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wissen, wann sie verschwunden war. Vielleicht würde das helfen. Vielleicht wusste ja sogar jemand mehr.

      Mit diesen Gedanken machte Bren sich daran, an eine Tür nach der anderen zu klopfen. Obwohl bereits früher Abend war und die meisten Bewohner schon seit einiger Zeit Feierabend haben mussten, machte keiner auf. Entweder sie waren tatsächlich aus oder sie weigerten sich schlicht, ihre Türen zu öffnen. So oder so: Als Bren das Ende des Korridors erreicht hatte, war sie mehr als nur ein bisschen frustriert. Trotzdem machte sie weiter. Sie nahm sich ein Stockwerk nach dem anderen vor und ließ keine Tür aus.

      Die erste, die sich ihr dann öffnete, befand sich im dritten Stock. Eine dunkelhaarige Frau in mittlerem Alter sah heraus. An ihr Bein gepresst stand ein kleines Mädchen und schaute aus großen, gleichgültigen Augen zu Bren auf. Bren kannte keine der beiden.

      »Ja?«, fragte die Frau abweisend.

      »Hallo, entschuldigen Sie. Ich suche meine Schwester. Sie heißt Cay und wohnt im siebten Stock. Ein bisschen größer als ich, zierlich, blond … Sie ist nicht zu Hause und ich mache mir Sorgen. Haben Sie sich vielleicht in letzter Zeit gesehen?«

      Die Frau schüttelte den Kopf. »Ich kenne deine Schwester nicht«, meinte sie nur und betätigte den Türschalter.

      »Aber …«, begann Bren. Doch da hatte sich die Tür bereits geschlossen.

      Bren seufzte frustriert. Sie wandte sich von der Tür ab und mit grimmiger Entschlossenheit abermals den nächsten zu.

      Viel ergab ihre Suche auch in den nächsten beiden Etagen nicht. Gelegentlich öffnete jemand die Tür, aber kaum einer kannte Cay, und wer sie kannte, konnte sich nicht erinnern, ob und wann er sie zuletzt gesehen hatte. Bren wollte die Leute schütteln für so viel Gleichgültigkeit. Doch sie beherrschte sich und beschränkte sich stets auf ein verbissenes Danke, ehe sie ihren Weg fortsetzte.

      Es war die letzte Tür im sechsten Stock, die schließlich noch einmal vor ihr aufglitt.

      Aus einem kitschig eingerichteten Zimmerchen sah die alte Mape zu Bren auf und lächelte sie an. »Ah, schau, das Mädchen aus der Sieben«, sagte sie. »Besuchst uns auch wieder mal, hm? Hab dich lange nicht gesehen.« Ihr neugieriger Blick glitt an Bren hinab und nahm jeden Zentimeter genau unter die Lupe: den zerzausten Pferdeschwanz, die ehemals frischen Kleider, den gebrochenen Arm, alles.

      »Arbeit«, entgegnete Bren und zuckte die Schultern. »Haben Sie Cay gesehen? Sie ist nicht zu Hause und ich erreiche sie nicht …«

      »Cay ist weg?« Die alte Mape machte große Augen. »Armes Ding. Ich hab sie neulich noch gesehen …«

      »Was, wirklich? Hat sie gesagt, wohin sie will?«

      Mape schüttelte den Kopf: »Nein. Ich weiß nicht … nein.«

      »Wissen Sie noch, wann Sie sie gesehen haben?«

      Wieder ein Kopfschütteln. Enttäuscht ließ Bren die Schultern sinken.

      »Es ist schade um all die jungen Dinger«, fuhr Mape fort. »Verschwinden ja immer wieder welche in letzter Zeit.«

      »Was?«

      »Ja, leider. Es ist eine ganz und gar merkwürdige Sache, wirklich.«

      »Wieso hat mir davon keiner was gesagt? Ermitteln die Behörden?«

      Abermals schüttelte Mape den Kopf. »Die meisten kriegen’s gar nicht mit. In den Nachrichten hört man nichts davon und hier achtet ja niemand auf den anderen. Keiner hat Zeit. Ich wette, als du im Haus nach deiner Schwester gefragt hast, wussten die meisten nicht einmal, wer sie ist, stimmt’s?«

      Bren nickte frustriert.

