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dem Rhythmus der gleitenden Wellen an. Sand wurde vom Wind über den Boden und durch die Luft gewirbelt, und sicher war nur, dass er nie wieder in seine alte Konstellation zurückfinden würde. Ich dachte an mein Leben und London und daran, wie es sinnbildlich auch dort passte.

      Die Möwen stritten sich um die ersten Fische an diesem Morgen und tauchten im Tiefflug kurz unter die Wasseroberfläche. Ohne klar denken zu können, sah ich der Szene so lange zu, bis mir die Augen fast zufielen. Es war Zeit, zu schlafen, hier und jetzt, und auf einmal war ich froh, kein Hotelzimmer zu haben. Ich legte meinen erschöpften Körper in den kühlen Sand, und meinen Rucksack umarmte ich liebevoll wie einen Freund. Zugedeckt mit drei Kleidungsstücken erlaubte ich es meinen Augen, zuzubleiben. Mein letzter Gedanke, bevor ich einschlief, war, dass ich die Nacht an einem sicheren Ort verbringen wollte. Noch war ich nicht bereit dazu, eine komplette Nacht allein im Freien zu verbringen. Noch war ich nicht die Vagabundin, die ich gerne wäre, aber genau deswegen war ich aufgebrochen. Dies waren meine ersten Schritte. Innerhalb von Sekunden sank ich in einen mit Menschenworten unbeschreiblichen Tiefschlaf.

      Stunden später wachte ich schwitzend und nach Luft schnappend auf, begraben unter den Lagen an Kleidung, die ich mir in der kühlen Morgenluft drübergeschmissen hatte. Sand klebte in meinem Gesicht und hatte sich in meine Augen und Nasenlöcher verirrt. Ich versuchte, ihn rauszufieseln, um meine Sicht wiederzuerlangen, doch rieb ich ihn dadurch nur noch mehr hinein. Nach einem kurzen Kampf und vielen verlorenen Tränen konnte ich wieder sehen, und der normale Strandalltag war im vollen Gange: Leute in Badesachen, kleine, lebendige Cafés, schwitzende Jogger und Hunde, die im Sand buddelten.

      Es hatte mittlerweile über 30 Grad, und auf mir lagen immer noch drei Lagen Klamotten. Als ich aufstand, sahen alle zu mir rüber. Ich muss ausgesehen haben wie eine Verrückte mit meinen zerzausten Haaren, tränenden Augen, rot glänzendem Gesicht und dann auch noch warm bekleidet bei der Hitze. Und wer weiß, vielleicht war ich das auch.

      Ich blickte auf das Meer und konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. An diesem Tag hätte ich mir keinen besseren Ort zum Aufwachen wünschen können. Hektisch versuchte ich, mir die Kleidung vom Leib zu reißen, und rannte in Unterwäsche laut lachend ins Meer. Wie ein Kind planschte ich in dem klaren, ruhigen Wasser und erinnerte mich kurz daran, dass ich normalerweise gerade in meiner weißen Uniform zur Arbeit gehen würde, um den Leuten fettige Burger zu servieren und auf Trinkgeld zu hoffen.

      Das Salzwasser brannte auf meinen wunden Schultern – der Rucksack hatte gestern seine Spuren hinterlassen. Behutsam strich ich über die gestressten Stellen. Es war ein seltsamer Moment, denn ich fühlte zum ersten Mal wahrhaftig Dank für diesen Körper, der mich durch mein Leben schleppte. Diese Schultern, die so viel zu tragen haben. Die Beine, die laufen und laufen, so weit ich möchte. Die Hände, meine fleißigsten Helfer. Es war das erste Mal, dass ich diese Verbundenheit spürte und meinen Körper nicht nur oberflächlich beurteilte. Mein Körper war mein Freund, mein Kumpane, mein Tempel, mein Zuhause und mein Schutz. In diesem Moment gab ich mir das Versprechen, dass ich mich dementsprechend um ihn kümmern würde.

      Die eifrige Sonne trocknete mich, während ich ohne Handtuch am Strand lag. Im Anschluss machte ich mich auf die Suche nach einer öffentlichen Toilette, um mir die Zähne zu putzen und meine Reise fortzusetzen. Solche Kleinigkeiten wie Zähneputzen an öffentlichen Orten fühlten sich nach Freiheit an. Mit Sand in den Ohren und Salzwasser in den Haaren spazierte ich lächelnd und barfuß durch die kleinen Seitenstraßen am Strand. An einem kleinen Stand blieb ich stehen, um mir Früchte zu kaufen, die ich mir auf einer Holzkiste im Schatten eines Baumes am Straßenrand schmecken ließ. Frisch gestärkt entschied ich, dass ich mich auf den Weg machen sollte.

      Nach einem halbstündigen Fußmarsch bei über 30 Grad im Schatten erreichte ich ein Fastfood-Restaurant direkt an der Autobahn. An der Kasse fragte ich nach einem Wasser und einem Stift. Obwohl ich nicht erwähnt hatte, dass ich trampte, brachte mir der Kassierer, der so jung war, dass er noch eine Zahnspange trug, auch ein großes Stück Pappe zum Beschriften. Schien an diesem Ort kein unüblicher Wunsch zu sein, denn alle grinsten mich aus der Küche an und hoben ihre Daumen. In Frankreich hatte ich bisher immer nur gute Erfahrungen beim Trampen gemacht. Viele Male war ich durch dieses wunderschöne Land gereist, wenn ich nach Spanien oder wieder zurück nach Deutschland wollte. So gut wie immer waren die Fahrten hier äußerst entspannt verlaufen.

