. Er sah nichts, dachte nichts, sein Bewußtsein war völlig ausgelöscht. Dann senkte er den Kopf und begann zu schreiben, ganz mechanisch, er wußte selber nicht, woher die Worte kamen:
Hüll mich in die schwere Wolke deines Haares,
in der die schwarzen Sterne deiner Augen funkeln!
Zwischen den Hügeln deiner Brüste
führt mich der Weg …
Hier stockte er, wußte nicht weiter. Seine Augen überflogen die Zeilen, er wurde sich selber erst jetzt dessen bewußt, was er geschrieben hatte.
Sekundenlang zögerte er. Wenn ein richtiges Gedicht daraus würde? Vielleicht würde Senta beeindruckt sein.
Toll, wenn ihm das gelänge! Er glaubte förmlich, Sentas Stimme zu hören, viel sanfter, als sie in Wirklichkeit je zu ihm gesprochen hatte: »Das ist ja wunderbar, Jürgen! Ich wußte gar nicht, daß du ein Dichter bist!«
Ein Dichter? Ob ihr das überhaupt