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Kindertränen weggeküsst, doch sie wollte Tanja nicht erschrecken.

      »Mein Vati ist nicht tot!«, behauptete Torsten jetzt in wilder Verzweiflung. »Er kommt wieder, und dann schimpft er mit diesen dummen Leuten vom Flughafen.« Doch seine Stimme hatte keine Festigkeit mehr. Auch er hatte inzwischen eingesehen, dass es keinen Sinn hatte, sich gegen das unerbittliche Schicksal aufzulehnen. Er wusste, dass er Denise von Schoenecker vertrauen konnte. Sie belog ihn nicht. Also war alles schreckliche, grausame Wahrheit. Sein Widerstand fiel in sich zusammen. Er ließ das Köpfchen sinken und weinte plötzlich hemmungslos.

      Mütterlich streichelte Denise das Kind und zog es tröstend in die Arme. Heiße Tränen benetzten ihre Hände. Zitternde kleine Körper übertrugen den ganzen Jammer dieses Tages auf sie. Jetzt füllten sich auch ihre dunklen Augen mit Tränen. Was hätte sie darum gegeben, wenn sie den Geschwistern den schlimmsten Kummer, den es für Kinder geben konnte, hätte ersparen können. Doch sie konnte nur trösten und versuchen, den Kleinen ihr schweres Los etwas zu erleichtern.

      »Warum …«, schluchzte der Junge, »… warum dürfen Mami und Vati nicht zurückkommen? Warum behält sie der liebe Gott bei sich?«

      Das war die Frage, auf die auch Denise keine Antwort wusste. Die Frage, vor der sie sich gefürchtet hatte.

      »Ich weiß es nicht«, gestand sie offen und ehrlich. »Wir müssen uns damit abfinden, müssen weiterleben. Auch ich habe einmal einen Menschen verloren, den ich sehr lieb hatte.«

      Denise dachte an jene schlimme Zeit, da sie ihren ersten Mann durch einen Unfall verloren hatte. Kurz danach war Nick zur Welt gekommen, und zum Leid waren auch noch drückende finanzielle Sorgen gekommen. Sie hatte arbeiten müssen, bis Nick von seiner Urgroßmama Sophienlust und ein beträchtliches Vermögen geerbt hatte.

      »Hast du ihn wiedergefunden?«, wisperte Tanja und wischte sich mit beiden Händchen im Gesicht herum.

      »Nein. Aber ich habe einen anderen Menschen gefunden, der gut zu mir war, und der mir vergessen half.«

      »Wir wollen aber niemand anders. Nur unsere Mutti und unseren Vati«, erklärte Torsten weinend und schnupfte laut. Die Tränen zogen schmutzige Spuren über sein hübsches Gesichtchen. Seine Mundwinkel waren traurig nach unten gezogen. Alles Leid dieser Welt schien sich in den hellen Kinderaugen widerzuspiegeln.

      Denise von Schoenecker musste fest die Lippen aufeinanderpressen, um nicht selbst die Beherrschung zu verlieren, so herzergreifend war der Jammer der beiden Kinder.

      Tanjas Atem ging hart und laut. »Dürfen …,?dürfen wir jetzt nie mehr nach Hause?«, fragte sie schluchzend und griff mit der freien Hand nach den Fingern des Bruders.

      »Ihr dürft nach Hause, aber ihr könnt nicht allein dort leben. Deshalb ist es besser, wenn ihr vorerst bei uns bleibt.«

      »In Sophienlust?« Torsten sah alles ganz verschwommen.

      »Wollt ihr nicht?« Besorgt streichelte Denise ihre kleinen Schutzbefohlenen.

      »O doch!« Torsten schlang seine kurzen Ärmchen um Denises Oberkörper und schmiegte sein tränennasses Gesichtchen an die hübsche Wildlederjacke.

      Tanja wollte auf keinen Fall zurückstehen und eroberte ebenfalls einen Platz ganz nahe bei Denise.

      Die mütterliche verständnisvolle Frau ließ die Kinder gewähren. Sie ließ ihnen Zeit, sich auszuweinen. Leise und beruhigend sprach sie auf die Kleinen ein und strich ihnen zärtlich über die heißen Gesichtchen.

      Tanja und Torsten hatten die Eltern verloren, aber sie sollten niemals das Gefühl haben, allein auf der Welt zu sein. Dafür wollte Denise von Schoenecker sorgen.

      *

      Das Mittagessen war ausgezeichnet. Trotzdem wurden die hübsch angerichteten Platten nicht leer. Die Kinder von Sophienlust hatten an diesem Tag keinen Appetit. Sogar der leckere Nachtisch, mit dem sich die Köchin Magda ganz besondere Mühe gegeben hatte, blieb stehen.