      »Siehst du? Wie sollten sie da merken, dass sie weg ist? Aber es fehlen Leute. Nicht nur hier aus dem Haus, auch aus den umliegenden. Ich habe Zeit. Ich höre Dinge.«

      »Vielleicht sind die Leute einfach weggezogen? Ich meine, wer würde das nicht, wenn er es könnte, oder? Ist nicht die beste Gegend hier …«

      »Wenn du meinst«, entgegnete Mape. »Aber was ist mit deiner Schwester? Ist die auch weggezogen, hm?«

      »Nein, sie …«

      »Siehst du?«

      »Ach, verdammt! Haben Sie irgendwas gehört? Von den anderen Leuten? Wo sie sein könnten? Sind hier irgendwelche Gangs aktiv geworden oder so?«

      »Nicht, dass ich wüsste.« Mape wiegte ihr faltiges Gesicht bedächtig von einer Seite zur anderen. »Ich glaube auch nicht, dass sie beraubt wurden oder etwas in der Art, falls du das fürchtest. Nicht diese Leute. Kaum einer darunter, der der Typ für Schwierigkeiten gewesen wäre. Nenn es Intuition einer alten Frau, aber ich glaube, es geht etwas anderes vor. Etwas Fremdes. Etwas Altes. Kein Fall, den die Behörden klären könnten.«

      Darauf wusste Bren keine Antwort. Sie versuchte, ihre Enttäuschung zu verbergen. Bis zu diesem Moment hatte sie wirklich geglaubt, dass die Alte ihr weiterhelfen konnte. Dass sie etwas wusste. Und nun hatte sie mit ihren letzten Worten offenbart, dass nichts weiter in ihr vorging als die senile Paranoia einer längst in die Jahre gekommenen Frau, die hin und wieder etwas Beachtung und jemanden zum Zuhören brauchte. Einer netten Frau, keine Frage, aber das änderte nichts.

      Die alte Mape schenkte Bren ein trauriges Lächeln. »Ist ein gutes Mädchen, deine Schwester. Immer höflich. Ich hoffe, du findest sie wieder.«

      »Danke«, erwiderte Bren und rang sich ebenfalls ein Lächeln ab. »Falls Sie Cay sehen, sagen Sie ihr bitte, dass ich nach ihr suche?«

      Mape nickte, schlurfte einen Schritt zurück und schloss ihre Tür.

      Sobald die Alte fort war, drehte Bren sich um und verließ das Haus. Es war zu spät, um in dem Büro, in dem Cay aushalf, nach ihr zu fragen. Aber das Pflegeheim ein paar SUB-Stationen weiter mochte noch für Besucher geöffnet sein. Vielleicht wusste Nan etwas darüber, wo Cay abgeblieben war.

      Vor dem Eingang zum Pflegeheim hielt Bren ihr Handgelenk an den Sensor und tatsächlich glitten die Türen für sie auf. Es konnte nicht mehr lang sein, bis die Nachtruhe alle Besucher zwang, das Heim wieder zu verlassen, aber noch durfte sie rein. Und um diese Zeit waren glücklicherweise so wenige Pflegekräfte eingesetzt, dass niemand im Foyer war, der sie für den späten Besuch hätte tadeln können.

      Bren ging an den leeren Tischen und Wartebänken des Foyers vorbei zu dem Snackautomaten in einer der hinteren Ecken. Wieder ließ sie ihren ID-Chip einscannen und bezahlte damit eine kleine Tafel Schokolade. Es war kein gutes Mitbringsel. Nichts, was sie der Frau, die beinahe so etwas wie eine Mutter für Cay und sie gewesen war, unter anderen Umständen nach monatelanger Abwesenheit mitgebracht hätte. Aber es herrschten keine anderen Umstände und unter diesen war die kleine Tafel alles, was sie sich zeitlich und finanziell leisten konnte.

      Sie nahm die Schokolade, steckte sie ein und ging damit aus dem Foyer hinaus in den angrenzenden Gang. Von dort aus weiter mit dem Aufzug in den dritten Stock. Nans Zimmer befand sich auf der linken Seite. Als Bren diesmal ihr Handgelenk scannen ließ, schwang die Tür nicht direkt auf. Stattdessen wurden ihre Personaldaten im Inneren des Patientenzimmers angezeigt und Nan oder eine ihrer beiden Mitbewohnerinnen mussten entscheiden, ob sie Bren hereinließen oder nicht.

      Die Entscheidung dauerte nicht lang. Bereits nach wenigen Sekunden glitt die Tür auf und Bren schaute in Nans strahlendes Gesicht. Die anderen beiden Frauen im Hintergrund schliefen.

      Als Bren eintrat, richtete Nan sich in ihrem Bett in eine sitzende Position auf und breitete ihre Arme aus. Folgsam begab Bren sich in die Umarmung und drückte den zerbrechlichen Körper der älteren Frau vorsichtig an sich.

      »Du bist zurück, wie schön«, hauchte Nan gegen ihre Schulter. »Was ist mit deinem Arm passiert? Geht es dir gut?«

      Bren schüttelte den Kopf und löste sich behutsam aus der Umarmung. »Es ist nichts weiter. Nur ein kleiner Bruch. In ein paar Wochen bin ich wieder auf dem Damm.«

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