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      Anita unternahm ein paar vergebliche Wiederbelebungsversuche. Da der Junge leise atmete, brauchte sie keine Mund-zu-Mund-Beatmung durchzuführen. So eilte sie zur nahe gelegenen Autobahn und erreichte durch heftiges Winken, dass ein junger Mann in einem schweren Wagen anhielt, um sie zu fragen, was es gebe.

      Anita erteilte atemlos Auskunft. »Hier ist weit und breit kein Telefon. Ich habe einen Buben gefunden. Er muss schnell in ärztliche Behandlung. Aber auf dem Fahrrad kann ich ihn nicht transportieren.«

      »Ich bin auf dem Weg nach Heidelberg. Ich kann Sie und den Jungen mitnehmen.«

      »Nein, nein, ich muss zum Dienst ins Altenheim. Ich kam durch das Waldstück wie jeden Morgen und fand den Jungen. Könnten Sie ihn mitnehmen?«

      »Nun ja – wenn Sie meinen?« Der Textilkaufmann Hanno Kellmann hatte es ziemlich eilig, aber er wollte auch seine Hilfe nicht versagen. Er ging mit Anita in den Wald und trug den Jungen auf seinen starken Armen zum Auto. Die Schwester entkleidete das Kind und wickelte es fest in die warme Wolldecke, die Hanno Kellmann bei sich hatte.

      »Ich hätte etwas zu trinken dabei«, erbot sich der Kaufmann.

      »Nein, das wäre lebensgefährlich, weil er bewusstlos ist«, sagte die erfahrene Schwester erschrocken. »Tun Sie gar nichts! Bringen Sie ihn so schnell wie möglich zu einem Arzt oder besser gleich in ein Krankenhaus.« Sie schrieb ihren Namen und die Adresse des Altenheims auf einen Zettel, den er ihr gab. »So, falls jemand Rückfragen hat«, meinte sie.

      Hanno Kellmann nickte der jungen Schwester zu. »Sie sind ein patentes Mädchen. Ich werde Sie anrufen, damit Sie erfahren, was aus dem Jungen geworden ist«, versprach er.

      Hanno Kellmann kehrte zu seinem Wagen zurück, überzeugte sich noch einmal, dass der Junge sicher untergebracht war, und fuhr weiter. Er erreichte Heidelberg nach nicht allzu langer Fahrt und lieferte seinen Findling in der Universitätsklinik ab, wo man seine und Schwester Anitas Personalien notierte, sich aber in erster Linie des in Gefahr schwebenden Jungen annahm.

      »Unterkühlung, beginnende Lungenentzündung. Es sieht nicht gut aus«, sagte ein Assistenzarzt in der Ambulanz und wies das Kind zunächst einmal ohne weitere Verzögerung in die Intensivstation ein.

      Hanno Kellmann verabschiedete sich, während die Ärzte in der Intensivstation den Wettlauf mit Krankheit und Tod begannen. Kreislaufmittel, Erwärmung, künstliche Ernährung, Medikamente gegen die Entzündung der Luftwege. Es geschah alles, um das aufgefundene Kind zu retten, das jedoch zunächst das Bewusstsein nicht wiedererlangte und deshalb auch nicht nach seinem Namen gefragt werden konnte.

      Am Nachmittag rief Hanno Kellmann an, um sich zu erkundigen, wie es dem Kind gehe. Man konnte ihm jedoch noch nichts Genaues sagen. Trotzdem wählte er anschließend die Nummer des Altenheims, in dem Anita tätig war, und wartete geduldig, bis er ihre Stimme hörte.

      »Der Bub ist in der Uni-Klinik. Aber noch ist er ohnmächtig, Schwester Anita. Wie ist es, treffen wir uns nachher irgendwo? Ich muss dieselbe Strecke zurückfahren. Und Ihr Dienst ist doch sicherlich jetzt auch bald zu Ende. Oder?«

      »Warum nicht? Aber ich habe nicht sehr viel Zeit.«

      »Ist auch nicht nötig«, sagte Hanno Kellmann lachend. »Ich will Ihnen nur in aller Ruhe und Ausführlichkeit berichten, wie ich unseren Patienten abgeliefert habe und was getan worden ist.«

      »Ja, das möchte ich auch wirklich ganz genau erfahren«, gab Anita fröhlich zurück.

      *

      Am Montagabend fuhr Helmut Koster traurig und ohne jede Hoffnung nach Bachenau zurück. Andrea von Lehn empfing ihn, und Marianne hatte natürlich etwas zu essen für ihn bereit. Doch er trank nur etwas Kaffee und zog sich dann gleich ins Tierheim zurück, wo Andrea mit Unterstützung ihres Mannes die Tiere gefüttert und versorgt hatte.

      In Sophienlust war das Leben weitergegangen, aber die Kinder lachten nicht so fröhlich wie sonst. Alle sorgten sich um Wanja, den sie herzlich lieb gewonnen hatten.