      Immer wieder steckten die Buben und Mädchen die Köpfe zusammen und unterhielten sich leise über das schreckliche Unglück, das Tanja und Torsten das Liebste genommen hatte, das sie besaßen.

      Heidi, das jüngste der Sophienluster Kinder, lauschte aufmerksam den Berichten der Großen. Auch sie war Waise, doch sie litt nicht darunter. In Sophienlust hatte sie eine neue Heimat gefunden. Hier schenkte man ihr Liebe und Geborgenheit. Hier, im Kreis der großen fröhlichen Familie, wuchs sie unbeschwert und glücklich auf.

      »Ich schenke Tanja meine neue Puppe, damit sie nicht mehr traurig ist. Und Torsten bekommt mein schönstes Bilderbuch.«

      Heidi musste fast schreien, um sich Gehör zu verschaffen.

      »Von mir bekommen Tanja und Torsten eine Tafel Schokolade«, erklärte Fabian, ohne zu bedenken, dass ihm seine Großzügigkeit schwerfallen würde, denn Schokolade aß er furchtbar gern.

      Nick sah seine Freunde der Reihe nach an. »Heidi hat recht«, meinte er voll Anerkennung. »Wir sollten Tanja und Torsten alle eine kleine Freude machen, damit sie sehen, dass wir zu ihnen halten.«

      »Ja. Ich werde ihnen Märchen vorlesen«, versprach Irmela in ihrer besonnenen Art.

      »Und ich schenke ihnen das lustige Kartenspiel, das ich zum Geburtstag bekommen habe.« Angelikas Augen glänzten vor Begeisterung.

      Jetzt schwirrten die Vorschläge nur so durcheinander. Jedes Kind wollte sein Bestes geben, um den Kummer der Ertel-Geschwister zu lindern.

      »Glaubst du, Tante Isi erlaubt, dass ich Tanja und Torsten ein kleines Tier schenke? Drüben im Tierheim gibt es junge Häschen und junge Meerschweinchen.«

      Nick, der von Pünktchen etwas unsanft in die Seite gestoßen worden war, winkte überlegen ab. »Ich weiß etwas Besseres.«

      »So?« Pünktchen tat beleidigt.

      »Wir lassen Tanja und Torsten auf den Ponys reiten. Du wirst sehen, das gibt einen Riesenspaß.«

      »Hm«, machte Pünktchen. Sie ärgerte sich ein wenig, dass ihr dieser Gedanke nicht selbst gekommen war. »Und wohin?«

      »Das dürfen Tanja und Torsten selbst bestimmen.«

      »Und wann?«

      »Gleich nachher.«

      »Hast du keine Hausaufgaben?«

      Nick zog ein Gesicht, als habe er Essig getrunken. Er verdrehte die Augen und sah beschwörend zur Decke. »Warum musst du mich daran erinnern?«

      »Weil wir erst dann weggehen dürfen, wenn wir die Aufgaben gemacht haben.«

      Pünktchen streckte das Näschen mit den vielen Sommersprossen in die Luft.

      Schon oft hatte Nick den Pflichteifer des kleinen Mädchens heimlich bewundert. Er tat es auch jetzt. Deshalb lenkte er rasch ein. »Wenn wir uns beeilen, sind wir in einer Stunde fertig. Du kommst doch mit?«

      Es war ein werbender Unterton in der rauen Bubenstimme. Ein Ton, dem sich Pünktchen nicht verschließen konnte. Sie hatte ja eine Schwäche für den hübschen dunkelhaarigen Jungen. Doch das sollte niemand wissen, am wenigsten Nick selbst.

      »Wenn du meinst …«

      »Natürlich. Ich brauche dich. Du führst Tanjas Pony, und ich das von Torsten.«

      Pünktchen nickte versöhnt. Flink sah sie sich um. Die Kameraden ringsum unterhielten sich so eifrig, dass wohl keiner das Gespräch belauscht hatte. Das war ihr ganz recht.

      »Wollen wir es den beiden gleich sagen?«, tuschelte sie.

      »Mutti sagt, die beiden schlafen.«

      »Glaube ich nicht.«

      In diesem Augenblick hob Schwester Regine, eine ausgebildete Kindergärtnerin, die Tafel auf. Die Kinder strömten eilig in die Halle hinaus. Alle hatten sie sich etwas vorgenommen. Deshalb fiel nicht auf, dass Nick und Pünktchen ins Obergeschoss liefen.

      Torsten

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