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Der lange Weg nach Hause. Kurt von Schuschnigg
Читать онлайн.Название Der lange Weg nach Hause
Год выпуска 0
isbn 9783903217157
Автор произведения Kurt von Schuschnigg
Жанр Афоризмы и цитаты
Издательство Bookwire
Riesige Fenster boten aus unserer Wohnung Ausblick auf den Stubenring. An sonnigen Tagen war das Gebäude von Licht durchflutet und lud zu Erkundungen ein. Hatte ich die Wiesen und Gärten des Augartens mit dem innerstädtischen Kriegsministerium, wie es immer noch genannt wurde, getauscht, so gab es doch einen Ausgleich: Das Gebäude und seine Höfe galten als »sicher« für mich, ich durfte dort nach Belieben tun und lassen. So durchstreifte ich ständig das höhlenartige Gebilde, mit Purzel als einzigem Begleiter. An dunklen Wintertagen, wenn die enormen Räume voll einsamer, bedrohlicher Schatten schienen, wandte ich mich meinen Legionen von Spielzeugsoldaten zu – Infanterie und Kavallerie aus allen Teilen Europas, Dragonern in ihren roten Uniformen mit gelben Epauletten, weißen Hosen und hessischen Stiefeln, blau gewandeten kaiserlichen Offizieren mit purpurroter Schärpe, säbeltragenden Unteroffizieren und auch britischen Grenadieren und Füsilieren mit ihren Bärenfellmützen. Sie alle hatten würdige Gegner aus allen Waffengattungen der napoleonischen Armeen. Sogar die gußeisernen Russen fanden ihre Verwendung.
Wurde ich ihrer überdrüssig, beschäftigte ich mich mit meinen Briefmarken, die ich aus aller Herren Länder sammelte. Das größte Juwel, ein für mich völlig unerwarteter Zugewinn, war ein kompletter Satz italienischer Erstausgaben, ein Geschenk Benito Mussolinis. Bevor ich das Paket aufmachen durfte, wurde mir feierlich die Einzigartigkeit des Anlasses nähergebracht. Einmal mußte Vater über seinen Schatten springen, denn ein Geschenk des Duce für ein Kind abzulehnen, wäre einer Beleidigung gleichkommen.
Manchmal fragte ich mich, ob meine Eltern je realisierten, daß »geh in dein Zimmer« für mich gar keine Strafe bedeutete, denn dort hatte ich meinen Hund, meine Zinnsoldaten und die Briefmarkensammlung. An einem sonnigen Tag – Purzel war zum Tierarzt gebracht worden – durchstreifte ich allein das riesige Gebäude. Am Anfang eines Korridors beginnend, öffnete ich Tür um Tür, sah große und kleine Salons, Besprechungsräume, verschiedene Büros, Kammern, Kästen und einen schönen Ballsaal in Neo-Rokoko. Hinter der nächsten Tür, ob des unerwarteten Besuchers überrascht und nicht wirklich erfreut, hob Handelsminister Fritz Stockinger den Blick zu mir. Er war wohl etwas erschrocken, und seine Reaktion hatte bedauerliche Folgen. Seine abrupte Bewegung schreckte ein Perserkätzchen auf, das ruhig auf einem Tisch gelegen hatte, mit einem Satz sprang es auf den mit Unterlagen und Dokumenten bedeckten Ministerschreibtisch und warf ein großes Tintenfaß um. Minister Stockinger saß wie gelähmt und blickte auf den blauen Tintenstrom, der sich immer mehr ausbreitete. Einen Fluch unterdrückend, zog er sein Taschentuch heraus, um die Flut einzudämmen, griff mit der anderen Hand nach dem Papierkorb und hielt ihn unter die Tischkante, von der jetzt die Tinte herunterrann. Ich erstarrte und sah schweigend zu. Mit nicht ganz unerwarteter Geistesgegenwart – einer Gabe, die ihm schon nützlich gewesen war, als er das erste Attentat auf Dollfuß im Oktober 1933 verhindert und den Attentäter überwältigt hatte – hob er mit hochrotem Kopf das Kätzchen auf und bewegte sich auf das halboffene Fenster zu. Sein Gesicht sah jetzt aus wie das eines Mannes mit einem viel zu engen Kragen.
»Bitte, tun Sie ihm nichts!«, schrie ich auf.
Er drehte sich zu mir. »Willst du das Vieh? Da hast du’s. Und raus hier, sofort!«
Ich dankte hastig, flüchtete mit dem Kätzchen in unsere Wohnung, und nachdem ich das Tier beruhigt hatte, überlegte ich, wie meine Eltern diesen Zwischenfall aufnehmen würden.
