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eine Kneipe werden. Nach dem ganzen Stress hatten wir einen Durst, den nur Bier stillen könnte. Wir fuhren durch die warm beleuchteten Straßen und tauchten ein in ein hip aussehendes Viertel. Viele kleine Bars, modern gekleidete junge Menschen und unterschiedliche Musikrichtungen trafen hier aufeinander und erzeugten ein einzigartiges Getöse. Wir betraten die erste Bar, und wie schon in der Stube des Wachmanns stieg mir sofort der Zigarettenrauch in die Nase. Da saßen sie in der kleinen, nicht durchlüfteten Kneipe und pafften genüsslich eine Zigarette nach der anderen, als hätten sie das Wort Nichtraucherschutz noch nie gehört. Hatten die nicht dieselben Gesetze wie der Rest Europas?

      »Hey Kau, ich muss hier raus. Ich kann kaum atmen … Suchen wir eine andere Bar, wo nicht geraucht wird!«

      Anscheinend hatte ich laut genug gesprochen und war nicht die einzige deutschsprachige Person in dem Raum, denn ein Mann mit Topffrisur wandte sich zu mir mit den Worten: »Eine Bar, in der nicht geraucht wird? In diesem Viertel? Dann wünsch ich euch mal viel Glück.«

      Sein Kommentar brachte uns einen kleinen Augenblick lang zum Innehalten, hinderte uns aber nicht daran, das zugerauchte Lokal zu verlassen. Ohne uns weiter Gedanken zu machen, wechselten wir die Straßenseite und steuerten guter Dinge auf die nächste Bar zu. Sie war außen mit kleinen Laternen geschmückt und wirkte warm und einladend. Aber sobald wir die Tür öffneten, wiederholte sich das Szenario und bestätigte, was der Topfkopfjunge uns zugeraunt hatte: Anscheinend gab es hier keine Bar ohne Krebs. Wir gingen zur Theke, bestellten zwei Prager Pils und setzen uns raus in die Kälte. Doch der Metallhocker vor der Tür fühlte sich kälter an als die Lufttemperatur und war auch ein wenig instabil. Wir hatten keine andere Wahl, als zu stehen. Nach der langen Autofahrt war mir aber sowieso nicht nach Rumsitzen zumute.

      Ich hatte mir eigentlich angewöhnt, überall hinzulaufen, wenn ich schon per Anhalter unterwegs war. Sonst liegt man am Ende des Tages im Bett – jedenfalls wenn man Glück hatte in einem Bett –, versucht sich auszuruhen, ist aber körperlich völlig unausgelastet. Der Kopf ist erschöpft, man war schließlich den größten Teil des Tages damit beschäftigt, andere Menschen zu amüsieren und zu unterhalten, der Körper allerdings ist unausgelastet und braucht Auslauf wie ein junger Hund. Als wir noch gemeinsam per Anhalter Europa unsicher machten, haben Kau und ich uns oft als Scherz erlaubt, den Leuten zu erzählen, dass wir in der »Entertainment-Branche« tätig seien. Wir hatten damals oft das Gefühl, dass wir in den Autos all dieser fremden Menschen eine Art Job ausübten: Viele wollten uns mitnehmen, weil ihnen langweilig war und weil sie unterhalten werden wollten. Hin und wieder fühlten sich Menschen in unserer Gegenwart so wohl, dass sie sich öffneten und die privatesten Geschichten offenbarten. Nicht selten wurden sie richtig emotional und führten lang aufgestaute Gespräche mit uns. Ich denke, das ist auch das Prinzip eines Psychologen. Man kann einem Fremden einfach besser erzählen, was in einem vorgeht und einen beschäftigt als jemandem, der voreingenommen den Geschichten lauscht.

      An diesem Abend vor der Bar fühlte ich mich allerdings bereit, in Richtung Bett zu steuern. Um diese Uhrzeit wollte ich auch keinen langen Spaziergang mehr anstreben, denn morgen würde ein langer Tag werden. In 24 Stunden wollte ich schon in Polen angekommen sein, und Kau musste wieder nach München, in ihre Realität zurück. Wir beobachteten die jungen Menschen um uns herum und fühlten uns dabei alt. Mit großen Schlucken tranken wir unser Bier aus. Die Müdigkeit stand uns ins Gesicht geschrieben: saftige blaue Augenringe, und wir gähnten um die Wette.

      Kau buchte uns eine kleine, niedliche Ferienwohnung im Herzen der Stadt. Die Wohnung war mit einer Dachterrasse ausgestattet, von der aus man fast die ganze Stadt betrachten konnte. Wir gönnten uns noch ein heißes Bad und jede eine weitere Flasche Bier, während die Lichter der alten Stadt lebendig und unerschöpflich flackerten. Ich saß noch eine Weile allein am Fenster, das sich über die ganze Wand zog, und träumte wach vor mich hin. Es war schön, die verrückten Partynächte, für die Prag bekannt ist, in diesem Moment nur in meiner Vorstellung mitzuerleben. Mit einem Lächeln knipste ich die tief hängende Deckenleuchte aus und ging ins Schlafzimmer. Kau lag eingekuschelt in der kitschig bezogenen Bettdecke, und die Melodie ihres Schnarchens wog mich ein letztes Mal in den Tiefschlaf.

