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langen Abschied gab es nicht.

      »Wir schreiben dir immer, wo wir sind«, wiederholte Ramoni sein Versprechen. »Wenn wir nicht zu weit entfernt sein sollten, werden wir dich natürlich auch besuchen. Sei ein guter Junge und mache dem Namen Ragell Ehre, Wanja.«

      Wanja umarmte den alten Herrn und gab Natascha einen schallenden Kuss auf die Wange. Dann stieg er in den roten Bus mit der schönen Aufschrift »Kinderheim Sophienlust« ein.

      »Jetzt gehörst du schon zu uns«, sagte Nick feierlich. »Hier, du darfst neben Angelika auf der vorderen Bank sitzen. Da ist die beste Aussicht. Neben dem Chauffeur darf nämlich keiner sitzen. Das ist nicht erlaubt.«

      »Ist klar«, meinte Wanja. »Grüß euch alle miteinander. Wenn ich’s mir richtig überlege, freut’s mich jetzt, dass ich mit euch fahren kann.«

      »Wir freuen uns auch«, erklärte Irmela lächelnd. »Weißt du, du wirst ja sonst nicht mit uns fahren, sondern mit dem anderen Bus nach Wildmoos zur Grundschule.«

      »Das ist aber so ein Bus wie dieser, nicht wahr?«, vergewisserte sich Wanja und winkte Natascha und Gregor Ramoni ein letztes Mal zu.

      »Ja, ganz genauso. Es steht Kinderheim Sophienlust darauf, damit die Leute wissen, woher wir kommen. Aber das kannst du natürlich noch nicht lesen.«

      »Wenn ich es weiß, kann ich es auch lesen«, behauptete Wanja spitzbübisch. »Ein paar Wörter kann ich sowieso schon. Zum Beispiel Zirkus Ramoni, Löwe, ausverkauft oder Freikarte.«

      »Das ist schon ziemlich viel«, staunte Nick überrascht.

      »Es steht doch auf unseren Plakaten. Ich schau immer zu, wenn sie gemalt werden. Wenn es regnet, verlaufen sie meistens. Dann müssen sie neu gemacht werden. Inzwischen könnte ich sie auch schon malen, bloß vielleicht nicht so schön.«

      »Gehst du manchmal zu den Löwen?«, erkundigte sich Angelika etwas ängstlich. »Ich meine, richtig in den Käfig, sodass sie dich auffressen könnten?«

      »Unsere Löwen fressen niemanden auf«, erklärte Wanja und lachte dabei unbekümmert. »Sie sind viel zu alt und haben keine Zähne mehr. Das Fleisch muss man für sie durchdrehen, damit sie es überhaupt herunterschlucken können.«

      »Ich hätte trotzdem ein bisschen Angst vor ihnen«, meinte Angelika.

      »Ich vielleicht nicht sosehr, seitdem ich das weiß«, behauptete Nick mutig. »Aber wenn man dann wirklich in den Käfig hineingehen soll, sieht die Sache vielleicht doch wieder anders aus.«

      Unter solchen und ähnlichen Gesprächen verging die Fahrt rasch. In Sophienlust hatte Magda ihrem Ruf als beste Köchin der Welt alle Ehre gemacht. Sie empfing Wanja mit einem Festessen. Es gab Suppe, Kalbsröllchen mit Sahnesoße, frischem Gartengemüse und einem knusperigen Kartoffelauflauf, und als Nachtisch Eis mit Himbeeren.

      »So gut habe ich noch nie gegessen«, sagte Wanja mit einem tiefen Aufatmen, nachdem er die dritte Portion Eis verzehrt hatte. »Gibt es bei euch alle Tage so feine Sachen, Henrik?«

      »Nein, das war dir zu Ehren. Aber gut ist Magdas Essen immer. Nick und ich bleiben manchmal nur wegen des Essens hier in Sophienlust, obwohl unsere Köchin drüben in Schoeneich ihre Sache auch versteht. Heute essen wir alle hier, damit du weißt, wie sehr wir uns freuen, dass du jetzt bei uns bist.«

      Alexander von Schoenecker, der an diesem Tag ebenfalls zum Kreise der Tafelnden zählte, nickte dem neuen Jungen freundlich zu. »Wenn du einmal ein Wort unter Männern reden willst, Wanja, dann komm getrost zu mir. Du kannst aber auch zu Justus gehen, der sich genauso gut auskennt.«

      »Aber ein Vati ist nun einmal ein Vati. Du bist ein richtiger Vati, und deshalb kennst du dich noch besser aus als Justus«, meinte Henrik treuherzig.

      »Stimmt, Onkel Alexander«, pflichtete Vicky Henrik bei.

      Nach dem Essen trug Nick Wanjas Koffer in dessen Zimmer.

      »So ein schönes Zimmer ganz für mich allein?«, staunte der Junge.

      »Wenn es dir nur gefällt«, meinte Frau Rennert vergnügt.

