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Honoré de Balzac – Gesammelte Werke. Honore de Balzac
Читать онлайн.Название Honoré de Balzac – Gesammelte Werke
Год выпуска 0
isbn 9783962815226
Автор произведения Honore de Balzac
Жанр Языкознание
Серия Gesammelte Werke bei Null Papier
Издательство Bookwire
»Warum lassen sie nicht Stroh vor ihre Türen legen, wenn sie Angst vor dem Lärm haben?« rief Taillefer.
Unvermittelt brach Raphael lauthals in ein so unangebrachtes Gelächter aus, daß sein Freund ihn nach der Ursache dieses brutalen Freudenausbruchs fragte.
»Du würdest mich schwerlich verstehen«, antwortete er. »Zuerst müßte ich bekennen, daß ihr mich gerade in dem Augenblick auf dem Quai Voltaire traft, als ich mich in die Seine stürzen wollte, und du würdest zweifellos die Beweggründe meines Vorhabens erfahren wollen. Aber wenn ich hinzufügte, daß sich kurz zuvor, durch einen ans Fabelhafte grenzenden Zufall, die poetischsten Trümmer der materiellen Welt vor meinen Augen zu einer symbolischen Gestalt der menschlichen Weisheit zusammenfügten, während in diesem Augenblick die Trümmer aller intellektuellen Schätze, die wir bei Tisch durcheinanderwarfen, auf diese beiden Frauen, die leibhaftigen Urbilder der Torheit, hinauslaufen; und daß unsere tiefe Unbekümmertheit um Menschen und Dinge nur als Übergang zu den farbenprächtigen Bildern zweier sich so diametral gegenüberstehenden Lebensweisen diente, würdest du davon klüger sein? Wenn du nicht so betrunken wärst, sähest du vielleicht eine philosophische Abhandlung darin.«
»Wenn du nicht beide Füße auf dieser hinreißenden Aquilina hättest, deren Schnarchen eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Grollen eines nahenden Gewitters hat«, erwiderte Émile, der sich seinerseits damit vergnügte, Euphrasies Haare zusammen- und auseinanderzurollen, ohne daß ihm diese unschuldige Beschäftigung recht bewußt war, »würdest du über deine Betrunkenheit und dein Gefasel schamrot werden. Deine beiden Lebensweisen kann man mit einem einzigen Satz auf einen Nenner bringen. Das einfache mechanische Leben führt zu irgendeiner unsinnigen Weisheit, indem es unsere Intelligenz durch die Arbeit erstickt, während das Leben, das man in der Leere der Abstraktionen oder in den Abgründen der moralischen Welt verbringt, zu irgendeiner närrischen Weisheit führt. Mit einem Wort: die Gefühle töten, damit man alt wird, oder jung sterben, indem man das Martyrium der Leidenschaften auf sich nimmt, das ist unser Entweder-Oder. Allerdings ist diese Bestimmung uneins mit den Temperamenten, die uns der strenge Spaßvogel, dem wir das Muster aller Kreatur verdanken, mitgegeben hat.«
»Esel!« unterbrach ihn Raphael: »Fahre nur fort, dich selbst solcherart auf Kurzfassung zu bringen, und du füllst Bände. Wenn ich mir angemaßt hätte, diese beiden Auffassungen präzise und knapp zu formulieren, hätte ich dir gesagt, daß der Gebrauch des Verstandes den Menschen verdirbt, die Unwissenheit ihn läutert. Das heißt die Gesellschaften antasten wollen? Aber ob wir mit den Weisen leben oder mit den Narren zugrunde gehen, ist das Resultat nicht früher oder später das nämliche? Übrigens hat der Meister ausgeklügelter Quintessenzen diese beiden Systeme seinerzeit in zwei Worten ausgedrückt: Carymary, Carymara.«105
»Du machst mich an der Allmacht Gottes zweifeln, denn deine Dummheit übertrifft seine Allmacht«, erwiderte Émile. »Unser teurer Rabelais106 hat diese Philosophie durch ein kürzeres Wort als ›Carymary, Carymara‹ ausgedrückt, und zwar: ›Vielleicht‹, woher Montaigne107 sein ›Was weiß ich?‹ nahm. Außerdem sind diese letzten Worte der Moralphilosophie nichts anderes als der Ausruf des Pyrrhon,108 denn er blieb zwischen Gut und Böse, wie Buridans Esel109 zwischen zwei Heuhaufen. Aber lassen wir diesen ewigen Streit, der heute doch nur auf ein Ja oder Nein hinausläuft. Welche Erfahrung wolltest du denn machen, als du in die Seine springen wolltest? Warst du auf die hydraulische Maschine des Pont Notre-Dame neidisch?«
»Ach, wenn du mein Leben kenntest.«
»Oh! ich hätte dich für weniger banal gehalten, die Phrase ist abgedroschen. Weißt du nicht, daß wir uns alle einbilden, weit mehr als die anderen zu leiden?«
»Ach!« seufzte Raphael.
»Was bist du lächerlich mit deinem dauernden Ach! Was ist los? Zwingt dich eine Krankheit der Seele oder des Leibes, durch eine Muskelkontraktion alle Morgen die Pferde vorzuführen, die dich am Abend vierteilen sollen, wie dazumal Damiens?110 Hast du deinen Hund roh und ungesalzen in deiner Dachstube verzehrt? Haben deine Kinder jemals zu dir gesagt: ›Ich habe Hunger‹? Hast du die Haare deiner Geliebten verkauft, um zum Spiel gehen zu können? Bist du jemals in eine falsche Wohnung gelaufen, um einen auf einen falschen Onkel gezogenen falschen Wechsel zu bezahlen, mit der Furcht im Nacken, zu spät zu kommen? Nun, laß hören! Wolltest du jedoch einer Frau oder eines abgewiesenen Wechsels wegen oder aus Langerweile ins Wasser gehen, so würdige ich dich keines Blickes mehr. Bekenne, lüge nicht; ich verlange keine historischen Memoiren von dir! Vor allem: sei so kurz, wie dein Rausch es erlaubt. Ich bin anspruchsvoll wie ein Leser und schläfrig wie eine Frau beim Abendgebet.«
»Armer Tor! Seit wann bestimmen die Schmerzen den Grad der Empfindsamkeit? Wenn wir in der Wissenschaft einmal so weit sein werden, eine Naturgeschichte der Herzen aufzustellen, sie zu benennen, sie in Arten, Unterarten, Familien, in Krustazeen, Fossilien, Saurier, in Kleinstlebewesen – und was weiß ich noch alles – einzuteilen, dann, lieber Freund, wird es bewiesen sein, daß es Herzen gibt, die so zart und empfindlich sind wie Blumen und gleich ihnen von einer leichten Berührung gebrochen werden können, die gewisse versteinerte Herzen nicht einmal spüren.«
»Oh! ich bitte dich, verschone mich mit deiner Vorrede«, sagte Émile mit einer halb lachenden, halb kläglichen Miene und faßte Raphael bei der Hand.
1 Palais-Royal: 1633 für den Kardinal Richelieu erbauter Palast in Paris, der spätere Wohnsitz der Prinzen des Hauses Orléans, war eines der Zentren öffentlichen Glücksspiels in Paris <<<
2 Coatzacoalco: Fluß in Mexiko, an dem Frankreich 1823 versuchsweise eine Strafkolonie einrichtete <<<
3 Darcet, Jean-Pierre-Joseph (1777-1844): französischer Chemiker,