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fand man nicht viele Menschen, die Englisch sprachen, und manche waren auch einfach nicht willens, in einer anderen Sprache zu kommunizieren. Zu meinem Glück musste der Mann – sein Name war Bartek – in meine Richtung und war bereit, mich mitzunehmen.

      Sein kleiner Sohn hielt sich anfangs mit der schüchternen Unschuld eines Kindes zurück, aber wie die meisten taute er nach kurzer Zeit auf und bat seinen Vater, seine Fragen an mich zu übersetzen. Erst wollte er Banales wissen, wie alt ich war oder wo ich herkam. Die Fragen wurden aber immer spezifischer und klangen für ein Kind in dem Alter fast tiefsinnig: »Wirst du dich nicht einsam fühlen, wenn du so lange allein sein wirst? Du wirst nichts sehen, was du kennst?!«

      Das brachte mich zum Nachdenken, und ich antwortete: »Bin ich denn jetzt gerade allein? Um ehrlich zu sein, kann ich mir nichts Schöneres vorstellen, als die nächsten Monate nur Dinge zu sehen, die mir neu sind. In deinem Alter entdeckt man doch auch immer wieder etwas Neues, fühlt sich das nicht schön an?«

      Bartek schenkte mir über den Rückspiegel ein bestätigendes Lächeln und übersetzte geduldig meine Antworten. Ihm und seinem Sohn schien die Unterhaltung Spaß zu machen, und die Zeit verging schnell.

      Wir kamen an eine Raststätte, an der die beiden mich rausließen, da wir in unterschiedliche Richtungen weitermussten. Bartek wollte noch tanken, und die Zeit wollte ich nutzen, um meine nächste Mitfahrgelegenheit zu finden. Mir wurde auf einmal bewusst, dass wir kurz vor der polnischen Grenze waren.

      Den Weg durch Polen hatte ich bewusst gewählt, weil dort meine Wurzeln lagen. Meine Eltern stammen aus Katowice, einer mittelgroßen, nicht besonders schönen Stadt, circa eine Stunde von Krakau entfernt. Früher gehörte Katowice zu Schlesien, und man stritt sich lange Zeit darüber, ob man es wirklich zu Polen zählen konnte oder ob es eher zu Deutschland gehörte. Der Gedanke, am Anfang meiner Reise noch mal mit meinen Wurzeln in Berührung zu kommen, gefiel mir, und zudem lebte mein Vater in Polen. Mit ihm hatte ich allerdings seit fünf Jahren nicht mehr gesprochen. Damals hatte ich den Kontakt ganz bewusst abgebrochen, denn ich war unfassbar wütend und verletzt.

      Als mein Bruder sich vor einigen Jahren das Leben genommen hatte, bekam ich den Anruf von meiner Mutter genau in der Zeit, in der ich dachte, dass es ihm besser ging. Didi und ich waren uns seit seinem ersten Suizidversuch damals sehr nahgestanden, und ich wusste als Einzige in der Familie, dass es den Versuch gegeben hatte und es nicht auszuschließen war, dass er es noch mal probieren würde. Dieses Wissen hatte ich nie mit jemandem geteilt, und es sollte bis zu seinem Tod unser Geheimnis bleiben. Am Tag seiner Beerdigung teilte ich dieses Geheimnis mit dem Rest meiner Familie. Ich wollte, dass sie verstanden, was in ihm vorgegangen ist und wer er wirklich war. Mein Vater verwendete es damals aus Wut gegen mich und behauptete, ich hätte ja »etwas tun können«. Die Vorwürfe, die ich mir selbst machte, waren schon Ballast genug, und seine Schuldzuweisung empfand ich als unfair.

      Mittlerweile war mein Bruder seit Jahren weg, und ich hatte damit Frieden geschlossen, soweit man mit so etwas eben Frieden schließen konnte. Dass mein Vater einen Schuldigen suchte, zeigte nur seine eigene Verzweiflung, was ich damals nicht so hatte sehen können, da ich selbst erschüttert war. Die ersten Jahre nach Didis Selbstmord hatte ich mir immer wieder selbst die Schuld gegeben, und deswegen reagierte ich umso allergischer auf die Anschuldigungen meines Vaters. Es war nicht, als hätte er Salz in meine Wunde gestreut, sondern als hätte er Essigsäure drübergeschüttet und versucht, sie in Brand zu setzen. Das Feuer hatte ich gelöscht und die Wunde verarztet, so gut es möglich war.

      Ich war das Küken in der Familie und war es nicht gewohnt, Verantwortung zu übernehmen und allein zu sein. Doch nach dem Tod meines Bruders kümmerte ich mich um die Bestattung, den Papierkram und die Kosten. Meiner Mutter ging es unfassbar schlecht, und ich wollte nicht, dass jemand in meiner Familie sich mit all den Dingen rumschlagen musste. Tief in mir wusste ich, dass mein Bruder das so gewollt hätte. Ich war davor das sorglose jüngste Kind der Familie gewesen und wurde über Nacht mit dem Schicksalsschlag erwachsen. Zum wiederholten Mal hatte mein Bruder mein Leben verändert und mir auf brutale Art und Weise gezeigt, wie man erwachsen wird.