»Denk an Purzel, Kurti. Hunde und Katzen sind keine natürlichen Freunde«, erklärte mir Mutter beim Mittagessen, »so wurden sie einfach geschaffen. Den Frieden zwischen ihnen zu erhalten, grenzt ans Unmögliche.«
»Bitte laß es mich versuchen, Mutter. Minister Stockinger ist so blau angelaufen wie diese Zwetschken, so böse war er. Er hat Pinpin fast aus dem Fenster geworfen.«
»Schatz, Minister Stockinger hätte das bestimmt nicht getan. Wenn man ihn nicht ärgert, ist er sehr nett«, seufzte sie. »Na gut, aber es ist deine Sache, wie Purzel und Pinpin getrennt werden, ganz egal, wie du das machst. Klar?«
Nach einer Umarmung, die so stürmisch war, daß sie fast vom Sessel gefallen wäre, lief ich weg, um alles zu arrangieren. Zuerst die Wohnräume. Purzel war der Ranghöhere, ich konnte ihn nicht einfach aus meinem Zimmer verbannen, um für den Emporkömmling Platz zu machen. Pinpin mußte in die Küche und Liesl Gesellschaft leisten. Die mochte Tiere.
»Was? Eine Katze in meiner Küche? Auf keinen Fall! Ich mag Hunde. Wenn man einem Hund sagt, er soll sich in die Ecke setzen, dann gehorcht er. Eine Katze tut, was sie gerade mag. Nein!«
Aber auf mein inständiges Flehen und Betteln gab sie schließlich nach. Pinpin bekam, wenn auch widerwillig, Asyl in der Küche. Leider war das Arrangement aber nicht der erwartete Erfolg, denn jedesmal, wenn Liesl die Tür öffnete, rannte das Kätzchen hinaus. Waren wir in Hörweite, dann hatten einer von Papas Ordonnanzen und ich Einfangdienst. Außerdem hatte Pinpin eine Leidenschaft für Mutters blaßgelbe Seidenvorhänge, an denen sich in Höchstgeschwindigkeit hinaufklettern ließ. Mein Glück war, daß die ganz neuen Muster, die Pinpins Krallen in dem weichen Stoff hinterließen, meiner Mutter nicht gleich auffielen.
Nachdem Gsaller und Defregger mein Kätzchen eher tolerierten als Liesl, wurde Pinpin in ihr »stofffreies« Dienstzimmer übersiedelt. Aber auch das hielt nicht lang. Am nächsten Tag, als ich gerade mit Pinpins Milch hereinkam, ließ Defregger unabsichtlich das Dienstbuch auf den Boden fallen. Der laute Knall erschreckte das Kätzchen, das durch die angelehnte Tür entwich. »Pfui! Komm zurück!«, schrie ich, bei einer Katze ein denkbar nutzloser Befehl. Schnell stellte ich die Milch ab, die dabei überschwappte und über meine Kleidung und den Schreibtisch zu Boden rann. Dann hörte ich: »Fangt diese Katze ein!« Es war Mutter. Ihren Tonfall mit »ungehalten« zu beschreiben, wäre eine Untertreibung gewesen. Wäre sie dafür schnell genug gewesen, sie hätte wohl selbst das Kätzchen aus dem Fenster geworfen. Zurück im Salon, hörte ich das bekannte Geräusch: sis-sis-sis. Über die Vorhänge hinauf, hatte sich Pinpin auf der gelbseidenen Karniese in Sicherheit gebracht. Jetzt sah auch Mama die Bescherung. Ich erhielt eine förmliche Verwarnung. Also mußte doch der Hund delogiert werden. Etwas entmutigt und mit nur wenig Vertrauen in diese Lösung nahm ich das Kätzchen in mein Zimmer. Aber Küche hin oder her, Purzel hielt weiter vor meiner Tür Wache, was mich diese immer nur einen Spaltbreit zu öffnen und mich seitlich hindurchzuquetschen zwang. Von meinem Zimmer der Fassade entlang über das Fenstersims in den angrenzenden Salon zu gelangen, auch das überlegte ich, wäre mit Sicherheit der sprichwörtliche Tropfen gewesen, der das Faß zum Überlaufen bringt. Im übrigen war Purzels Verhalten komisch, fast schon bizarr: Er bellte nicht und kratzte nicht an der Tür. Er lag nur davor.
Zwei Tage später war die Hölle los. Mutter war auf dem Weg in ein Altersheim, und ich sollte sie begleiten. Als sie »Kurti, wir gehen in fünf Minuten« rief, lag mein Anzug, von Fräulein Alice vorbereitet, auf meinem Bett, und ich spielte gerade die Schlacht von Aspern und Eßling auf dem Boden meines Zimmers nach. Ich sprang auf und griff nach meinen Sachen, hüpfte herum und war in kürzester Zeit angezogen. Mutter würde mich im Auto kämmen müssen. Im vagen Bewußtsein, etwas vergessen zu haben, riß ich die Tür auf. Davor lag Purzel, der geduldig auf diese Gelegenheit gewartet hatte. Bevor ich »raus« schreien konnte, war er schon auf halbem Weg zu seinem Ziel, der dösenden Pinpin. Unmittelbare Gefahr spürend, sprang diese vom Bett zur Kommode, zielte auf die Tür und schoß kometenhaft hinaus,