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ganze Weile, um von hier zur Erde und wieder zurück zu wandern. Cay würde antworten. Mit diesem Gedanken zwang Bren sich, das P-Pad auszumachen und ein wenig zu schlafen. Wenn sie nur lange genug schlief, würde beim Aufwachen sicher eine Nachricht auf sie warten.

      Bren übersprang immer mehrere Stufen auf einmal, während sie die Treppe zur Oberfläche hinaufeilte. Oben angelangt, gönnte sie sich nicht wie sonst eine Minute, um an das SUB-Zeichen gelehnt zu verweilen und den Anblick der vertrauten Stadtkulisse unter der himmelhohen Kuppel zu genießen. Stattdessen eilte sie weiter und ließ die aus der Untergrundbahn strömenden Menschenmassen rasch hinter sich.

      Im Schatten der alten Betonklötze, die Bren ihr Viertel nannte, tummelten sich noch mehr Menschen und während sich Bren sonst über die vertraute Kulisse freute, ärgerte sie sich heute nur darüber, wie viele Passanten ihr gedankenlos in den Weg trampelten. Sie musste nach Hause!

      Cay hatte sich nicht gemeldet. In der gesamten letzten Woche kein Wort, kein Ton von ihr. Irgendetwas stimmte nicht. Ihre kleine Schwester war vielleicht in Schwierigkeiten, hatte schrecklichen Liebeskummer oder sonst etwas und Bren war nicht da. Das durfte nicht sein.

      Also drängte sie sich an Leuten vorbei, stieß sie zur Seite, ignorierte böse Blicke und garstige Kommentare, während sie auf den Eingang ihres Wohnblocks zusteuerte. Es war ein uralter Betonklotz, rissig, mit doppelt verglasten Fenstern in brüchigen Plastikrahmen und einem Skelett aus Stahlstreben, zusammengehalten nur noch von verblassten Graffiti, klebrigem Müll und dem Starrsinn des Denkmalschutzes. Aber er stand noch. Bren lief schneller.

      Endlich gelangte sie zur Tür. Sie kickte einen leeren Instant-Food-Container beiseite, dann hielt sie – so gut der Verband um den gebrochenen Arm es zuließ – ihr Handgelenk an den Sensor. Das Gerät erfasste ihren ID-Chip, erkannte sie als Bren und ließ sie ein.

      Drinnen war es menschenleer. Erleichtert, nun endlich ungestört voranzukommen, spurtete Bren den Korridor entlang, vorbei an dem seit Monaten blockierten Fahrstuhl, und die sieben Treppen hinauf zu ihrer Wohnung. Sie keuchte, als sie die oberste Stufe erklomm, und krampfte die unverletzte Hand um ihre Tasche, die ihr längst zu schwer geworden war. Trotzdem hielt sie nicht inne. Sie rannte zur dritten Tür, ließ abermals ihren ID-Chip scannen und stürzte in die Wohnung.

      Es sah alles aus wie immer. Brens Bett war noch so ordentlich gemacht wie bei ihrer Abreise. Nur ein paar Klamotten hatten sich inzwischen darauf angesammelt. Cays Bett auf der anderen Seite war zerwühlt und sah aus, als wäre es vor Kurzem erst verlassen worden. Einer der Sessel war nah ans Fenster gerückt und etwas Geschirr stand auf der Fensterbank. Daneben lag Cays Personal-Pad. Keine Geräusche aus der Kochnische oder dem Bad.

      »Cay?«

      Keine Antwort.

      Bren ging zum Fenster und betätigte den Start-Button des verwaisten P-Pads. Der Bildschirm erwachte flackernd zum Leben und zeigte neben dem tadelnden Akku-leer-Symbol die übliche Aufforderung, für weiteren Zugriff den ID-Chip vor den Scanner zu halten. Links oben war das Datum eingeblendet: 8. Mai 2320. Rechts daneben zeigte ein kleiner Briefumschlag an, dass es einundzwanzig neue Nachrichten zu lesen gab. Sonst war da nichts. Kein Eingabefeld, keine Abwesenheitsnotiz. Nichts.

      Mit einem frustrierten Knurren schaltete Bren das P-Pad aus, warf ihre Tasche auf den Boden und schaute sich im Rest der Wohnung um. Aber auch hier nirgendwo eine Nachricht. Das wenige Essen im Kühlschrank war noch gut, kein Schimmel auf dem benutzt zurückgelassenen Geschirr. So lange konnte Cay noch nicht weg sein. Wäre da nicht die wochenlange Funkstille gewesen, Bren hätte geglaubt, Cay wäre an diesem Tag einfach nur überhastet zur Arbeit aufgebrochen und hätte ihr P-Pad in der Wohnung vergessen. Aber so? Sie musste sie suchen.

