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Der lange Weg nach Hause. Kurt von Schuschnigg
Читать онлайн.Название Der lange Weg nach Hause
Год выпуска 0
isbn 9783903217157
Автор произведения Kurt von Schuschnigg
Жанр Афоризмы и цитаты
Издательство Bookwire
Im Nu waren wir den anderen auf die Straße gefolgt, wo unsere Gruppe sofort Schaulustige anzog. Ein immer größerer Kreis neugieriger Passanten umringte die Konditorei. In den vielleicht etwas langweiligen Ischler Spätnachmittag platzte die Nachricht, im Zauner sei etwas passiert. An die Rettung meiner Schlange war nicht mehr zu denken. Auf Zehenspitzen stehend, sah ich den Küchenchef mit einem Fleischmesser vorbeisegeln, das mir doppelt so scharf wie Vaters Rasiermesser schien und jedenfalls dreimal so lang wie meine arme Schlange. Das war wohl ihr Ende. Die Menge schwieg und ich hoffte auf ein Wunder. Wann immer ein Passant stehenblieb und vorhersehbare Fragen stellte, hörte man das Wort »Schlange«, danach ein kurzes Luftholen und ein unvermeidliches »Mein Gott!«. Keiner der Neugierigen ging weiter. Würde der tapfere Ritter aus den Niederungen der Konditorei siegen oder besiegt werden? Minuten vergingen und die Menge begann unruhig zu werden. Doch dann tauchte der Koch auf und erklärte die Konditorei für »schlangenfrei«. Die kurzfristig auf die Straße geflüchteten Gäste, durchwegs Damen, standen noch unter Schock. Nur zögernd bewegten sie sich zum Ort der Katastrophe. Vordergründig war die Ordnung wieder hergestellt, wenn auch einiges noch immer durcheinander lag. Wer in den Teesalon zurückkam, tat das nur, um liegengelassene Habseligkeiten einzusammeln.
Ich machte einen Schritt in Richtung dieser unruhigen Gruppe, als Fräulein Alices Hand mich fest an der Schulter packte. Das Drama hatte mich so gefesselt, daß ich sie ganz vergessen hatte. »Kurti, du bleibst hier, genau da. Rühr dich nicht weg. Ich hole nur meine Tasche, bin gleich wieder da.« Im Weggehen murmelte sie etwas von Qualität, die heutzutage überall nachlasse. Frau Zauners Stimme verfolgte die flüchtenden Gäste. Lautstark verteidigte sie die Ehre ihres Teesalons. »Eine Schlange kommt nicht einfach so hereinspaziert in mein schönes Café, auf eine Schale Tee. Unmöglich. Das steckt eine Verschwörung dahinter.« Mir tat sie leid. Wer hätte auch eine so extreme Reaktion auf meinen gutmütigen, harmlosen kleinen Freund vorhersehen können. Mir war klar, daß ich das niemals irgendwem erzählen durfte, nicht einmal dem verschwiegenen Peter Mayer. Es war einfach zu gefährlich. Auch hatte mich Fräulein Alices Reaktion geschockt. Die Vorstellung, der Verdacht könnte auf mich fallen, und die Konsequenzen wollte ich mir nicht einmal ausmalen.
Abends wurde ich zu Vater beordert und erschien gewaschen und bereit zum Schlafengehen. Er erkundigte sich nach unserem Ausflug. Ich antwortete ausweichend, daß er mir gefallen hätte. Fräulein Alice stand mit ungewöhnlich sphingischem Gesichtsausdruck daneben. Vater fragte, ob ich gewußt hatte, daß wir an diesem Nachmittag eigentlich zu dritt gewesen waren. Und dann hörte ich Unerwartetes, ein Wort, das mit »S« anfing, aber nicht »Schlange«, sondern »Schatten«. Wie konnte ich den nur übersehen, wo ich doch so stolz war auf meine »Schatten«-Aufspürkräfte? Zu allem Überfluß hatte der »Schatten« gut aufgepaßt und bemerkt, was ich in der Konditorei aus der Hosentasche zog. Vater wußte somit alles.
Es war die Rache aller »Schatten« für unentdeckte Lausbübereien, für ihre endlosen Wartestunden in der Kammer in der Schule, für die akrobatischen Sprünge hinter Bäume, Zäune und alle möglichen Fahrzeuge. Seit jener frühen Erfahrung mit der ruinierten Spielzeugbank und der Krampusrute war mir die Prügelstrafe erspart geblieben. Jetzt ließ ich kaleidoskopartig das ganze Durcheinander dieses Nachmittags an meinem inneren Auge vorbeiziehen und erwartete das Kommende. Es geschah … nichts! Vater sah mich nur mit dem mir bekannten strengelterlichen Blick an und die Länge der folgenden Strafpredigt brach alle Rekorde. – Ganz anders, und dennoch bei aller Kürze ebenso prägnant, Fräulein Alice, als sie mich anschließend zu Bett brachte: »Dein unüberlegter Streich hätte zu noch viel ernsteren Schäden führen können.« Hätte? Hatte er ja, denn meine Schlange war tot.
