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gefunden. In Zeiten, in denen ich sechs Stunden am Tag üben musste, war es manchmal nur ein mechanischer Vorgang. Wie oft habe ich dabei auch an andere Sachen gedacht! Als ich in Wien anfing, mit den Symphonikern Kammermusik zu machen, musste ich beim Üben einen effizienteren Weg finden, da ich keine Zeit hatte, immer das ganze Werk durchzuspielen. Ich musste mich auf jene Passagen konzentrieren, die ich nicht perfekt konnte. Wie bei der Arbeit mit dem Orchester darf man sich nicht verzetteln. Man muss gezielt die Stellen proben, wo es wehtut. Für mein Klavierspiel ist dieses Wissen jetzt sehr hilfreich. Ich denke, auch als Kind wäre ein effizienteres Üben von Vorteil und vor allem auch zeitsparend gewesen – das müsste mehr gelehrt werden!

      Von meinem Vater lernte ich die erste Musiktheorie. Er erklärte mir jeden Tag zehn Minuten unter anderem die Intervalle oder den Quintenzirkel. Er war von meinem absoluten Gehör fasziniert und manchmal übte er auch mit mir Klavier. In dieser Zeit begann ich meinen Vater wiederzufinden.

      In der Schule nahm ich immer wieder an musikalischen Wettbewerben teil und es war mir ein Rätsel, warum ich nie unter den Gewinnern war. Die Erklärung meines Geigenlehrers war, dass ich zwar einen unglaublichen Ausdrucks- und Interpretationswillen hatte, aber in technischer Hinsicht noch dahinter zurückblieb. Ebenfalls zu denken gab mir eine Lehrerin, die auf mich aufmerksam wurde, als ich bei einem Jugendmusikwettbewerb eine Kollegin am Cello begleitete. Sie fasste mich wirklich hart an, aber nahm mich ernst, obwohl ich ja nur der Begleiter war. Ich musste anfangen zu lernen, dass musikalischer Ausdruck nur mit einer wirklich soliden Technik realisiert werden kann.

      In der Schule gab es einen sehr guten Klavierlehrer: Boris Mersson. Er war in der Nachkriegszeit in der Schweiz eine wichtige Koryphäe der Musik: ein sehr guter Pianist, Komponist, Dirigent, Jazzmusiker und Kammermusiker. Er hatte sein eigenes Trio und war überhaupt ein Mann mit großer musikalischer Bandbreite. Ohne Frage war die Begegnung mit ihm einer der wichtigsten Bausteine meiner musikalischen Entwicklung. Er hatte eine Pianisten-Klasse am Gymnasium, in die ich aufgenommen wurde. Dort arbeitete er sehr systematisch mit uns. Ich lernte durch ihn, was es heißt, sechs Stunden am Tag zu üben. Da ich damals schon daran dachte, Dirigent zu werden, war er sicher der beste Lehrer für mich. Er war gleichermaßen ausgebildeter Komponist, Pianist, aber auch Dirigent. Die Dirigentenlaufbahn kam für ihn nicht wirklich in Frage, obwohl er Meisterkurse bei Herbert von Karajan und Hermann Scherchen besucht hatte. Für ihn bedeutete Dirigieren nicht viel mehr als »Führen«.

      Aber dadurch hatte er eine musikalische Weitsicht, die mir ein »normaler« Klavierlehrer wohl nie hätte vermitteln können. Bei ihm lernte ich auch die musikalischen Standards und Klaviertechniken, lernte Disziplin und Aufmerksamkeit und natürlich das ganze Repertoire von Bach bis Bartók. Viel wurde auch über Musik gesprochen, wofür ich speziell auch dann dankbar war, wenn ich wieder einmal nicht genug geübt hatte. Ein wichtiges Element seines Unterrichts war Bachs Wohltemperiertes Klavier. Er wollte immer, dass ich die Bach-Busoni-Ausgabe spiele, die heutzutage eher verpönt ist, aber – durch Busonis Analysen – pianistisch und musikalisch gesehen ein großes Wissen über Musikgeschichte vermittelt, denn hier schwingen auch Beethoven, Brahms und das spätromantische Erbe mit. Er fand es interessant, sich der musikgeschichtlichen Tradition bewusst zu werden. Der Urtext einer Komposition ist wichtig, aber es gibt auch ein Danach. Zum Beispiel erhebt sich bei Boris Godunow die Frage, warum heutzutage fast immer nur die Urfassung gespielt wird und nicht wieder einmal die Version von Rimski-Korsakow. Natürlich hat sie mit dem ursprünglichem Mussorgski wenig zu tun, aber sie ist lebendige Musikgeschichte. Diese Fassung hat Generationen von Menschen Boris Godunov und Mussorgski nahegebracht, ist großartig instrumentiert und stammt nicht von irgendeinem Musikwissenschaftler, sondern ebenfalls von einem großen Komponisten.

      Bei Boris Mersson blieb ich bis zu meinem Klavierdiplom. Später nahm ich dann bei Karl Engel Unterricht, aber das war leider nur eine sehr kurze Begegnung, weil ich bereits ein halbes Jahr später meine erste Stelle in Ulm antrat.

