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mit wachsendem Interesse. Die Entwicklung der Psychiatrie war für sie ein unbekanntes Buch, und den Namen des Eberbacher Direktors hatte sie beim Empfang im Mönchsrefektorium zum ersten Mal gehört.

      »Natürlich war er ein Kind seiner Zeit«, gab Winterstein zu bedenken. »Aus heutiger Sicht erscheinen uns die Methoden, die Lindpaintner zur Disziplinierung der Patienten angeordnet hat, als brutal und widersinnig. Das reicht von Schröpfkuren und Brechmitteln bis hin zum Hohlen Rad. Aber dennoch: Philipp Lindpaintner war ein Vorreiter, der auf Bildung und Beschäftigung der Patienten baute, anstatt die Kranken in Zellen zu verwahren.«

      Norma hielt im Gehen innen, wandte sich um und warf einen Blick auf den dreiseitig geschlossenen Hof, der trotz seiner Pracht und beachtlichen Ausmaße einen Randbezirk bildete. »Ist es nicht ein Glückfall, dass Sie am Originalschauplatz drehen können?«

      »Wie ein göttliches Geschenk, Frau Tann! Verzeihen Sie den blumigen Ausdruck. Die Atmosphäre ist wahrhaftig einzigartig. Die Gebäude aus der Zeit Lindpaintners sind alle noch da.«

      »Also können Sie ohne große Umstände loslegen?«

      Er lachte lauthals, was wie das Meckern einer Ziege klang. »So simpel ist es leider nicht. Wir müssen mit Kulissen nachhelfen. Zwar stehen die Gebäude noch, aber von dem mobilen Inventar ist nichts übrig geblieben. Wie Sie selbst sagen: Das Thema ›Irrenanstalt‹ weckt allenthalben deprimierende Fantasien. Deshalb hat man im 19. Jahrhundert alles entfernt, was an die ›Irren‹ erinnerte. Sogar die alten Mönchszellen im Dormitorium! Darin hatten die Patienten gehaust. Bis auf die nackten Wände wurde alles herausgerissen und fortgeschafft. Danach verfiel das Kloster in einen Dornröschenschlaf und wurde nur noch als Weingut genutzt.«

      »Was geschah mit den Patienten?«

      »Eberbach war zu klein geworden, zu unmodern. 1849 wurden neue Gebäude bezogen, quasi in Sichtweite, dort drüben auf dem Eichberg. Die heutigen Kliniken haben ihren Ursprung hier in Eberbach. Kommen Sie, wir sind am Ziel.«

      Hinter einem von hohem Buchs gesäumten Tor, das ein Stück Bruchsteinmauer durchbrach, wurde das Heck eines Wohnmobils sichtbar. Gestutzte Buchenhecken begrenzten die Fußwege zu den Stellplätzen. Winterstein öffnete die Tür seiner fahrbaren Unterkunft und bat Norma hinein. Solange er mit einem Espressokocher hantierte, schaute sie sich unauffällig um. Neben der Psychiatriegeschichte hatte sich mit dem Wohnmobil eine weitere Wissenslücke aufgetan. So ein Gefährt hatte sie nie zuvor betreten, und es erschien ihr überraschend geräumig. Der Tisch diente Winterstein offensichtlich als Büro. Darauf verteilten sich ein Laptop und mehrere prall gefüllte Ordner. An den Wänden und Fensterscheiben klebten Bleistiftskizzen von Frauen unter breitkrempigen Hüten und Männern mit Zylindern und langen Bärten. Angedeutete Szenen mit Bonheur und weiteren Schauspielern, wie Norma vermutete.

      »Sie sind ein talentierter Zeichner«, sagte sie anerkennend und dachte an ihren stümperhaften Versuch, noch in der Nacht die Kohlezeichnung aus der Klostergasse zu kopieren. Selbst wenn sie sich genauer an die Details erinnert hätte, wäre es ihr wohl kaum besser gelungen. Winterstein war eindeutig geübter.

      »Was das betrifft, bin ich vom alten Schlag«, bekannte er. »Heutzutage gehören digitale Techniken selbstverständlich dazu, auch für mich. Aber für die Entwicklung einer Szene sind mir Papier und Bleistift immer noch das Liebste. Bitte, nehmen Sie Platz. Zucker?« Ohne die Antwort abzuwarten, stellte er ein Päckchen Würfelzucker und zwei Espressotassen auf den Tisch.

      Norma rutschte auf die Bank. Leder. Anthrazitfarben. Ganz schön nobel, das Domizil des Regisseurs. »Ist Ihnen gestern in der Klostergasse die Kohlezeichnung aufgefallen?«

      Er hatte den Espressokocher auf die Herdplatte in der winzigen Küchenzeile gesetzt und wandte sich um. »Wovon sprechen Sie?«

      »Von einer Kohlezeichnung! Sie hing an einem Pfosten in der Klostergasse. Ich hatte den Eindruck, das Blatt wäre auch Ihnen nicht entgangen.«

      Würziges Kaffeearoma stieg ihr in die Nase. Winterstein trug die Kanne an den Tisch und füllte mit elegantem Schwung die Tässchen, ohne etwas zu verschütten. Dann brachte er die Kanne zurück und setzte sich in den einzigen Sessel. Mit Daumen und Zeigefinger schnappte er sich ein Zuckerstück aus der Packung und ließ es in den Kaffee fallen.

