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es von innen. Es zerriss so laut, dass ich mir Sorgen machte, er könnte es hören.

      Ich hatte immer gedacht, ein Herz fühle sich leer an, wenn es verletzt wird. Doch als sich die besagten Ereignisse in meinem behüteten Zuhause abspielten wie ein Drama auf der Leinwand, musste ich lernen, dass es sich eher anfühlte, als würde das Herz riesig und untragbar schwer, fast so, als würde es einen von innen erdrücken, sodass für nichts anderes mehr Platz blieb. Soweit ich mich erinnern kann, hörte ich ein paar Sekunden sogar auf zu atmen. Die Zeit stand still, und ich kämpfte mit den Tränen, die unaufhaltsam in meine Augen vordrangen.

      »Du kannst weinen«, flüsterte Didi fast schon einfühlsam und gab mir damit das Zeichen, auf die Knie zu sinken und die Tränen zuzulassen.

      »Aber warum?«, wiederholte ich schluchzend alle paar Sekunden. Mein Körper zitterte, und ich war in einem völligen Schockzustand. Widerwillig zeigte mir mein Bruder die Wunde, die er sich mit einem Samuraischwert am Bauch zugefügt hatte. Der Schnitt war tief, aber nicht tief genug, um in Lebensgefahr zu schweben. Didi verarztete sich selbst, setzte sich ans Bettende, atmete schwer und begann endlich zu sprechen.

      Seine Antwort machte aus mir den Menschen, der ich heute bin.

      Er erklärte mir, wie er die Welt sah, wie ihn die Menschheit anwiderte und dass er der Meinung war, die Menschen wüssten all die Wunder, die sie umgaben, gar nicht zu schätzen. Zerstörten sie sogar. Er sagte: »Keiner will was von der Welt sehen, alle drehen sich nur um ihre eigene Achse!« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu, dass ihn auch mein Lebensstil in dieser »falschen Welt« anekelte und es ihn jeden Tag stresste, wie ich meine Zeit mit Klatschzeitschriften, Make-up, Alkohol und Zigaretten vergeudete. Seine Worte trafen mich wie Messerstiche. Alles, was über seine Lippen kam, zerrte mein Leben unwiderruflich in eine neue Richtung. Ich war nicht mehr derselbe Mensch wie zuvor.

      Am nächsten Tag erwachte ich nach einer, vielleicht zwei Stunden Schlaf. Für einen Augenblick fühlte es sich an, als wäre alles nur ein böser Traum gewesen. Meine verschwollenen Augen holten mich allerdings in die Realität zurück.

      ›Dein Lebensstil widert mich an‹, hallte seine Stimme in meinem Unterbewusstsein nach.

      Ich ging zu meiner Handtasche und leerte den Inhalt auf meinem Bett aus. Make-up, Flyer für irgendwelche unwichtigen Partys, Zigaretten und viele weitere unnütze Dinge nahm ich Stück für Stück in die Hand und warf sie direkt in den Papierkorb. Das Rauchen gab ich an dem Tag für immer auf. Den Großteil meiner Kleidung verschenkte ich, und was übrig war, ging in die Altkleidersammlung. Nur das Nötigste behielt ich.

      Von diesem Tag an versuchte ich, mein Leben bewusster zu leben, und versprach mir, die ganze Welt zu bereisen und so viel Gutes weiterzugeben wie nur in meiner Macht stand. Meine erste Mission sollte es allerdings sein, meinem Bruder Lebensfreude zu schenken. Wir verbrachten fast jeden Tag miteinander, und meine Priorität war es, ihn von den Suizidgedanken zu befreien. Ich wollte für ihn ein Beispiel für Veränderung darstellen und ihm beweisen, dass die Welt sich bessern kann, wie auch ich es konnte. Es kam der Moment, an dem ich mir sicher war, dass es ihm besser ging, und ich mich auf meinen eigenen Weg begeben musste.

      Wenig später – ich hatte meine schulische Laufbahn schon vor einiger Zeit unfreiwillig abgebrochen – machte ich mich auf meine erste große Reise, per Anhalter in den Süden Spaniens, nach Andalusien. Von dem Moment an kannte ich kein Halten mehr. Je mehr ich reiste, desto kleiner erschien mir das Land, in dem ich damals lebte, und ich fühlte mich in Deutschland fast schon eingeengt. Der Wunsch, auszubrechen und mehr zu sehen, wurde immer größer. Ich wollte eine andere Welt auf demselben Planeten erleben.

      Diese Gedanken waren schon immer in mir gewesen. Ich kann mich noch genau an unsere ersten Familienurlaube erinnern. Der Moment, wenn man aus dem Flugzeug steigt und wie gegen eine Wand läuft aus hoher Luftfeuchtigkeit, fremden Gerüchen und neuen Energien.