      Nate!, war das Erste, was Bren in den Sinn kam. Ohne sich noch einmal umzusehen verließ sie die Wohnung, eilte die Treppen hinab ins Erdgeschoss, rannte über den Flur und klopfte an die Tür an seinem Ende.

      »Nate!«, rief sie, während sich ihr Klopfen in kräftige Faustschläge verwandelte. »Nate! Lass mich rein, verdammt!«

      Die Tür ging auf und der hochgewachsene, drahtige Dealer, der dahinter zum Vorschein kam, bedachte Bren mit einem amüsierten Lächeln. »Ah, Madame Wachhund, so früh wieder zurück? Ich dachte, wir würden noch etwas länger von dir verschont bleiben.«

      »Wo ist Cay?« Bren machte einen ungeduldigen Schritt auf ihn zu, sodass sie nun beinahe Brust an Brust standen.

      »Wenn du es nicht weißt …«, brummte Nate von oben herab.

      »Lass die Spielchen! Ist sie bei dir?«

      »Wonach sieht’s denn aus?«

      Damit trat er einen Schritt beiseite und verschaffte Bren freie Sicht auf seine alte Schlafcouch, den niedrigen Tisch, auf dem sich dreckiges Geschirr stapelte, die riesige Leinwand, die die ganze rechte Zimmerseite einnahm und die Berge von Kisten und anderen Behältnissen in den Zimmerecken, um deren Inhalt Bren sich lieber keine Gedanken machen wollte. Cay war nirgendwo zu sehen.

      »Okay, sie ist nicht hier«, räumte sie ein und richtete ihre Augen wieder auf Nate. »Aber hast du sie gesehen? Habt ihr wieder was miteinander?«

      Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich wüsste echt nicht, was dich das anginge.«

      »Nate, verdammt, das ist kein Spiel! Wir reden hier von Cay! Sie ist weg und ich muss wissen, wo sie ist, hörst du?«

      »Ja, ich höre.« Nate breitete seine Arme in einer beschwichtigenden Geste aus. »Und ich denke, du solltest erst mal wieder runterkommen. Ich weiß nicht, ob du es da oben auf dem Titan mitbekommen hast …«

      »Mars, du Supergenie! Eins ist ein Mond, das andere ein Planet.«

      »Was auch immer … Ich weiß nicht, ob du es mitbekommen hast, aber Cay ist sechzehn geworden, während du unterwegs warst. Sie ist jetzt erwachsen, Madame Wachhund. Volljährig. Genau wie du und ich. Und nebenbei bemerkt kaum ein Jahr jünger als du, oder? Du solltest vielleicht aufhören, dich wie ihre Mutter aufzuführen, und anfangen, zu akzeptieren, dass Cay ihr eigenes Leben lebt und dabei weder dir noch mir noch sonst wem Rechenschaft schuldig ist. Sie ist weg? Okay, ihr Ding. Sie taucht schon wieder auf.«

      Bren starrte Nate unverändert an. Wieder machte sie einen Schritt auf ihn zu, drang bewusst in seine persönliche Sphäre ein. »Es geht hier nicht um Rechenschaft. Es geht um die Frage, ob es ihr gut geht. Sie ist noch nie abgehauen, ohne sich zu melden. Ist etwas passiert? Nimmt sie irgendwas? Hast du ihr was gegeben? Habt ihr wieder mal Schluss gemacht?«

      »Das geht dich …«

      »Verdammt! Nate, bitte!«

      Er seufzte und schüttelte den Kopf. Dann sah er sie frustriert an. »Meinst du wirklich, ihr ist etwas passiert?«

      »Ja! Nein. Ich weiß es nicht. Genau deshalb muss ich sie finden. Nate, bitte!«

      »Sie war nicht hier«, gab er endlich zu. »Sie will nichts mehr von mir wissen, wie du dich vielleicht erinnerst. Daran hat sich nichts geändert. Ich hab keine Ahnung, wo sie ist, ehrlich.«

      Bren meinte, Bedauern aus seiner Stimme herauszuhören, und ihr Beschützerinstinkt drängte sie, ihm noch einmal einzubläuen, dass er sich von ihrer Schwester fernhalten sollte. Aber das hier war definitiv nicht der richtige Moment dafür.

      » Ich danke dir«, rang sie sich stattdessen ab. »Falls sie auftaucht, sag mir bitte Bescheid, ja?«

      »Wenn Cay es so will, sicher.«

      »Nicht nur … Ach, was auch immer.« Sie drehte sich auf dem Absatz um und verschwand aus Nates Wohnung. »Man sieht sich.«

      »Nur, falls ich es nicht vermeiden kann«, nuschelte Nate, bevor er die Tür hinter ihr ins Schloss gleiten ließ.

      Bren blieb allein auf dem Korridor zurück. Sie sah zu den Reihen verschlossener Türen, die sich zu beiden Seiten den Gang hinunter zogen. Das hier war sicher nicht die liebenswerteste oder aufmerksamste Nachbarschaft,

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