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      Weitere Berichte beschrieben den Unfall, der Daniels Ehefrau das Leben gekostet hatte. In Steillage war ein Traktor umgestürzt und hatte Alina Lenges unter sich begraben. Die schwangere 26-Jährige verstarb kurz darauf im Krankenhaus. Der Fahrer des Traktors war ihr eigener Ehemann gewesen. Hatte Wolfert nicht gesagt, dass Lenges den Tod seiner Frau dem zänkischen Nachbarn anlastete? Bevor Norma herausfinden konnte, inwieweit Axel Teubener in das Unglück verwickelte war, unterbrach ein Anruf ihre Nachforschungen. Es war Winterstein, der sie zum Mittagsessen einlud. Bei der Gelegenheit wollte er sie dem Team als neue Kollegin vorstellen. Norma versprach, sich in Kürze auf den Weg zu machen. Sie spülte die Tasse ab, verstaute das Tablet in der Reisetasche und drehte eine Runde durch die Wohnung, um nachzusehen, ob alle Fenster geschlossen waren. Auf dem Dachfenster im Schlafzimmer zeichnete sich ein dicker, dunkler Kloß ab: Kater Leopold im Gegenlicht. Mit einem gnädigen Maunzen sprang er ihr in die Arme, nachdem sie ihm geöffnet hatte. Mit dem gewichtigen Kartäuser über der Schulter schloss sie das Fenster wieder, nahm die Reisetasche auf und verließ die Wohnung.

      Eine Etage tiefer, im mittleren Stockwerk, klingelte sie bei Eva und überreichte ihr den Kater mit der Erklärung, sie habe einen Auftrag und wohne deswegen für eine Weile im Rheingau. Dabei fiel ihr ein, dass sie nicht darüber gesprochen hatten, wann Eva ausziehen wollte.

      »Frühestens im Oktober«, antwortete Eva.

      Norma kraulte den Kater zum Abschied zwischen den Ohren, wünschte Eva einen schönen Tag und machte sich auf den Weg nach Eberbach – mit gespannter Erwartung, was der Job als Sicherheitsbeauftragte bereithalten würde.

      11

      Heilanstalt Eberbach

      Montag, der 9. Juli 1832

      Philipp Lindpaintner schwingt den Spazierstock, schreitet mit wippendem Gehrock weit aus und schlägt einen Bogen um zwei Frauen, die vor dem Hospital in eifriger Geschäftigkeit die Hofbesen zum Einsatz bringen. Die Ältere, deren aufgerollter Zopf sich in grauen Strähnen verliert, hält inne und schaut schüchtern zu ihm auf. Die Jüngere rafft eilig Rock und Schürze zusammen und sinkt zu einem Knicks nieder. Gerührt von der Ehrerbietung schenkt der Direktor den fleißigen Patientinnen ein gütiges Nicken. Mit einer aufmunternden Bemerkung erwidert er die scheuen Grüße dreier Männer, die damit beschäftigt sind, die Mauern eines Stalltrakts mit Kalk zu weißen. Der weitere Weg führt ihn durch die Gärten und Obstwiesen hinauf zum stattlichen Barockportal, das in spielerischer Verschwendung auf den Ursprung des Klosters hinweist. Präzise herausgearbeitet aus dem roten Sandstein, lassen sich im Giebel ein Bach mit zwei prächtigen Fischen sowie der Eber ausmachen, denen das Kloster seinen Namen verdankt. Der Direktor war nicht gekommen, um in aller Muße die lateinische Inschrift zu studieren. Mehrmals zieht er eine goldene Taschenuhr aus der Westentasche und schaut ungeduldig umher, bis ein Geräusch seinen Blick auf eine Reihe schmaler Steinstufen lenkt. Die Treppe führt den Abhang neben dem Tor nach oben und in den Wald hinauf. Hinter den Bäumen sind Schritte zu hören, gleich darauf steigt ein Mann die Stufen herab. Der Fußgänger wirkt derangiert, als hätten ihm die sommerlichen Temperaturen zugesetzt. Auf der grauen Weste, die den Bauch mit zu wenig Stoff überspannt, zeichnen sich Schweißflecken ab. Heller Staub bedeckt den schwarzen Frack, und auch die hochgeschnürten Beinkleider sind verschmutzt. Um ein Haar wäre der Mann ins Stolpern geraten.

      »Dr. Windt!«, ruft Lindpaintner ihm zu. »Sind Sie wieder einmal den ganzen Weg von Eltville gelaufen?«

      Erschöpft bewältigt Windt die letzten Stufen. Im Näherkommen hebt er grüßend den Zylinder an. »Hätten Sie Ihrem Anstaltsarzt nur einen Wagen geschickt! Warum wollten Sie mich sprechen? Es gibt hoffentlich keinen Notfall unter unseren Irrsinnigen?«

      »Keine Sorge, Doktor«, beruhigt ihn Lindpaintner. »Die Patienten befinden sich alle wohlbehalten an der frischen Luft. Ein jeder geht der ihm zugewiesenen Beschäftigung nach.«

      »Ihr Verdienst, mein Freund, Ihr Verdienst! Ohne Ihre Beharrlichkeit und Weitsicht würden die bedauernswerten Geschöpfe wie in den Jahrzehnten zuvor in Ketten und in Kerkern schmoren.«

