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Secco überhaupt nicht zu den eigentlichen, "komponierten" Teilen der Oper, sondern zu dem improvisierten Beiwerk, denn sie schrieben nur die Bässe oder sogar mitunter gar keine Noten dafür auf und überließen alles den Sängern, andere übertrugen diese Partien jüngeren Hilfskräften21. Aber auch die, welche sie vollständig ausschreiben, beweisen durch den flüchtigen, teilnahmslosen Ton und die schablonenhafte Wiederholung erstarrter Formeln, daß sie als Musiker vor dem Darsteller die Waffen streckten. Dieser war auch für das Publikum, falls es überhaupt mit ganzem Ohre hinhörte22, durchaus die Hauptsache, und als Darsteller haben denn auch die Sänger in jenen Partien oft große Triumphe gefeiert. Nun kennt die neapolitanische Oper daneben allerdings noch das Recitativo accompagnato (obbligato), wo das Orchester hinzutritt und namentlich auch die Deklamation ein ausdrucksvolleres musikalisches Gepräge annimmt. Es erscheint an den von Metastasio mit großem Geschick eingeführten seelischen Krisen vor oder nach wichtigen Entscheidungen und leitet zumeist in eine Arie über. Damit bekam auch der Musiker Gelegenheit, seine Kunst voll zu entfalten- und hier stehen wir tatsächlich vor den bedeutendsten Leistungen der neapolitanischen Oper. Aber wohlbemerkt: eigentlich dramatisch sind auch diese Partien nicht, da die Handlung in ihnen nicht fortschreitet, sondern es sind freie, lyrische Monologe23, in denen sich die vorangehende oder nachfolgende dramatische Spannung widerspiegelt; sie erfüllen eigentlich einen Zweck, dem die Arie verschiedener gleich zu erwähnender Mängel halber nicht zu genügen vermochte, nämlich den Helden seine durch die dramatische Situation angeregte Empfindung unmittelbar ausströmen zu lassen. Erst in der Zeit vor Gluck regen sich die ersten Versuche, auch die dramatische Handlung selbst in das Akkompagnato hineinzuziehen, womit sich natürlich der weiteren Entwicklung der Oper außerordentlich wichtige Aussichten eröffneten.

      Die textliche Grundlage für die Arien bilden die beiden lyrischen Vierzeiler, in die Metastasio fast regelmäßig seine Szenen ausklingen läßt. Der Idee nach sollten sie deren ganzen Empfindungsgehalt in einem lyrischen Erguß zusammenfassen und so den Zusammenhang mit dem Drama aufrechterhalten. Tatsächlich hat Metastasio dieses Ziel jedoch nur in einer Minderzahl von Fällen erreicht, und zwar deshalb, weil er als echter Rationalist wieder einmal über der Spekulation das Natürliche und Unmittelbare vergißt. Diese Arientexte sind der beste Beweis dafür, daß die ganze metastasianische Poesie nicht erlebt, sondern erdacht war. Die einen sind nicht viel mehr als bloße Schmuckstücke, sie gleichen rhetorischen Schnörkeln, mit denen die Szene zu guter Letzt noch abgeschlossen wird, so allgemein und verblasen ist trotz allem formalen Glanz ihr Inhalt. Man konnte derlei, wie dies tatsächlich auch häufig vorkam, ohne jeden Schaden aus einer Oper in die andere verpflanzen – es paßte in seiner Allgemeinheit zu allem, weil es im Grunde zu nichts paßte. Aber auch da, wo der Dichter auf die betreffende Situation näher eingeht, läßt er die Gefühle und Leidenschaften, die er schildern will, oft erst durch das Medium des Verstandes hindurchgehen. Seine Helden geben ihren Gefühlen nicht unmittelbaren Ausdruck, sondern stellen verstandesmäßige Betrachtungen darüber an und reden in Bildern und Gleichnissen, statt ihr eigenes Innere zu enthüllen. Diese virtuos ausgeführten Gleichnisarien, die ihre Bilder mit Vorliebe dem Meere entnehmen, sind erzrationalistische Erzeugnisse und haben nicht nur in der Dichtung, sondern auch in der Musik die freie Entfaltung der schöpferischen Phantasie lange hintangehalten.

      Es war kein Wunder, daß diese Umstände einem weiteren Feind des Dramas in der Oper, dem Gesangsvirtuosentum, die Eroberung seiner Herrscherstellung auf der Bühne wesentlich erleichterten. Die Sänger neigten dazu, die Arien lediglich als Substrat für die Entfaltung ihrer Künste zu betrachten; sie veranlaßten die Komponisten, auf ihre Forderungen Rücksicht zu nehmen, und es kam häufig vor, daß einem Sänger zuliebe in eine Oper Arien aus anderen Werken, ja, von fremden Komponisten eingelegt wurden24.