      Wieso ich trotz der furchtbaren Anschuldigungen meines Vaters nach Polen wollte, um mit ihm zu sprechen? Mich hatte vor einem halben Jahr das Gerücht erreicht, dass mein Vater verstorben sei. Dieses war von Bekannten in die Welt gesetzt worden, die nicht weit weg von ihm wohnten. Sie hatten in einer Nacht beobachtet, wie ein Krankenwagen kam und meinen Vater mitnahm, und kurz darauf war seine Wohnung verkauft worden. Als ich damit konfrontiert wurde, löste es eine Welle von Emotionen in mir aus. Ich hatte in der Vergangenheit aus Wut Sachen gesagt wie »Soll er zur Hölle fahren« und »Es ist mir egal, was mit ihm ist und wie es ihm geht«. Aber in dem Moment, in dem es angeblich so war und ich dachte, nie wieder mit ihm sprechen zu dürfen, fühlte ich Trauer, und jedes Fünkchen Wut, das immer wieder in mir aufgeblitzt war, war erloschen. ›Wie schön es doch gewesen wäre, mich noch einmal mit ihm auszusprechen‹, dachte ich mir damals.

      Mein Vater ist ein sehr spezieller und unfassbar schwieriger Mensch, dessen Erziehungsmethoden aus Gewalt bestanden. Ich erinnerte mich an viele Situationen, in denen ich Angst hatte. Angst vor meinem Vater und davor, etwas zu tun, was ihn wütend machte. Es waren immer Kleinigkeiten, die ihn aus der Fassung brachten. Ich habe als Kind nicht verstanden, was ich falsch gemacht habe und wieso ich immer so bestraft wurde. Oft waren es banale Momente, in denen ich zum Beispiel mit meinem älteren Bruder rumalberte und mein Vater zur gleichen Zeit die Nachrichten sehen wollte. Wir störten ihn, und Gewalt oder Schreie waren seine Art und Weise, uns das du zeigen. Doch über die Jahre habe ich aus der Ferne mehr und mehr gesehen. Durch Selbstreflexion und Beobachtung bekam ich das Gefühl, auch meinen Vater ein wenig besser zu verstehen. Wenn ich an meine Kindheit zurückdachte, verspürte ich viel Liebe für ihn. Ich war bereit, ihm in die Augen zu sehen, auch wenn ich mir nicht ganz sicher war, wie er reagieren und was sich aus meinem Friedensangebot ergeben würde.

      Bartek unterbrach meine immer tiefer rutschenden Gedanken, als er von der Tankstelle zurückkam und bereit war, weiterzufahren. Er rief euphorisch: »I have a new car for you to go to Poland.«

      Sein Sohn hing an seiner Hand und freute sich mit ihm.

      Drei junge Menschen standen vor einem roten Sportwagen, zwei Männer und eine blonde Frau musterten mich neugierig. Ich bemerkte das polnische Nummernschild und fragte auf Polnisch, bis wohin sie fuhren. Die drei sahen mich verdutzt an, weil sie nicht erwartet hatten, dass ich ihre Sprache beherrschte.

      »Katowice«, antwortete die Blondine. »Sicher willst du woanders hin, aber wir können dich bis dahin mitnehmen.«

      Katowice hatte nicht viel zu bieten, was man als Tourist sehen wollen würde. Die Jungs und Mädels waren völlig aus dem Häuschen, als ich ihnen erklärte, dass ich genau dorthin wollte.

      Ich verabschiedete mich von meinen lieb gewonnenen tschechischen Freunden und kletterte in das nächste Fahrzeug.

      Wenn ich Polnisch spreche, habe ich einen sehr seltsamen Akzent, wird mir oft gesagt. Meine Mutter hatte immer mit mir Deutsch sprechen wollen, um selbst besser zu werden, und so fehlte mir die Übung. Die Fahrt nach Katowice dauerte nicht lange, und allgemein waren die Insassen zwar gesprächig, aber viele gemeinsame Themen ließen sich nicht finden. Sie nahmen sich andauernd gegenseitig auf die Schippe, und wenn sie nicht verstanden, was ich ihnen zu sagen versuchte, reagierten sie einfach mit Lachen. Dieses Verhalten brachte mich irgendwann auf die Palme, und mir verging die Lust, zu erzählen. Dass man sich nicht mit jedem Menschen versteht, mit dem man ein Auto teilt, ist selbstverständlich. Manchmal sitzt man stundenlang mit einem Fremden im Auto, der entweder deine Sprache nicht spricht oder der dich einfach nicht verstehen kann. Aber aus jeder Begegnung konnte man etwas lernen, und in diesem Fall waren es wohl Geduld und Akzeptanz.

      Ich schloss einen Moment lang meine Augen und versuchte, mich an das Gefühl zu erinnern, das ich als kleines Mädchen hatte, wenn ich mit meinen Eltern nach Polen fuhr. Ich hatte mich zwar immer gefreut, mal wieder unterwegs zu sein, aber Polen gehörte damals nicht zu meinen Lieblingszielen. Im Nachhinein betrachtet, hing das wohl damit zusammen, dass mein Bruder Polen nicht mochte und er immer eine Vorbildfunktion für mich hatte.

      Wir näherten uns dem Ziel, und ich wurde nervös. Eine seltsame Melancholie unterbrach

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