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Und so was nennt ihr Liebe. Marie Louise Fischer
Читать онлайн.Название Und so was nennt ihr Liebe
Год выпуска 0
isbn 9788711719190
Автор произведения Marie Louise Fischer
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
»Eben nicht, Mutti, das soll er ja nicht! Ich bleibe nicht mehr länger auf der Penne.«
»Jürgen«, sagte Frau Molitor und setzte sich neben ihren Sohn auf den Badewannenrand, »laß uns zusammen nachdenken. Es muß doch einen Weg geben, daß du noch aufholst und trotz allem versetzt werden kannst, wenn auch mit Ach und Krach.« Er war ein gutes Stück größer als sie, und sie mußte sich recken, um ihm den Arm um die Schultern zu legen.
»Ausgeschlossen.«
»Du müßtest dich einfach mal richtig anstrengen. Vielleicht kannst du auch Nachhilfeunterricht nehmen.«
»Zu spät, Mutti … begreifst du denn nicht, daß es zu allem zu spät ist?«
»Das kann ich einfach nicht glauben«, beharrte seine Mutter, »es sind doch fast noch drei Monate bis zur Versetzung. Du müßtest dir nur mal Mühe geben!«
Jürgen sprang auf »Aber ich will nicht mehr, Mutti, ich habe die Nase gestrichen voll. Wozu denn das alles? In der Schule wird man schikaniert und zu Hause auch. Nicht mal ein Auto darf ich haben, obwohl es Vati keinen Pfennig kosten würde …«
»Liegt dir denn so viel daran?«
»So eine Frage!« Jürgen schüttelte sich mit einem Ruck seine blonden Haare zurecht. »Lebst du auf dem Mond oder wo? Jeder hat heutzutage ein Auto, als Fußgänger ist man einfach ein Mensch dritter Klasse.«
»Ich habe auch keines, Jürgen«, sagte sie beherrscht.
»Na und? Glaubst du, das macht die Sache für mich besser? Im Gegenteil, wenn die in der Schule erführen, daß wir zwei Autos hätten, stünde ich schon anders da. Und da würdest du mich doch auch fahren lassen, nicht wahr? Du wärest doch nicht so wie Vati?«
»Ich weiß nicht.«
»Warum muß er nur immer so ekelhaft sein!« Jürgen stampfte mit dem Fuß auf. »Dich läßt er nicht fahren, obwohl du einen Führerschein hast …«
»Das stimmt nicht, Jürgen, er hat mich manchmal ans Steuer gelassen!«
»Erzähl mir nichts, das habe ich miterlebt! Dieses Gemecker! Ganz konsequent verekelt hat er’s dir!«
Sie wußte, daß sie ihm hätte widersprechen und ihm verbieten müssen, so über seinen Vater zu reden. Aber sie wollte nicht auch noch an ihm herumnörgeln. »Jetzt geht es nicht um mich und meinen Führerschein«, sagte sie, »sondern um deine Versetzung!«
»Und mir geht es um das Auto!«
Seine Mutter fuhr sich nachdenklich mit der Zunge über die Lippen. »Wenn du eines hättest, Jürgen«, sagte sie, »oder eines bekämst … würdest du dir dann noch mal einen richtigen Rück geben?«
Jürgens im allgemeinen finster blickende Augen leuchteten mit einemmal auf.
»Für ein Auto«, rief er impulsiv, »würde ich alles tun!« Er packte sie um die Taille, hob sie in die Luft. »Du bist famos, Mutti, wirklich, du bist eine Wucht!«
»Laß mich los, Jürgen, ich bitte dich!« rief sie hilflos zappelnd. Als sie wieder auf beiden Beinen stand, hatte sie rote Wangen bekommen. Sie versuchte ärgerlich zu sein, aber sie mußte lachen.
»Was für ein Kindskopf du doch bist!« Sie fuhr ihm zärtlich durch das dichte, lange Haar.
»Du versprichst mir also, daß ich mein Auto kriege?«
»Ich werde zumindest versuchen, was ich tun kann!« Als er sie wieder packen wollte, eilte sie eilig einen Schritt zurück. »Nicht, Jürgen, nicht noch einmal!«
Er ließ die Hände sinken. »Ich bin froh, daß ich mit dir gesprochen habe«, sagte er, »mir ist regelrecht ein Stein vom Herzen gefallen. Und, nicht wahr, du sagst Vati nichts weiter? Du kennst ihn doch, er würde sich nur unnötig aufregen.«
»Unnötig?«
»Ja, bestimmt. Jetzt, wo Land in Sicht ist, werde ich es bestimmt schaffen.«
Aber zwei Tage später kam mit der Morgenpost die Mitteilung des Städtischen Realgymnasiums, daß die Versetzung des Schülers Jürgen Molitor wegen schlechter Leistungen in Mathematik und Latein sehr gefährdet sei.