      Ich bedankte mich bei dem Kassierer mit der Zahnspange, schrieb ›Belgium‹ in Großbuchstaben auf das Pappschild und malte einen Smiley daneben. Die Menschen hier reagierten, wie nicht anders erwartet, unfassbar freundlich auf meinen Anblick. Fast in jedem Auto saß jemand, der hupte, winkte, »viel Glück« aus dem Fenster schrie oder sich entschuldigte, weil er keinen Platz oder ein anderes Ziel hatte. Als ich dastand und die vorbeifahrenden Autos mich in gute Laune versetzten, fiel mir auf, dass ich unterbewusst immer noch ein wenig steif war. Nach monatelangen strengen Arbeitswochen und Routinen konnte ich nicht ganz loslassen. In mir war das Gefühl verankert, jederzeit in die Arbeit zu müssen und einem Zeitplan zu folgen. Es war in unserer Gesellschaft ungewöhnlich, sich nicht an bestimmte Zeiten halten zu müssen.

      Der Fahrer eines kleinen Militär-Jeeps riss mich aus meinen Gedanken. Er nahm Blickkontakt auf und fegte mit seinen Armen verzweifelt irgendwelche Gegenstände vom Beifahrersitz. Nach einiger Zeit schien er aufzugeben, denn er signalisierte mir, dass er keinen Platz hätte. Doch diese Antwort akzeptierte ich nicht und winkte ihn trotzdem zu mir. Meine Überzeugungskraft funktionierte aus der Entfernung einwandfrei. Er riss sein Lenkrad zur Seite und fuhr quer über zwei Spuren in meine Richtung, beinah auch über eine ältere Dame auf ihrem Fahrrad, die völlig entsetzt etwas auf Französisch rief. Mit quietschenden Reifen brachte er sein Fahrzeug neben mir zum Stehen. Fast hätte er mit seiner Aktion ein veritables Verkehrschaos ausgelöst. Wie ein aufgedrehter Welpe sprang er aus dem Fahrzeug, stellte sich vor und fing direkt an, seine Sachen umzuräumen. Er wühlte sich durch die seltsamsten Gegenstände, und ich sah ihm amüsiert zu. Verwirrenderweise konnte ich ihn nicht sofort einordnen. Er war attraktiv, hatte einen Vollbart, sprach mit amerikanischem Akzent Englisch, behauptete aber, Italiener zu sein. Sein Auto war vollgepackt mit ungewöhnlichen Dingen wie zum Beispiel einem Magierhut, einer Jacke aus Federn und anderen Gegenständen, die alle fast schon mittelalterlich wirkten. Diese Art von Menschen sind mir die liebsten, denn man kann sich absolut nicht zusammenreimen, was ihre Geschichte ist. Ich konnte es kaum erwarten, mehr über ihn zu erfahren.

      Nachdem Sack und Pack in den Kofferraum und auf die nicht vorhandene Rückbank gestopft worden waren, konnte ich endlich einsteigen. Meinen 80-Liter-Backpack musste ich allerdings auf dem Schoß behalten, denn so viel Platz war dann leider doch nicht. Wir düsten los in Richtung Belgien, und nachdem ich die letzten Stunden keine Gesprächspartner gehabt hatte, war ich ganz hibbelig vor Neugier und löcherte Dave mit Fragen. Irgendwann fiel natürlich auch die Frage, wieso er all diese seltsamen Sachen dabeihatte. Er sagte, dass er Schauspieler auf Mittelalterveranstaltungen sei und gerade aus Schottland nach Hause fahre. Zu Hause war für ihn Mailand.

      Einige gute Gespräche und unzählige Country-Songs später überquerten wir die Grenze nach Belgien. Es war ein wunderschöner sonniger Tag. Eine leichte Brise wehte durch die Fenster, und die Landschaft leuchtete in allen Farben, die der frühe Herbst zu bieten hatte. Dave erwähnte nebenbei, dass er noch bei einem alten Bekannten in Nieuwpoort halten und erst am nächsten Tag weiter Richtung Brüssel fahren würde. Ich wollte eigentlich heute schon in Brüssel ankommen und hatte mich mal wieder auf den Gedanken versteift. Aber plötzlich erinnerte ich mich daran, dass ich genau das ablegen wollte: dieses Plänemachen. Dave bot mir an, mit ihm bei seinem Freund an der belgischen Küste zu übernachten.Wieso sollte ich nicht einfach mit dem Flow gehen? Es fühlte sich richtig an, und wir hatten uns noch viel zu erzählen.

      Als wir an der Adresse ankamen, die Dave per SMS bekommen hatte, standen wir vor einer Kirche. Vom Gastgeber war weit und breit keine Spur. Verwirrt sahen wir uns um und überprüften zum wiederholten Mal die Adresse auf dem kleinen, zerkratzen Bildschirm. Die Kirchentür war verschlossen, also blieb uns nichts anderes übrig, als unter dem Apfelbaum im Vorgarten Schatten zu suchen und zu warten.

      Es dauerte 20 Minuten, bis ein junger, rund gebauter Mann in der Ferne auftauchte. Grinsend stapfte er auf uns zu und hüpfte schließlich fast vor Freude. Seine roten Backen glühten unter seinem langen,

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