      Die Kinder, mit denen ich mich im Familienurlaub anfreundete, schienen immer Heimweh zu haben und freuten sich aufs Nachhausefahren. Sie erzählten freudig von ihren Freunden, Klassenkameraden und Lieblingsspielplätzen. Doch in mir löste der Gedanke an die Heimfahrt immer nur Panikattacken aus. Jedes Mal überlegte ich, wo ich mich verstecken könnte, sodass meine Mutter mich vielleicht in dem fremden, aufregenden Land zurücklassen würde. Ich hatte mehr Angst vor der Langeweile des Gewohnten als vor der Gefahr des Unbekannten.

      Es fühlte sich so an, als wäre das immer mein Weg gewesen, aber das Leben in München, in der Gesellschaft, der ich mich nie zugehörig fühlte, hatte mich zu etwas gemacht, was ich nie sein wollte. Mein Bruder hatte mich aus meinem falschen Leben geholt und wieder auf den Weg gebracht, der für mich bestimmt war. Er hatte es mit Schmerz und einer unfassbar traumatischen Erfahrung geschafft, aber er hatte es geschafft, und dann ging er. Drei Jahre später nahm er sich letztendlich doch sein Leben. Durch die Veränderung, die er in mir bewirkt hat, lebt er für immer in mir weiter.

      Erste Schritte in Richtung Freiheit

      VON LONDON NACH DOVER

      Langsam hatte ich mich von meiner Abschiedsfeier vor zwei Tagen erholt und war bereit. Die ganze Zeit hatte ich versucht, nicht viel über meine Reise nachzudenken, um mich nicht im Voraus zu stressen und in Panik zu verfallen, aber nun war ich tatsächlich etwas ungeduldig.

      Ich kann nicht zählen, wie viele dieser Abschiedsfeiern ich in meinem Leben schon hatte. Immer wieder war ich aufgebrochen und im Kreis durch Europa getrampt. So vieles hatte ich gesehen, so viel fremde Kultur aufgesaugt, im jungen Alter schon. Es fühlte sich fast schon wie eine Routine an, meinen Rucksack immer wieder ein- und auszupacken und mich, wie gejagt, von einem Ort zum anderen zu bewegen.

      Aber diesmal war alles anders, und ich ging die Sache ruhig an. Ich war nicht gehetzt, ganz im Gegenteil fühlte es sich fast schon wie in Zeitlupe an. In mir herrschte ein ungewohntes Gefühl der Gelassenheit. Aufmerksam versuchte ich, jede Etappe der Reisevorbereitungen zu genießen. Alles geschah bedacht.

      Zum gefühlt hundertsten Mal sah ich die Weltkarte und meine Route an. Sofort fühlte ich mich, als würde ich leuchten; das gleiche Leuchten hatte ich bei der Geburt dieser verrückten Idee verspürt. Kurz grunzte ich lachend auf, als mir klar wurde, was ich da eigentlich vorhatte. Ich konnte spüren, dass ich jedes bisschen Liebe und Hoffnung auf dieses Stück Papier vor mir projizierte.

      Fast keines der Länder, die ich durchqueren würde, hatte ich schon mal besucht. Jede Kultur war mir vorerst fremd, jeder Geruch undefinierbar und jedes Klima eine Herausforderung.

      Ich wurde dauernd gefragt: »Hast du denn keine Angst?«

      Meine Antwort war allerdings immer die gleiche: »Wovor denn? Vor der Welt, auf der wir alle zu Hause sind? Was ist schon das Schlimmste, was passieren kann? Dass ich sterbe?! Wieso sollte ich davor solche Angst haben, dass ich lieber meinen Traum wegwerfe und unglücklich vor mich hin existiere? Sterben … das werden wir alle irgendwann. Ich habe mehr Angst davor, dass ich sterbe, ohne mein Leben und meine Träume gelebt zu haben, ohne gesehen zu haben, was ich immer sehen wollte, ohne etwas zu fühlen, ohne dem Tod einmal ins Auge zu blicken, ohne Adrenalin zu spüren und zu wachsen. Ich habe Angst, mich lebendig tot zu fühlen, weil ich nichts Erfüllendes erlebt habe. Träumen ist ein schöner Zustand, aber Fühlen, Schmecken, Sehen und Riechen sind, was Leben bedeutet. Ich bin bereit dafür, alles zu riskieren, denn wenn mir etwas passiert, dann wenigstens während ich das tue, was ich liebe, und nicht während ich tue, wodurch ich mich lebendig tot fühle.«

      Es war so weit. Südlich von London stieg ich aus der Bahn und folgte dem Weg in Richtung Autobahn. Ich fühlte eine unvergleichliche Freiheit. Das Gefühl, alles machen zu können und überallhin gehen zu können. Keine Verpflichtungen, die mich nachts wachhielten, kein Job, dem ich nachgehen musste, keine Miete, die anfiel.

      An der Autobahnauffahrt angekommen, brannte die Sonne mir bereits um diese frühe Uhrzeit auf der Haut, mein Rucksack war schwer, und die Träger drückten auf meine Schultern. Ich war klatschnass vom Schweiß, aber all das störte mich nicht. Ich überquerte die Straße, um in einem Pub nach einem Stift und einem Stück Karton zu fragen. Die Frau an der Bar sah meinen Rucksack und

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