      »Ein Irrenhaus darf kein Gefängnis sein«, erklärt Lindpaintner nicht ohne Pathos. »Das war mein Ansinnen, als ich meine Stellung vor 15 Jahren antrat. Ich wollte nicht, dass der Ausblick ins Freie an ein Verlies erinnert.«

      »Eine menschliche Entscheidung«, bemerkt der Doktor mit leichtem Lächeln. »Auch Ihre anderen Neuerungen sollten Schule machen. Dass Sie unsere kranken Schützlinge nicht mehr mit gemeinen Straftätern zusammensperren wie andernorts, hat Ihnen auf jeden Fall meine persönliche Anerkennung eingebracht.«

      Lindpaintner bedankt sich für das Lob. »Allerdings bedurfte es keiner besonderen Maßnahmen, nur einer Zwischenwand in der früheren Abtei. So wurden Gefängnis und Anstalt getrennt, und Patienten wie Korrektionäre bleiben unter sich.«

      Wieder lupft der Doktor den Zylinder, um ihn dieses Mal nach intensivem Kratzen des grauen Haarschopfs zurück an seinen Platz zu drücken, ohne dafür die andere Hand in Anspruch zu nehmen. »Erlauben Sie mir ein persönliches Geständnis, mein lieber Lindpaintner. Ich habe meinen Dienst in der Anstalt ein Jahr später als Sie angetreten und muss demütig einräumen, damals plagten mich ernste Zweifel, ob ein Bursche von 23 Jahren und zudem nicht Arzt, sondern Jurist, der richtige Mann für deren Leitung wäre. Aber, Gott zum Lob, Ihre Schaffenskraft hat mich vom Gegenteil überzeugt.«

      »Danke, danke«, erwidert Lindpaintner sichtlich geschmeichelt. »Unser durchlauchtigster Fürst bot mir anno 1817 die großherzige Gelegenheit, meine dürftigen Talente in diese wichtige Aufgabe einzubringen.«

      »Nur keine falsche Bescheidenheit«, gibt Windt entschieden zurück. »Ohne Ihr pädagogisches Prozedere würde ein alter Quacksalber wie meine Wenigkeit in schwierigen Fällen wohl weiterhin vor allem auf Brenneisen, Schröpfkuren und Narrenkappen setzen. Womit ich nicht sagen möchte, dass man, bei aller gebotenen Menschlichkeit, grundsätzlich auf Zwangsmittel aller Art verzichten könnte.« Dabei schüttelt er mit gespielter Drohung den Zeigefinger und zwinkert Lindpaintner schelmisch zu.

      »Ganz im Sinne und zum Wohl des Kranken, sofern er sich nicht uneinsichtig zeigt«, pflichtet Lindpaintner dem Mediziner bei. »Ungehorsam ist bei keinem Geisteskranken zu dulden. Ohne Strafe keine Heilung, nicht wahr?«

      Windt lockert den bis zum Kinn aufragenden Vatermörder etwas, um sich Luft zu verschaffen. »Was für eine Hitze. Erhielten Sie Nachrichten aus dem Fürstenhaus?«

      Ein Strahlen erfasst das Gesicht des Direktors. »Deswegen ließ ich nach Ihnen schicken! Endlich ist die Depesche der Fürstin Marie zu Wied eingetroffen. Die durchlauchtigste Familie hat unserem Angebot entsprochen.«

      »Donnerwetter«, entfährt es dem Doktor. »Das heißt, die Schwiegermutter der Fürstin Marie wird tatsächlich nach Eberbach übersiedeln. Wo wird die Dame residieren? Hat die fürstliche Familie ihre Wahl getroffen?«

      »Fürstin Marie zu Wied ließ mir mitteilen, man habe sich für den Gaisgarten als Wohnsitz der Schwiegermutter entschieden. Ein guter Ort, denke ich. Nahe genug gelegen, um die Patientin mit allem Nötigen zu versorgen, und zugleich weit genug entfernt von allen anderen Insassen. Fürstin Sophie wird mit einer Gesellschafterin ins Obergeschoss einziehen, unten wohnt ein Dienerpaar. Diese Leute habe ich bereits eingestellt.«

      »Und wann dürfen wir die Verwirrte erwarten?«

      »Heute in einer Woche, am 16. Juli. Fürstin Sophie wird direkt aus Siegburg anreisen.«

      »Weil die Kollegen der dortigen Anstalt ihr unheilbaren Wahnsinn diagnostizierten, wurde sie als Patientin aufgegeben«, bedauert Windt verständnislos. »Nun, bei Ihnen und mir wird die Fürstin in den besten Händen sein. Wir kümmern uns schließlich auch um solche Kranken, die in ihrem Wahn gefangen sind, gleichwohl aber weiterhin betreut werden müssen. Das Finanzielle ist ebenso geregelt?« Sein begieriger Blick streift den Direktor.

      »Es wird weder zu Ihrem Nachteil noch zum Schaden der Anstalt sein, wenn wir eine so hochgeborene Patientin beherbergen«, lautet Lindpaintners zufriedene Antwort. »Die Schwiegertochter hat keinen Zweifel daran gelassen, wie sehr ihr am Wohlergehen der Fürstin gelegen ist.

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