Frau Molitor erschrak, obwohl sie darauf hätte vorbereitet sein müssen. Sie lief zum Telefon, um ihrem Mann zu berichten, was geschehen war. Sie hatte den Hörer schon in der Hand, als sie es sich anders überlegte.
Ihr Mann war in der letzten Zeit so schlecht gelaunt gewesen, fast nicht mehr ansprechbar. Und da sollte sie ihm ausgerechnet mit diesem Bescheid von Jürgens Schule kommen? Nicht auszudenken, wie er darauf reagieren würde. Sie hörte schon seine Stimme, die so kalt und verletzend klingen konnte: »Dein Sohn!« und: »Von deinem Sohn war das wohl nicht anders zu erwarten!«
Immer, wenn Jürgen in irgendwelche Schwierigkeiten geriet, hieß es, daß er ihr Sohn sei, ausschließlich ihrer! Das war schon so gewesen, als der Junge seine erste Fensterscheibe eingeschlagen hatte.
»Dein Sohn!« – Wenn sie nur daran dachte, stiegen ihr schon die Tränen in die Augen. Sie zog ein Taschentuch aus ihrem Kittel, putzte sich die Nase.
Nein, so ging es nicht. Ihren Mann anzurufen hatte keinen Zweck. Er würde wütend werden, ihr die Schuld geben und Jürgen so verächtlich und herabsetzend behandeln, daß der Junge allen Mut verlieren würde und jede Lust, es doch noch zu probieren. Und selbst wenn ihr Mann sich ausnahmsweise einmal verständnisvoll zeigen sollte, was zu erwarten sie allerdings nicht den geringsten Anlaß hatte, helfen konnte er doch nicht.
Es war besser, statt dessen etwas zu unternehmen, was dem Jungen wenigstens nützen würde.
Nachdem sie den Entschluß einmal gefaßt hatte, ging sie zielstrebig auf ihr Ziel los. Das Gefühl, hier Verantwortung zu tragen, die Tatsache, nach langer Zeit der absoluten Passivität endlich wieder einmal aus eigener Entscheidung zu handeln, regte ihre Energie an. Sie fühlte sich stark wie eine Löwenmutter, die sich für ihr Junges einsetzt.
Ja, sie würde Jürgen beistehen – aber wie?
Diese Frage war nicht schwer zu beantworten. In ihrem neu erwachten Elan arbeiteten ihre Gedanken rasch und präzise. Natürlich mußte sie als erstes mit Jürgens Klassenlehrer sprechen. Dr. Opitz hieß er. Jürgen hatte den Namen häufig zu Hause erwähnt. Sie mußte ihn, wenn möglich, dazu bringen, alle beiden Augen zuzudrücken.
Es war jetzt halb zehn. Sie rechnete rasch nach. Es mußte ungefähr die Zeit der ersten großen Pause sein. Wenn sie Glück hatte, konnte sie Dr. Opitz am Telefon erreichen.
Das Sekretariat meldete sich. Es dauerte einige Zeit, bis sie verbunden wurde, dann meldete sich eine tiefe, wie ihr schien, ausgesprochen vertrauenerweckende Männerstimme.
»Opitz …«
Frau Molitor holte tief Atem, sie hatte plötzlich vergessen, was sie sagen wollte, stotterte: »Ich … ich rufe wegen Jürgen an … ich bin Jürgens Mutter, Frau Molitor …«
Dr. Opitz begriff sofort. »Sie haben sicher den Brief bekommen?«
»Ja, deswegen rufe ich an! Ich kann mir so gar nicht vorstellen, Jürgen hat mir zwar erzählt … könnten wir uns nicht einmal darüber unterhalten?«
»Ich stehe Ihnen selbstverständlich zur Verfügung, Frau Molitor …«
»Das ist nett von Ihnen, aber ich möchte nicht, daß Jürgen davon erfährt. Er ist ziemlich empfindlich, Sie verstehen …«
»Wie wäre es, wenn Sie heute nachmittag in die Schule kämen? So gegen vier? Oder ist Ihnen das zu spät? Ich habe allerdings vorher einen Vater, dann käme