      Denise von Schoenecker hatte in der Nacht keinen Schlaf gefunden und konnte nichts essen. Vergeblich bemühte sich ihr Mann sie etwas abzulenken. Sie konnte an nichts anderes denken.

      In Schoeneich war der runde Tisch zwar einladend gedeckt, aber selbst Nick und Henrik stocherten nur auf ihren Tellern herum und hatten ernste, betrübte Gesichter.

      »Dass man gar nichts machen kann … Vielleicht ist er gar nicht weit gekommen und hat sich in unseren Wäldern verirrt«, meinte Nick sorgenvoll.

      »Aber Wanja ist mit seinen sieben Jahren sehr aufgeweckt. Ich bin völlig sicher, dass er weit marschiert ist und sich vielleicht sogar von einem Wagen hat mitnehmen lassen«, erwiderte sein Vater. »Die Polizei und die Forstleute haben außerdem überall gesucht. Andrea hat auch Munko losgeschickt.«

      »Munko hätte Wanja sicher gefunden«, sagte Henrik eifrig. »Wanja ist so oft bei Andrea im Tierheim gewesen, dass der kleine Munko ihn genau kennt. Aber wenn der arme Wanja nicht in der Nähe ist, kann nicht einmal Munko ihn aufspüren, auch wenn seine Nase noch so gut ist.«

      Ja, es war alles nur Erdenkliche unternommen worden. Andrea hatte Munko, den ehemaligen Polizeihund, an einem Kleidungsstück von Wanja die Witterung aufnehmen lassen und ihn auf die Suche geschickt. Doch der Hund war wiedergekommen, ohne den Jungen gefunden zu haben. Der Förster und die Polizeibeamten hatten gemeint, dass der Regen zu stark gewesen sei. Dadurch hatte Munko die Spur nicht richtig aufnehmen können.

      »Bis jetzt ist noch jedes Kind wiedergefunden worden«, bemühte sich Nick, die allzu mutlose Stimmung aufzumuntern. »Es darf einfach nichts passiert sein.«

      »Das sagt man so und wünscht man sich«, seufzte seine Mutter. »Gerade am Samstag war ich nicht in Sophienlust. Schwester Regine erzählte mir, dass Wanja beim Gute-Nacht-Sagen nach mir gefragt habe. Möglicherweise hätte er mir anvertraut, was ihn bedrückt. Immer wieder fragte ich mich, ob man das Ganze hätte verhindern können.«

      »Du kannst nicht Tag und Nacht in Sophienlust sein, Denise. Möglicherweise hätte Wanja dir auch nicht verraten, dass er im Begriff stand, eine Riesendummheit zu machen. Im Gegenteil, er wollte sich vielleicht nur vergewissern, dass er dir nicht begegnen kann.« Alexander legte die Hand tröstend auf den Unterarm seiner Frau.

      »Mag sein, dass du recht hast. Aber man sucht natürlich die Schuld bei sich. Was mich am meisten bedrückt, ist die Angst, in der der arme Junge jetzt wahrscheinlich lebt. Mitten im Wald, zwischen Feldern und Wiesen, steht natürlich nicht gerade ein Polizist da, den Wanja um Hilfe bitten könnte.«

      Draußen fuhr ein Wagen vor. Nick stand auf, um nachzusehen, wer gekommen sei.

      »Hoffentlich keine Gäste. Danach ist mir jetzt nicht zumute«, äußerte Denise unsicher.

      »Es ist Hans-Joachims Wagen«, berichtete Nick von der Tür her. »Andrea und Hans-Joachim sind es.«

      Die Familie war froh, einen Grund zu haben, das restliche Essen stehen zu lassen. Denise umarmte Andrea. Die Begrüßung war stumm, aber herzlich.

      »Wir mussten noch einmal zu euch kommen«, sagte Hans-Joachim, als man sich vor dem Kamin in die tiefen Sessel setzte. »Andrea sorgt sich sehr.«

      »Helmut Koster hatte uns in aller Ausführlichkeit berichtet, wie es bei den Zirkusleuten war. Gregor Ramoni hat die Nachricht sehr gefasst aufgenommen, aber Natascha Ramoni ist völlig verzweifelt. Sie hängt sehr an Wanja.«

      Denise hob den Kopf. »Ich hatte gedacht, dass Helmut Koster und die hübsche Tochter des Zirkusdirektors sich recht gut verstehen«, versetzte sie leise.

      »Das sah wohl auch so aus. Aber nun machte Natascha dem armen Helmut Koster sozusagen einen persönlichen Vorwurf daraus, dass Wanja fortgelaufen ist. Wir sind zu Helmut in seine kleine Wohnung hinübergegangen, weil er mit keinem Menschen mehr reden wollte. Aber schließlich wollten wir doch Genaueres hören. Da hat er sich dann seinen ganzen Kummer von der Seele geredet.« Andrea seufzte.

      »Es sieht so aus, als wäre Helmut nicht gern zu uns zurückgekommen«,

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