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schön wie daheim in unserem Zirkus ist es trotzdem nicht. Es gibt Tiere in Sophienlust und hier bei dir im Tierheim, aber das Leben ist eben anders. Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll, Helmut. Vielleicht verstehst du es nicht.«

      Helmut Koster fuhr mit der Hand durch das helle Haar des Buben, und dieser ließ es widerwillig geschehen, wenn auch mit trotzigem, verschlossenem Gesicht.

      »Ich will ganz ehrlich sein, Wanja. Es ist vielleicht besser, wenn du mit dem ersten Besuch beim Großvater noch ein bisschen wartest. Ich habe Sorge gehabt, dass du nicht mehr hättest zurückkommen wollen. Und das hätte mir leidgetan.«

      Wanja zuckte die Schultern und schob die Unterlippe vor. Unsicher schaute er Helmut an. »Na ja – wenn ich bei Großvater bleiben will, dann bleibe ich eben bei ihm. Er hat mir versprochen, dass ich zurückkommen darf, wenn ich möchte.«

      Helmut zog Wanja an sich. »Siehst du, es war sicherlich besser, dass du nichts davon gewusst hast.«

      »Ist es denn wirklich zu weit, um mit dem Fahrrad hinzufahren?«, erkundigte sich der Junge mit wacher Aufmerksamkeit.

      »Es ist viel zu weit«, erwiderte Helmut mit fester Stimme. »Schlag dir solche Gedanken lieber aus dem Kopf.«

      »Erzähl mir mehr von Großvater«, lenkte Wanja rasch auf ein anderes Thema über.

      Helmut Koster bemühte sich, recht viel vom Zirkusleben zu erzählen, ohne die Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen des Jungen allzu sehr anzuheizen.

      »Werden sie mich einmal besuchen?«, wollte Wanja dann wissen, als wirklich nichts mehr zu fragen war.

      »Wir haben nicht ausdrücklich davon gesprochen. Aber sie haben in nächster Zeit allerlei Kontrakte. Hier ist der Plan. Wenn ich mir ihn anschaue, meine ich, es bleibt keine Zeit für einen Abstecher nach Sophienlust. Ohne deinen Großvater ist keine einzige Vorstellung möglich.«

      »Das stimmt genau. Ohne Großvater ist die Vorstellung unmöglich. Er kündigt die großen Nummern an, er führt die Ponys vor, er achtet auf die Musik, und er passt die ganze Zeit auf, dass alles klappt und nichts vergessen wird. Er ist der wichtigste Mann im ganzen Zirkus.«

      »Siehst du! Deshalb glaube ich, dass er dich erst ein bisschen später besuchen kann. Du musst Geduld haben, Wanja. Auch die längste Wartezeit geht einmal vorüber.«

      »Ich mag aber keine Geduld haben und auch nicht warten«, schalt Wanja.

      An diesem Nachmittag gelang es Helmut nicht, das bisher so schöne Vertrauensverhältnis zwischen sich und dem Jungen wiederherzustellen. Gegen halb sechs bestieg Wanja dann sein Fahrrad, um nach Sophienlust zurückzufahren.

      »Mach’s gut, Wanja. Kommst du mich morgen auch besuchen?«, fragte Helmut zum Abschied.

      »Weiß noch nicht«, antwortete Wanja mürrisch.

      Mit dem hab ich’s verschüttet, dachte Helmut. Aber er wird es mir schon verzeihen. Er muss doch wissen, wie gern ich ihn habe. Schule ist nun einmal Schule. Außerdem hätte ich mich mit Natascha nicht in Ruhe unterhalten können, wenn ich ihn mitgenommen hätte. Aber das kann er natürlich nicht verstehen.

      *

      Der kleine Wanja hatte jedoch seinen eigenen Plan. Von Helmut Koster hatte er erfahren, dass der Zirkus noch bis zum Montag am gleichen Ort bleiben würde. Sein Entschluss, den Großvater auf eigene Faust zu besuchen, stand fest.

      Wanja überlegte, dass er es schlau anfangen müsse, wenn es nicht gleich auffallen sollte. Auf keinen Fall durfte er beim Abendessen fehlen. Aber in der Nacht, wenn alle schliefen, würde er sich hinausschleichen und das Fahrrad nehmen. So schrecklich weit konnte es doch nicht sein.

      Als Wanja Sophienlust erreichte, stellte er das Fahrrad nicht zu den anderen in den abschließbaren Raum im Erdgeschoss, sondern lehnte es gegen die Hausmauer.

      Beim Abendessen war er schweigsam und hatte keinen Hunger. Frau Rennert fragte ihn besorgt, ob er sich nicht wohlfühle.

