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»al fresco« zu machen. Das verstand ich damals nicht, mache auch heute noch nichts »al fresco«, aber ich denke, man sollte sich eine gewisse Spontaneität in der Arbeit erhalten, wach bleiben, um zu sehen, was angeboten wird und wie damit umzugehen ist. Wenn man keine Distanz zu sich selbst hat und nur das hört, was in einem selbst ist, hört man nicht, was draußen ist. Oder anders ausgedrückt: Innerlich muss man hören, was man hören will, und gleichzeitig das was wirklich da ist. Um diesen Unterschied gilt es sich dann Gedanken zu machen. Man darf auch keinen Tunnelblick auf ein bestimmtes Stück bekommen, sondern muss damit umgehen können, wenn man in der Früh mit einem Sänger ein ganz anderes Stück repetiert als das, was davor geprobt wurde, am Abend Butterfly dirigiert, am nächsten Tag an einer Wiederaufnahme arbeitet, dann eine Orchesterprobe von Barenboim besucht und am Abend dann Barbier von Sevilla leitet. Das ist Theateralltag, das ist wirkliches Musikerleben. Als junger, unerfahrener Dirigent ist man auf jedes Detail fixiert und sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht. Heute weiß ich, dass man bei jedem Stück, egal ob Oper oder Konzert, zunächst von der großen Form, vom Überblick ausgehen muss. Dann ist man auch in der Probe offener und schneller. Ein Sechzehntellauf, der am Anfang einer Probe nicht gelingt, oder hin und wieder ein »Verspieler« ist unwichtig. Aber ob das Tempo geschärft ist oder der Rhythmus nicht stimmt, ob ein Übergang nicht funktioniert, das ist wesentlich. Für mich war dann Wagner der Schlüssel zu dieser Erkenntnis. Als ich in Zürich den Ring dirigierte und mich ein ganzes Jahr damit beschäftigte, lernte ich, großflächig über ganze Akte zu denken – bei Wagner eine unabdingbare Notwendigkeit. Man lernt mit der Zeit auch Vertrauen ins Orchester zu haben und die Musik nicht zu zerstückeln. Man lernt das vor allem mit Wagner, der ja nicht nur Komponist, sondern einer der ersten großen Dirigenten im heutigen Sinne war.

       Die Aufbaujahre

      Mit 27 Jahren wurde ich Chefdirigent der Oper Graz. Mein Engagement begann mit der Saison 2001/02 und so verließ ich Berlin bereits ein Jahr früher als geplant. Barenboim legte mir natürlich nichts in den Weg, den Vertrag bereits früher zu beenden, aber kann es bis heute nicht ganz lassen, mich daran zu erinnern, dass ich im Grunde »ein Jahr zu früh gegangen« bin. Für mich war aber die Entscheidung für die Position in Graz ein ganz wesentlicher Schritt in meiner Entwicklung. Die Bedingungen waren ausgezeichnet, um zu lernen, wie man Verantwortung übernimmt, wie man ein Orchester formt, wie Planung funktioniert und vieles mehr. Graz war für mich damals deshalb so ideal, weil das Haus nicht zu groß und nicht zu klein ist, ein Orchester von 95 Musikern hat, ein eigenes Ensemble, einen wunderschönen Saal und ein Publikum, das seine Oper liebt. An einem Haus dieser Größe kann man bereits formen und gestalten, aber auch noch Fehler machen – um daraus wiederum zu lernen. Ich denke, es war immer meine Art, ehrlich zu sein, aber mitunter verschreckt und verletzt man einen Menschen, wenn man ihm – vor allem im falschen Moment und nicht mit den geeigneten Worten – reinen Wein einschenkt. Für mich stellte sich immer die Frage: Wie kann man jemandem sagen, was er noch besser machen könnte, ohne dass sich dieser Mensch auf eine verletzende Weise kritisiert fühlt? Heute denke ich, oft ist es besser, zunächst einmal das Positive zu sagen, als das Negative direkt anzugehen. Diese Vorgänge in der künstlerischen Arbeit funktionieren wie in einer Beziehung und sind ein langer und schwieriger Prozess.