Das Lebensgefühl im Kriegsministerium war ein ganz anderes geworden, als wir zu Ende der Sommerferien nach Wien zurückkehrten. Ein paar Wochen nach Mutters Begräbnis starb Großmutter Schuschnigg. Vater und ich hatten innerhalb weniger Wochen unsere Mütter verloren. Großvater, auch er nun Witwer, zog zu uns. Vaters Adjutant Georg Bartl, der zum Oberstleutnant befördert worden war, lebte schon, seit Vater Bundeskanzler geworden war, in unserer großen Wohnung. Obwohl er in Wien Frau und Kind hatte, erwies sich das für alle Beteiligten als bequemer. Wir waren also ab Herbst 1935 praktisch ein Männerclub, zu dem nur Fräulein Alice und Liesl die weibliche Note beitrugen.
Mitte September 1935 erließ Deutschland die Nürnberger Rassegesetze. Im Oktober begann Italien seinen Eroberungsfeldzug in Abessinien und näherte sich in der Folge rasch dem Deutschen Reich an. Damit geriet Österreichs einziger politischer Rückhalt ins Wanken. Der amerikanische Gesandte, George Messersmith, berichtete, daß Österreichs unmittelbare Zukunft von seiner Abhängigkeit vom Schutz und der wirtschaftlichen Hilfe Italiens beherrscht würde. Das Land würde zwar die Unterstützung Englands und Frankreichs vorziehen, doch diese Staaten beschränkten sich darauf, Italien in Österreich freie Hand zu lassen, solange der Status Quo unangetastet bleibe. »Die Österreicher werden folglich von Frankreich und England in diese weitgehende Abhängigkeit von Italien gedrängt.«
Im Bemühen um Beruhigung an der Heimatfront wurde zu Weihnachten 1935 eine großzügige Amnestie verkündet. Von 1521 Sozialdemokraten, die nach dem 12. Februar 1934 verhafteten worden waren, kamen 1505 ebenso frei wie 440 der nach dem 25. Juli 1934 eingesperrten 911 Nationalsozialisten. Wie viele von diesen würden zu Wiederholungstätern werden?
Aber auch in Vaters Privatleben kündigten sich in Gestalt zweier Damen der Wiener Gesellschaft Veränderungen an. Auf der einen Seite »Tante Zoë«, Baronin Zoë von Schildenfeld, groß, eindrucksvoll, gebieterisch – und unverheiratet, auf der anderen »Tante Vera«, Mamas Freundin und Rudi Fuggers Mutter. Sie stand kurz vor der Annullierung ihrer Ehe mit Leopold Graf Fugger-Babenhausen durch die katholische Kirche. Ich war wahrscheinlich der einzige in Wien, dem das Konkurrenzverhältnis der beiden Damen verborgen blieb, von der möglichen »Trophäe« einmal abgesehen. War Vaters Leben bisher kompliziert genug gewesen, so doch ein Spaziergang im Vergleich zum jetzt Bevorstehenden.
Ein Aspekt im Leben eines Kindes ist Größe – oder der Mangel an Größe. Stehen in einem Raum genug große Möbel herum, so kann man ihn als Kind fast unbemerkt betreten. Eines Tages gelang mir genau das. Auf der Suche nach Fräulein Alice sah ich sie in der Küche auf einem Hocker sitzen. Liesl widmete ihre Aufmerksamkeit einem Berg Teig. Keine der beiden bemerkte mein Verschwinden hinter einem großen Küchenkasten, als ihr Gespräch über Papa, Tante Zoë und Tante Vera meine Neugier weckte. Zwischen Töpfen und Pfannen lauschte ich still, ohne mich zu schämen. Fräulein Alice schwieg und notierte den Tagesablauf, Liesl redete für beide.
»Es gibt keinen Anlaß, weder einen Musikabend noch ein Abendessen, bei dem nicht eine von beiden anwesend ist. Gestern Abend« – Liesl holte tief Luft – »war ich fast sprachlos (sie war nie sprachlos!), daß sie beide da waren, die Baronin Schildenfeld an einem Ende des Tisches und die Gräfin Fugger am anderen. Das muß anstrengend gewesen sein.« Eine weitere Pause, dann, in ruhigerem Ton: »Der arme Kanzler hat keine Chance. Eine von ihnen wird es schließlich schaffen. Merk dir, was ich gesagt habe.« Sie war am Ende ihres Monologs. Neugierig schaute ich um die Ecke. Liesl sah Fräulein Alice an.
»Ja«, sagte diese endlich, ohne den Blick von ihrem Notizbuch zu heben. »So etwas ist zu erwarten.« Sie unterbrach sich und schaute Liesl scharf an. »Aber man muß es ja nicht