      In der dritten Klasse des Gymnasiums arbeitete ich während der Sommerferien im Rahmen eines dreiwöchigen Musiklagers mit Jugendlichen aus aller Welt an Kammermusikstücken, für die ich ein halbes Jahr geübt hatte. Jeden Abend gab es ein »Hauskonzert«. So lernte man auch, vor den viel Besseren zu spielen. Ich wusste, dass ich jeden Tag besser wurde, aber in dieser Zeit war ich mir schon sehr sicher, dass ich dirigieren wollte. Mein Vater sagte jedoch, dass man erst einmal gut Klavier spielen müsse, um Dirigent zu werden. Damals gab es auch einen großen Kampf zwischen meinen Eltern und mir, weil ich zu dieser Zeit die Schule abbrechen wollte, um mich ganz auf die Musik zu konzentrieren. In dieser Situation erwies sich die Leitung des Gymnasiums als sehr konziliant und gewährte mir einen Hospitantenstatus. Das hieß konkret, ich könnte die Schule weiter besuchen, müsste aber nur einen Teil der Fächer belegen. In der übrigen Zeit könnte ich auf der Musiketage üben. Ich traf mit meinen Eltern eine Abmachung: Sollte ich in einem Jahr keine wesentlichen Fortschritte machen, würde ich die Schule wieder voll aufnehmen. Im selben Jahr trat ich auch als Jungstudent ins Konservatorium ein und bereitete mich auf ein Klavierlehrerdiplom vor, das ich dann – zu meiner eigenen Überraschung – sogar mit Auszeichnung bestand. Ich war zwar durch Krisen und Selbstzweifel gegangen – aber ich schaffte es! Dieses Diplom gab mir die Sicherheit eines Berufes und auch das beruhte auf einer Vereinbarung mit meinen Eltern, denn wer garantierte denn, dass ich als Dirigent erfolgreich sein würde? Als schriftliche Arbeiten schrieb ich in der Musiktheorie über die Beethoven-Streichquartette und in der Pädagogik über »Zen in der Kunst des Musizierens«. Inspiration hierfür war das Buch »Zen in der Kunst des Bogenschießens« und ich dachte mir, dass man diese Philosophie auch aufs Musizieren übertragen könnte. Mit sechzehn Jahren hatten mich spirituelle Dinge vermehrt zu interessieren begonnen. Meine Mutter entwickelte zusehends ihre Begabung als Medium, das heißt, sie hatte beispielsweise beim Zeichnen die Fähigkeit, sich von spirituellen Kräften als Channel führen zu lassen. Sie sagte dann: ES zeichnet. Das war sehr spannend für mich. Ich probierte damals mit Kollegen auch verschiedene Meditationstechniken aus und in dieser Zeit bekam ich eben auch das Buch »Zen in der Kunst des Bogenschießens« geschenkt. Zunächst dachte ich: »Was habe ich mit Bogenschießen zu tun?« Aber es geht ja in diesem Werk nicht allein ums Bogenschießen. Es geht vor allen Dingen um Geistesschulung, um die Praxis des Zen und auch um das ES. Darüber machte ich mir meine jugendlichen Gedanken, die ich in diese schriftliche Arbeit einfließen ließ. Es war meine erste Beschäftigung mit dem Spirituellen, das mich heute noch begleitet, sei es im Rahmen von Meditation oder Yoga. Vieles davon finde ich heute auch in der Stille der Natur.

      Meine Familie ist ursprünglich katholisch, aber die Religion wurde nicht praktiziert. Als Jugendlicher ging ich allein in die Kirche, nicht nur aus religiösen Motiven, sondern weil ich mich als Teil des kulturellen westeuropäischen Erbes fühlte, und dazu gehört auch die katholische Bildung. Mit diesen religiösen Inhalten habe ich mittlerweile gebrochen, aber für meine Entwicklung war das eine wichtige Zeit. Ich bin nicht religiös, aber spirituell, denn ich glaube, dass es etwas gibt, das mehr ist als das, was wir wissen – Musik ist das beste Beispiel dafür! Aber ich denke, dass Religion nicht die Antwort ist.

      Noch während des Konservatoriums durfte ich bei meinem Vater bei den Festspielen in Aix-en-Provence Don Giovanni korrepetieren. Er hatte mir damals verschiedene Wege aufgezeigt, wie man Dirigieren erlernen kann, und gemeint, es sei heute zwar die Regel, ein Dirigierstudium zu machen, aber er empfehle es mir nicht. Er selbst war ja auch den klassischen Kapellmeisterweg gegangen, arbeitete als Korrepetitor mit Sängern und sprang, wenn sich die Gelegenheit ergab, als Dirigent ein. Er meinte, Dirigieren sei ein praktischer Beruf. Ein Geiger hat seine Geige, ein Pianist sein Klavier, aber ein Dirigent bekommt während des Studiums nur jedes halbe Jahr ein Orchester zur Verfügung gestellt und dirigiert mehrere Jahre immer nur zwei Pianisten oder ein Streichquartett. Er empfahl mir den Weg über die Praxis. Es fiel mir nicht schwer, ihm zu glauben, weil ich die Oper damals ohnehin mehr liebte als Konzerte. Er meinte, wenn ich sechs Wochen lang in allen möglichen Don Giovanni-Proben, also in Stellproben, technischen Proben, Statistenproben gespielt hätte und danach die Musik immer noch lieben würde, dann wäre ich vielleicht in diesem Beruf am richtigen Platz. Bei dieser Produktion lernte ich tatsächlich sehr viel und durfte sogar einmal bei einer Bühnenprobe ein bisschen dirigieren. Es war auch sehr interessant, die verschiedenen Abläufe in einem Probenprozess an der Oper zu beobachten: Wie man mit der Spannung der Sänger umgeht, was

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