      Die Musiker hatten dem allem gegenüber einen äußerst schweren Stand. Es hat wirklich unmittelbar nach Scarlatti eine Zeit gegeben, wo sie das schwache Band, das Drama und Musik noch verknüpfte, einfach vollends zerrissen und ohne Rücksicht auf das Drama selbstherrlich die sinnlichen Reize ihrer Kunst nach allen Richtungen hin spielen ließen, und auch in der späteren Zeit kommen noch häufig genug Entgleisungen ins rein Musikalische vor. Nur darf darüber das wahrhaft Bedeutende nicht vergessen werden, das diese Arienmusik, und zwar in stetig wachsendem Maße, enthält. Die Komponisten haben es je länger je besser verstanden, nicht allein aus Metastasio alles herauszuholen, was irgendwie eines tieferen Empfindungsausdruckes fähig war, sondern sie sind auch häufig durch den Wust rationalistischer Reflexionen und Vergleiche hindurch auf das betreffende Gefühl selbst vorgedrungen: wo der Dichter z.B. einen Verzweifelten seine Lage mit der eines Schiffbrüchigen auf wilder See vergleichen läßt, da schildern sie nicht mehr Wind und Wellen, sondern die Verzweiflung selbst. Sie verhalten sich also ihrem Texte gegenüber selbst schöpferisch und stellen so von sich aus den dramatischen Zusammenhang her, den der im Rationalismus steckengebliebene Dichter versäumt hat; die individuelle Situation, die jenem nur verstandesmäßige Bilder entlockt hat, wird für sie zum wirklichen inneren Erlebnis. Gewiß ist ihnen das nicht immer und überall geglückt, und gerade in den Gleichnisarien sind sie häufig genug beim Nachmalen des äußeren Bildes stehen geblieben. Aber daß es ihnen überhaupt gelungen ist, und daß sie sich mehr und mehr dieser ihrer schöpferischen Aufgabe auch bewußt wurden, das erhebt ihre Leistungen hoch über den Vorwurf der Schablonenarbeit und der Afterkunst hinaus, mit dem man in früheren Zeiten gerade ihnen gegenüber nur allzu rasch bei der Hand war. Es steckt in ihren Opern, auch was die Arien anbelangt, ein reicher Schatz echter, d.h. seelisch erlebter Kunst, die heute noch Stich hält. Da sie aber echt dramatisch ist, verlangt sie zu ihrem vollen Verständnis auch die Kenntnis der ganzen, großen Zusammenhänge. Vor dem öden Lattenzaun der sog. Nummerneinteilung, in den manche Opern, selbst die Gluckschen, in so vielen modernen Ausgaben noch eingefangen werden, kann nicht dringend genug gewarnt werden.

      Bei dem weiten Spielraum, den auf diese Weise der Musiker in den Arien erhielt, ist es nur natürlich, daß der Hauptunterschied der neapolitanischen Arie gegenüber der venezianischen in der größeren Ausführlichkeit liegt. Die Venezianer sagen nur das Notwendigste, sie begnügen sich oft nur mit skizzenhafter Andeutung. Die Neapolitaner dagegen lieben es, sich auszubreiten und bei ihren Gedanken zu verweilen. Sie legen ihre Arienthemen von Hause aus weit größer an und suchen ihren Gehalt nicht bloß zu streifen, sondern voll auszuschöpfen. So entstehen breit ausgeführte, vertiefte Seelengemälde, an denen die Kunst der Variation und der Durchführung einen reichen Anteil hat. Grundsätzlich gehört ja auch die Koloratur zu diesen Ausdrucksmitteln25. Freilich war sie, die an und für sich gerade dem Drama so treffliche Dienste hätte leisten können, bereits zu Caccinis Zeiten zur Schmarotzerpflanze am Stamme der Oper geworden. Die Ansprüche des Gesangsvirtuosentums haben sie vollends zum Selbstzwecke gemacht, und auch die Instrumentalmusik begann nunmehr einen merklichen Einfluß auf sie auszuüben, insofern der Sänger seinen Stolz dareinsetzte, mit dem virtuosen Konzertieren der Instrumente in Wettbewerb zu treten. Dieses Koloraturengepränge hat dem Ansehen der ganzen Gattung am meisten geschadet, wenngleich nicht vergessen werden darf, daß neben Auswüchsen im Stile von Mozarts "Marternarie" in der "Entführung" auch Beispiele echt dramatischer Verwendung stehen.

      Den Zusammenhang mit der Volksmusik hat auch Scarlatti nicht gelöst. Nur tritt jetzt an Stelle der venezianischen die neapolitanische mit ihren Sicilianos, Vorschlägen, Schleifern, abgerissenen Phrasenschlüssen, Triolen usw. Aber diesem volkstümlichen Ton hält bei ihm ein ernster, charaktervoller, oft leidenschaftlicher Grundzug und ein feiner Sinn für poetische Formgebung erfolgreich die Waage. Auch sein genaues Eingehen auf den Empfindungsgehalt im einzelnen beweist, daß er es mit dem Drama in der Oper ernst genommen hat.

      Die Form der dreiteiligen, sog. Da-capo-Arie, die für die Neapolitaner die Arienform schlechtweg ist, war schon um 1650 im Gebrauch und begann unter den späteren Venezianern, wie Pallavicino und Steffani, bereits das Übergewicht in der Oper zu erringen26. Sie besteht aus drei Teilen, von denen der dritte nur eine Wiederholung des ersten ist, nur daß der Sänger hier die Melodie von sich aus neu zu verzieren hatte, wie denn überhaupt das italienische Publikum bei jeder, auch der durch Beifall veranlaßten Wiederholung einer Arie vom Sänger immer wieder neue Proben seiner Improvisationskunst im Verzieren erwartete. Dem ersten Teil lag der erste, dem zweiten, stets weit kürzeren, der zweite Vierzeiler des

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