      Erst jetzt reagierte er auf ihre Bemerkung. »Mir ist gar nichts aufgefallen. Wie kommen Sie darauf?«

      »Weil Sie so angestrengt hinübergeschaut haben.«

      »Unsinn«, wehrte er ab. »Vergessen Sie Ihren Kaffee nicht.«

      Sie schnupperte an der Tasse, aus der es verführerisch duftete. Sie nippte. Espresso kochen konnte er. »Kannten Sie Axel Teubener?«

      »Den Ermordeten?« Er schüttelte heftig den Kopf. »Er war ein Winzer aus der Gegend, wie ich gehört habe. Meinen Wein kaufe ich mal in Rheinhessen, mal im Rheingau und auf unterschiedlichen Weingütern. Einem Axel Teubener bin ich meines Wissens nie begegnet.«

      »Auch gestern Abend nicht?«

      Er lachte sein Ziegenmeckern. »Ist das die Frage nach meinem Alibi? Ich habe bis zum Ende des Films zwischen Nelly und Marielle gesessen und war auch während der Pause mit den Damen zusammen. Zufrieden?« Falls er verärgert war, überspielte er dies geschickt.

      »Bitte verzeihen Sie die Neugier einer ehemaligen Mordermittlerin. Ist eine Berufskrankheit.« Sie stellte die Tasse ab. »Kommen wir zur Sache. Also, warum wollten Sie mich treffen?«

      »Mein Sicherheitsmann hat mich im Stich gelassen«, erklärte er in sachlichem Ton. »Nicht mit Absicht, er musste kurzfristig zu seiner Familie ins Ausland. Nun brauche ich jemanden, der ein Auge auf das Geschehen am Set hat. Absperrungen aufstellen, Schaulustige auf Abstand halten, so was in der Art.«

      »Aha! Und zum Spannen der Flatterbänder brauchen Sie eine Privatdetektivin?«, gab sie zweifelnd zurück.

      Auffordernd beugte er sich vor. »Hören Sie, ich habe bedeutende Geldsummen in dieses Filmprojekt gesteckt. Ich bin Regisseur und Produzent in Personalunion und muss Verträge erfüllen, mit dem Sender, mit meinen Mitarbeitern. Ängste und Verunsicherung meiner Leute kann ich mir nicht leisten, nicht einmal, wenn quasi vor den Augen der Mannschaft ein Mord geschah. Das verstehen Sie doch?«

      Die berechnende Bemerkung über sein Team hatte ihn Sympathiepunkte gekostet. Andererseits musste der Druck, den ihm das Filmvorhaben bereitete, erheblich sein. Was zudem den Tobsuchtsanfall erklärte, zu dem ihn der Verlust seines Hauptdarstellers getrieben hatte.

      »Verzeihen Sie, ich habe Erkundigungen über Sie eingezogen, Frau Tann«, fuhr er fort, als Norma schwieg. »Sie waren eine hoch geschätzte Hauptkommissarin und sind aus freien Stücken aus dem Dienst geschieden. Die Mordkommission habe nur ungern auf Ihre Fähigkeiten verzichtet, hat man mir versichert. Auch Ihre Reputation als Privatdetektivin kann sich sehen lassen.«

      Bei wem mochte er nachgefragt haben? Bei seinem Verleger? Vermutlich. Lutz würde ein unverbindliches Lob geäußert haben, ohne sich in Einzelheiten zu verlieren. Diskretion war einer seiner wesentlichen Charakterzüge. Solange Norma mit seinem Sohn Arthur, einem renommierten Wiesbadener Kunsthändler, verheiratet gewesen war, hatte sie ein wohlwollendes, aber distanziertes Verhältnis zu ihrem Schwiegervater. Nähergekommen waren sie sich durch die Trauer um Arthur und die aufwühlenden Erlebnisse, die seinen Tod begleitet hatten. Nach und nach hatte sich ihre Beziehung zu einer tiefen und vertrauensvollen Freundschaft entwickelt. Auch Milano und Wolfert waren ihre Freunde. Wenn es darauf ankam, konnte sie sich auf beide gleichermaßen verlassen. Einem Fremden gegenüber würden sie nichts über ihre Vergangenheit im Polizeipräsidium ausplaudern. Für andere Ex-Kollegen wollte sie nicht die Hand ins Feuer legen. Bis zu ihrer Kündigung hatten Klatsch und unverhohlene Häme die Runde gemacht. Eine Kommissarin, die sich wie eine naive Touristin von südamerikanischen Rebellen entführen lässt! Als ob sie diese Vorwürfe nicht selbst bis aufs Blut gequält hätten. Wo waren ihre Instinkte geblieben, als Arthur sich von einem Künstler zu einer Fahrt in die kolumbianischen Berge hatte überreden lassen? Arthur vertraute dem Maler, dessen Werke er in seiner Wiesbadener Galerie ausstellte. Was für ein Irrtum! Lange Tage saßen Arthur und Norma im Dschungel fest, bedroht und bewacht von

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