      Trotz aller Bemühungen gibt es allerdings auch Situationen, die es erforderlich machen, dass ein Sänger oder eine Sängerin ausgetauscht wird. Beispielsweise wenn sich die Stimme oder der Künstler anders entwickelt hat, als man drei Jahre vorher, als der Vertrag abgeschlossen wurde, angenommen hat, und daher die Rolle nicht mehr optimal singen kann. Ein anderes, gar nicht so seltenes Beispiel ist, wenn eine Sängerin ein Kind bekommen und die Stimme sich dadurch verändert hat, oder eine Karriere dem Ende entgegengeht. Letztlich ist es eine Entscheidung des Intendanten, denn Verträge müssen gegebenenfalls ausbezahlt werden, aber wenn die Situation sehr schwierig ist, wird der Dirigent dazugeholt. Natürlich geht es nicht zuletzt auch ums Geld. Jeder Mensch hat Fixkosten zu begleichen, vielleicht müssen Wohnungsraten abbezahlt werden, hinzu kommt, dass manche Sänger ihre eigene Leistung vielleicht nicht mehr objektiv sehen und demzufolge nicht merken, dass mit ihrem Auftritt niemandem gedient ist – nicht der Produktion, nicht dem zahlenden Publikum und vor allem nicht dem Sänger oder der Sängerin selbst. In Paris war ich einmal in der Situation, dass ich mich – gegen große Widerstände – durchsetzen musste, dass eine Sängerin ausgetauscht wird. Anders wäre es nicht möglich gewesen, eine für alle Seiten zufriedenstellende Walküre zu machen. Solche Entscheidungen gehören zu den unangenehmsten Momenten in unserem Beruf. Aber je länger man diesen ausübt, desto mehr muss man für Qualität kämpfen und umso weniger Kompromisse darf man eingehen. Ich bin an sich ein gutmütiger Mensch und muss in solchen Situationen lange mit mir hadern, aber letztlich habe ich für meine Standards vor dem Publikum geradezustehen. Man muss sich ein paar Mal die Finger verbrennen, um zu erkennen, dass Kompromisse manchmal nicht möglich sind, denn man hat nicht nur einen Ruf zu verlieren, sondern die Gesamtqualität einer Vorstellung kann durch einen einzigen »Störfaktor« empfindlich hinuntergezogen werden. Mein eigenes Musizieren wird schlechter und das des ganzen Orchesters. Auch die Kollegen auf der Bühne können nicht ihr Bestes geben. Intendantin in Graz war damals Karen Stone, eine echte Ensemblemutter, die viel Theatergeist im Haus versprühte. Sie machte eine spezielle Art von Theater: publikumsfreundlich, aber trotzdem immer mit Niveau. Ihr Vorgänger, Gerhard Brunner, der elf Jahre Intendant gewesen war, hatte sehr interessante Produktionen gemacht, aber Publikum verloren.

      Der Beginn unserer Zusammenarbeit war wirklich ein Zauber, Karen Stone war enorm motiviert, führte ein junges, begabtes, harmonisches Ensemble zusammen, es herrschte Aufbruchsstimmung. Ich begann im Spätsommer 2001 in dem wunderschönen Haus mit Eugen Onegin mit der damals ganz jungen Tamar Iveri und dem ebenso jungen Mariusz Kwiecień. Das Orchester war nach der langen cheflosen Zeit hungrig auf Arbeit und ließ sich liebevoll auf den jungen Dirigenten ein. Nie werde ich vergessen, wie ich bei der Premiere nach der Pause herauskam und der Saal jubelte. Das kannte ich in dieser Form noch nicht. Zunächst war es eine sehr schöne Zeit: Fledermaus, Don Carlo, Ariadne auf Naxos und viel englisches Repertoire wie Brittens Turn of the Screw und Peter Grimes. Ich dirigierte meinen ersten Parsifal mit Michaela Schuster, die dabei ihre erste Kundry sang, Stephen Gould mit seinem ersten Parsifal, und Peter Rose gab zum ersten Mal Gurnemanz. Diese Sänger findet man jetzt in diesen Rollen an allen großen Bühnen der Welt, aber damals in Graz fingen wir alle gemeinsam an. Nun trifft man sich überall wieder, und ich freue mich jedes Mal, wenn sich unsere Wege kreuzen. Die Erfahrung des gemeinsamen Beginns verbindet.

      In dieser Zeit musste ich viel Repertoire lernen, auch für das Konzertpodium im Grazer Stephaniensaal, denn wir verstärkten auch die Konzerttätigkeit des Orchesters. Meine erste Eroica, Fünfte und Neunte Beethoven, die ersten Mahlersymphonien, das Lied von der Erde und vieles andere mehr haben wir damals erarbeitet. Als Operndirigent hatte ich ja schon einige Erfahrung, aber die Konzerte waren für mich eine neue Herausforderung. Es gab vieles zu entdecken und enorm viel zu lernen. Im Nachhinein weiß ich natürlich, dass ich damals einfach noch nicht »über« den Werken stand. Ich hatte sie gerade so gelernt, dass ich mit den Musikern arbeiten konnte, aber natürlich fällt man zum Beispiel bei seiner ersten Neunten Beethoven in jede nur mögliche Falle. Man weiß noch nicht, wie bestimmte Übergänge gestaltet werden müssen, oder dass die ersten Geigen an einer ganz bestimmten Stelle auf das erste Horn hören müssen oder Ähnliches. Ich bin sehr froh und dankbar, dass ich diese wichtigen Werke damals in Graz erarbeiten und diese Erfahrungen sammeln konnte.

      Ich empfand damals das Grazer Publikum als unglaublich herzlich. Die Menschen kamen mit großer Begeisterung nicht nur in die Oper, sondern vor allem auch in die Konzerte, sodass diese Abende sehr schnell fast schon Kultstatus bekamen. Aber nie werde ich die Worte eines Ersten Klarinettisten vergessen, der, als er in Pension ging, sich bei mir für die Arbeit mit dem Orchester bedankte, abschließend jedoch anmerkte, dass es ihm aber etwas auf die Nerven gegangen sei, dass die Menschen sagten: »Gemma Jordan schauen.« Die Menschen sollten doch in erster Linie wegen der Musik kommen … Er hatte natürlich völlig recht, aber es soll auch nichts Schlimmeres geschehen, als dass ein Publikum neugierig auf junge Künstler ist.

      Es waren also sehr produktive und ereignisreiche Jahre,

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