      »Es ist prima«, sagte Wanja überzeugt. Die Kinder halfen ihm, seinen Koffer auszupacken, und die Heimleiterin ließ sie gewähren, obwohl die Wäsche danach nicht sehr akkurat aufgeschichtet im Wandschrank lag. Sie freute sich, dass der Zirkusjunge eine tadellose Ausstattung mitbrachte, obwohl man ihn natürlich auch aus den Beständen des Heims hätte ausstaffieren können.

      »Reiten wir jetzt alle zusammen auf den Ponys?«, fragte Wanja, als sein Koffer leer war.

      »Wenn du willst?«, erwiderte Henrik bereitwillig.

      Gemeinsam gingen die großen und kleinen Kinder zu den Stalljungen, wo Wanja von seinem Freund Justus erfreut willkommen geheißen wurde.

      »Fein, dass du jetzt bei uns bist, Wanja«, sagte der alte Verwalter herzlich. »Nun zeig den anderen einmal, dass ein Zirkusjunge reiten kann wie der Teufel!«

      Denise und Alexander von Schoenecker sahen die Reitergruppe davontraben.

      »Er fügt sich vorbildlich in die Gemeinschaft ein, Isi«, sagte Alexander und legte den Arm um die Taille seiner Frau. »Zuerst hatte ich einige Bedenken, als du mir erzähltest, dass der Bub aus dem kleinen Wanderzirkus kommt. Aber du hast wieder einmal das richtige Gespür besessen. Wanja Ragell wird sich bei uns wohlfühlen und in der Schule hoffentlich recht bald die hohe Kunst des Lesens, Schreibens und Rechnens lernen.«

      Denise legte den Kopf auf die Schulter ihres Mannes. »So ganz sicher bin ich noch nicht, dass dieses Experiment auch ein Erfolg wird, Alexander«, gestand sie freimütig. »Mit den Fahrensleuten ist es so eine Sache. Sie bleiben nicht gern sesshaft, und das wird möglicherweise bei dem Jungen schwierig werden.«

      »Du schaffst es schon, Isi. Hier auf dem Lande hat unser Zirkusjunge ja genügend Freiheit, sollte man meinen. Darauf, dass die übrigen Kinder ihm freundlich entgegenkommen, können wir uns glücklicherweise fest verlassen.«

      Schon zu Beginn der neuen Woche musste Wanja in die Schule gehen. Zum Erstaunen des Lehrers zeigte sich, dass er schon so manchen Buchstaben kannte, im Rechnen sehr gelehrig war und auch sonst eine Menge wusste.

      Wanja vertrug sich mit allen, doch es ließ sich nicht ganz verheimlichen, dass er gelegentlich Sehnsucht nach dem völlig anderen Leben im Zirkus verspürte. Manchmal wollte er morgens nicht aufstehen, manchmal hatte er keine Lust, seine Aufgaben zu machen, sondern beschäftigte sich stattdessen mit Habakuk, Nicks Papagei, dem er allerlei neue Wörter mit erstaunlichem Einfühlungsvermögen beibrachte. Um Wanja jedoch nicht die Lust am Lernen zu nehmen, drückten sowohl Frau Rennert und ihre hilfreichen Geister als auch der Lehrer immer wieder beide Augen zu.

      Am liebsten hielt sich Wanja im Stall bei Justus oder in Bachenau bei Helmut Koster im Tierheim Waldi & Co. auf. Mit Justus verband ihn eine allgemeine Männerfreundschaft – mit Helmut dagegen die beiderseitige Zugehörigkeit zum Zirkus. Stundenlang konnte der Junge zuhören, wenn Helmut von den Zeiten erzählte, als der Zirkus Ramoni noch groß und berühmt gewesen war. Helmut Koster führte Wanja auch die Kunststückchen vor, die er den Bären und der Schimpansin Luja beigebracht hatte. So fühlte sich der Zirkusjunge in dieser Umgebung fast restlos glücklich.

      »Bleibst du immer hier, Helmut?«, fragte er oft genug. »Ich finde es sehr schön in Sophienlust und auch bei Tante Andrea. Aber so wie im Zirkus ist es eben nicht. Jeder Tag war anders bei uns. Einmal Vorstellung, einmal Abbauen, dann wieder Aufbauen. Einmal nur Fahren, einmal gar nichts. Dann musste wieder alles repariert und durchgesehen werden. Es ist nie langweilig beim Zirkus. Aber in Sophienlust soll man jeden Morgen Punkt halb acht am Frühstückstisch sitzen. Das ist manchmal einfach zu langweilig für mich.«

      Helmut, der unverbesserliche Zirkusfan, redete das dem Jungen jedoch nicht etwa aus, sondern bestärkte ihn noch in seinen Ansichten. Es ging ihm ja selbst kaum anders.

      »Es sind alles liebe Leute, Wanja«, sagte er freundlich, aber auch ein klein wenig abwertend, ohne dass er sich dessen bewusst war. »Doch sie können nicht verstehen, dass wir

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