      Der nächste Morgen begann hektisch. Check-out sollte um 10 Uhr sein, und wir schliefen bis 9:53 Uhr. Um 10:27 Uhr verließen wir endlich das Apartment und entschuldigten uns aufrichtig bei der Putzhilfe, die geduldig und tatsächlich auch noch lächelnd vor der Tür gewartet hatte.

      Das Wetter war mild, und das nahmen wir uns zum Anlass, länger die kleinen Straßen zu durchforsten als geplant. Schließlich war es an der Zeit, aufzubrechen: Als wir uns der Autobahnauffahrt näherten, von der aus wir in verschiedene Richtungen weiterfahren wollten, flachte die Stimmung im Auto ab. Uns wurde bewusst, dass ein Wiedersehen erst mal nicht in Aussicht war. Ich würde auf unbestimmte Zeit in die entgegengesetzte Richtung reisen, ans andere Ende der Welt. Immer wieder blickte ich rüber zu Kau und sah, wie sie mit den Tränen kämpfte. Mittlerweile war auch die Sonne komplett vom Himmel verschwunden, und die graue Umgebung heiterte den emotionalen Moment kaum auf. Kau war schon immer nah am Wasser gebaut gewesen, doch diesmal zerriss es mir das Herz, sie so zu sehen. Ich konnte sehen, wie gerne sie einfach mitgekommen wäre. Doch bei ihr ging es mir ähnlich wie bei Marcel vor ein paar Tagen: Selbstverständlich war ich ein wenig traurig, meine Liebsten so hinter mir zu lassen, und besonders berührte es mich, meine Freunde und Familie traurig oder besorgt zu sehen. Aber auf der anderen Seite blickte ich voll Vorfreude und Aufregung auf die Zukunft und auf jeden Kilometer dieser Reise, der vor mir lag. Pures Glück tanzte in mir, und die einzigen Tränen, die zu vergießen ich mir vorstellen konnte, waren Tränen der Freude. Etwas in mir versprühte Ruhe und die Gewissheit, dass alles gut werden und ich an einem unbestimmten Tag in ferner Zukunft zurückkehren und allen meinen Liebsten von meinen Abenteuern berichten würde. Es war natürlich nur eine Vermutung, denn ungefährlich war mein Vorhaben nicht, und ich wusste auch nicht wirklich, was mich erwarten würde, welche Gefahren da draußen tatsächlich lauerten und welche Steine sich mir in den Weg legen würden.

      Während ich Kau in der Nähe der Autobahnauffahrt im Arm hielt, saugte mein Schal ihre Tränen auf. Sie schluchzte laut und drückte mich fest an sich. Meine Augen waren geschlossen, und in dem Moment fiel mir auf, dass ich selten so eine Umarmung von ihr erhalten hatte. Ich genoss es, diese Art von Liebe zu spüren, und hatte das Gefühl, dass sie mich auf meinem Weg begleiten und nicht loslassen würde. In meiner Vorstellung waren ihre Tränen, die sich in den Fasern meines Schals verteilten, wie ein Schutzschild: Sie blieben an mir haften und ließen mich guten Gewissens zur Raststätte laufen, um mein erstes Auto in Richtung Polen anzuhalten.

      Wurzeln und Wunden

      VON KATOWICE NACH ŚWINOUJŚCIE

      Eine lange graue Betontreppe überbrückte die Autobahn. Unter der Brücke versteckte sich eine kleine, nicht gut besuchte Tankstelle. Bevor ich mich auf den Weg dorthin machte, beobachtete ich von oben die vorbeirasenden Autos und Lkws. Um mich herum bestand die Szenerie aus Plattenbauten und Industriegebäuden mit heftig rauchenden Türmen. Das Meer aus Grau ließ mich die Stirn runzeln. ›Ich sollte mal langsam los‹, dachte ich nach einem Blick in Richtung Himmel. Es sah nach baldigem Regen aus.

      Ein Auto fuhr auf den Tankstellenparkplatz, und ich lief los. Unten angekommen, bemerkte ich auf dem Beifahrersitz einen kleinen Jungen, vielleicht neun Jahre alt. Der Fahrer, von dem ich vermutete, dass er der Vater des Kindes war, sah ziemlich spießig aus: Regenjacke, Brille, Bürohaarschnitt, kleine Lederschühchen mit dünnen Schnürsenkeln und diese Art von Jeans, von der man weder Farbe, Modell noch Schnitt definieren konnte. Ich öffnete meine Übersetzungs-App und prägte mir ein, wie man ›Wo fahren sie hin?‹ fragt.

      »Kam jdeš?« Unsicher war ich um das Fahrzeug herumgeschlichen und hatte den Mann mit der Frage überrascht, während er etwas in seinem Kofferraum suchte. Dreimal musste ich die Frage wiederholen, da er mich nicht verstand. Mit jedem Mal wurde ich leiser und unsicherer, weil ich nicht wusste, ob das Übersetzte richtig war. Nach dem letzten Versuch sah er mich an und begann, mir etwas auf Tschechisch zu erzählen. An dem Punkt versuchte ich ihn zu bremsen, da ich natürlich kein Wort verstehen konnte. Etwas beschämt fragte ich: »English?«

      Er lächelte und antwortete:

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