      »Habe bei Tante Andrea etwas gekriegt«, log Wanja. »Jetzt bin ich einfach schon satt.« Er hatte freilich ein schlechtes Gewissen dabei, doch die Sehnsucht nach dem Großvater, nach Natascha und dem Zirkus war stärker. Gemeinsam mit Fabian ging er um sieben Uhr wie immer unter die Dusche. Nach acht wurden dann die Lampen in den Zimmern der kleineren Jungen und Mädchen gelöscht.

      »Schlaf gut«, wünschte Schwester Regine herzlich.

      »Ist Tante Isi heute nicht da?«, fragte Wanja.

      »Nein, sie ist mit ihrer Familie in Schoeneich, weil sie Gäste hat. Möchtest du etwas Besonderes von ihr? Soll ich sie anrufen?«, erbot sich die Kinderschwester.

      »Nein, es ist nicht wichtig. Ich wollte bloß wissen, ob sie hier ist.«

      »Na, du siehst sie sicherlich morgen, am Sonntag. Im Laufe des Tages kommt sie bestimmt einmal nach Sophienlust.«

      »Ja, Schwester Regine. Gute Nacht. Ich bin sehr müde.« Wanja gähnte ein herzhaftes Theatergähnen, von dem die Kinderschwester sich auch tatsächlich täuschen ließ. In Wahrheit aber war Wanja hellwach. Er fühlte eine gewisse Erleichterung, dass Tante Isi nicht in unmittelbarer Nähe war. Ihr gegenüber war ihm das, was er vorhatte, nämlich trotz allem peinlich.

      Geduldig wartete der Junge, bis auch die größeren Kinder zu Bett gegangen waren und es still wurde im Haus. Seine Aufregung sorgte dafür, dass er nicht müde wurde und nicht einschlief.

      Es war gegen elf Uhr, als er sich lautlos aus seinem Bett erhob und die sorgsam zurechtgelegten Sonntagssachen anzog. Darüber kam dann auch noch sein Lodenmantel, weil er sich sagte, dass es in der Nacht kalt werden könnte. Gern hätte er auch ein bisschen Proviant gehabt, aber es war leider keine Möglichkeit gewesen, vom Abendessen etwas aufzuheben.

      Wanja huschte durch den Gang und gelangte unbemerkt die Treppe hinab. In der großen Halle brannte nur noch die Nachtbeleuchtung.

      Die erste Schwierigkeit ergab sich, als Wanja das Fahrrad holen wollte. Es war nicht mehr da. Offenbar hatte es die anderen Kinder gefunden und eingeschlossen.

      Das war nun nicht mehr zu ändern. Wanja blieb nichts anderes übrig, als seine Wanderung auf Schusters Rappen anzutreten.

      »Macht nichts«, flüsterte er, sich selber ermutigend. »Man kann auch zu Fuß gehen. Die Lampe am Rad war sowieso nicht in Ordnung.«

      Wanja machte sich auf den Weg. Bachenau, Maibach und dann immer weiter in Richtung Autobahn. So hatte Helmut Koster ihm den Weg geschildert, ohne zu ahnen, welche Absicht Wanja hatte.

      Der Himmel war dunkel. Wolkenfetzen verhüllten ab und zu den Mond. Hin und wieder hatte Wanja dadurch Mühe, den Weg zu finden. Zurück gehe ich nicht mehr, sagte er sich jedoch trotzig. Jetzt nicht mehr! Ich will zu Großvater und Natascha.

      *

      Magda, die beste Köchin der Welt, erschien als Erste am Sonntagmorgen. Als sie das Portal aufschließen wollte, vermisste sie den Schlüssel. Sie holte den zweiten aus dem Büro, sah draußen die schief liegende Matte und entdeckte den anderen Schlüssel darunter. Dass hier etwas nicht stimmte, war ihr sofort klar.

      Die Köchin eilte zum Zimmer von Frau Rennert und klopfte an. Die gute Tante Ma hatte sich eben angekleidet. Es war schließlich erst sieben Uhr, und das an einem Sonntag.

      »Jemand ist aus dem Haus gegangen. Hoffentlich keines der Kinder«, meldete Magda besorgt.

      »Du meine Güte! Wer denkt denn auch an so etwas? Man hört die Kinder schon. Wir wollen gleich einmal nachsehen, ob ein Kind fehlt.«

      Nun, es stellte sich sehr rasch heraus, dass es Wanja war, den keiner finden konnte.

      »Er hatte sein Fahrrad wegzustellen vergessen«, erinnerte sich Vicky. »Ich habe es eingeschlossen. Vielleicht ist er hinausgegangen, weil ihm das eingefallen ist.«

      »Das Fahrrad? Wo stand es denn?«

      »An der Mauer. Er kam doch am Abend von Bachenau zurück. Na ja, und da hat er es eben nicht

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