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Die Farben meines Lebens. Arik Brauer
Читать онлайн.Название Die Farben meines Lebens
Год выпуска 0
isbn 9783902998057
Автор произведения Arik Brauer
Жанр Афоризмы и цитаты
Издательство Bookwire
Eines Tages wurde Simsanreut von einer HJ-Streife eingefangen, zwei Burschen hielten ihn fest und ein dritter begann, ihm das „Schlurfpackl“ mit einer mitgebrachten Schere abzuschneiden. Das Schlurfpackl war die von den Nazis mit Eifer verfolgte Haarpracht, langes zurückgekämmtes Haar, das im Genick gerade abgehackt ein dickes Packl bildet. Langes Haar aber war immer schon ein Symbol der Freiheit und wurde bei Leibeigenen, Soldaten oder Sträflingen nie geduldet. Simsanreut gelang es, sich loszukämpfen und zu flüchten. Zurück blieb ein Hitlerjunge, der eine Schere im Oberschenkel stecken hatte. Die Folge war ein Prozess, und Simsanreut verschwand in einem Straflager für Jugendliche. Dort wurden die Knaben, um sie hart zu machen, mit meterlangen Rosspeitschen zu sportlichen Höchstleistungen gezwungen, und als Simsanreut anlässlich einer Liegestützorgie seinem Peiniger das Nasenbein einschlug, landete er in einer Strafkompanie an der Ostfront. Hier wurde nur noch gestorben. Von Granaten zerfetzt, von Panzern niedergewalzt, von Scharfschützen abgeknallt, erfroren oder verblutet, gestorben, gestorben, gestorben. Simsanreut waren aber inzwischen wie seinem Namensbruder Simson im Alten Testament die Haare nachgewachsen und das Leben gab ihm noch eine Chance. Die Russen hatten einen Lautsprecher aufgebaut und riefen die Sträflinge dazu auf, überzulaufen. Der Sprecher sprach Deutsch mit einem gequälten Akzent. Simsanreut vernahm in sich selbst hineinlauschend wieder die hellen Glocken der Lebensgeister und als der Befehl zum Rückzug kam, blieb er zwischen den Toten liegen. Sobald die erste Welle der Rotarmisten vorüber war, kletterte er aus der Grube. Das Geknatter und Gekrache des Krieges hatte sich etwas entfernt und sogleich begannen die Grillen wieder zu zirpen und die Vögel wieder zu singen. Simsanreut band sein Unterhemd an einen Ast und marschierte einer Panzerspur folgend los. Bald hörte er Stimmen und begann lauthals zu rufen: „Partisan, Partisan!“ Die russischen Soldaten standen plötzlich hinter ihm und drückten ihm die Puschka (Gewehr) in den Rücken. Als sich herausstellte, dass er kein Wort Russisch verstand und auch die Uniform einer deutschen Einheit trug, verstärkte sich der Puschka-Druck in seinem Rücken beträchtlich und man brachte ihn zum Dolmetscher. Dieser hatte vor dem Krieg Germanistik studiert. Seine Deutschkenntnisse machten ihn einerseits zum Offizier und Dolmetscher, andererseits dem Regime verdächtig. Was er dringend nötig hatte, waren Erfolge mit dem Lautsprecher. Er machte seinen Überläufer zum Lautsprecher-Sprecher. Für sein neues Amt bekam Simsanreut eine wattierte Jacke, russische Stiefel und natürlich wieder eine Glatze. Seine im breiten Wiener Dialekt vorgetragenen Propagandatiraden hatten in den deutschen Gräben großen Unterhaltungswert, aber natürlich keinen Erfolg. Die meisten Deutschen hätten gerne alles hingeworfen, aber sie wagten es nicht, gab es doch immer zwischen ihnen einen verbohrten Fanatiker, der schrie: „Ein Lied!“ Und die todmüden, enttäuschten, verzweifelten Lanzer sangen: „Wir werden weitermarschieren, wenn alles in Scherben fällt …“ Eines Tages wurde der Lautsprecher abmontiert und Simsanreut landete in einem Gefangenenlager in Sibirien. Ihm erging es aber noch verhältnismäßig gut, denn im Jahr 1956 war er wieder in Ottakring. Der Dolmetscher hingegen kam in den Gulag, erfuhr nie warum und musste bis zum Jahr 1985 auf seine Freiheit warten. Simsanreut hätte jetzt seine Haare wieder wachsen lassen können, aber leider hatte er keine mehr. Außerdem musste er sich noch im 21. Jahrhundert als Verräter und Kameradenmörder beschimpfen lassen.
Die Hausmeisterin
Im 14. Bezirk lebte eine alte, verhutzelte Hausmeisterin. Sie war bissig und hatte auch guten Grund für ihre dauernde Verärgerung. Wie die meisten Menschen ihrer Generation hatte sie ein verpatztes Leben hinter sich, mit viel Armut und wenig Liebe. Prügel vom Vater, Prügel vom Gatten und Demütigungen von allen Seiten. Was Wunder, dass sie ständig Ausschau hielt nach jemandem, der noch schwächer war, an dem sie sich rächen konnte. Jemand, der noch schwächer war als sie, fand sich aber gar nicht so leicht. Und so war es ihr ganz recht, dass ein jüdischer Schuhmacher ihr Nachbar wurde. Schon ihre Mutter hatte sie gelehrt: „Was Jud ist, das stinkt.“ Im 14. Bezirk gab es kaum Juden und der Schuster war der einzige, den sie persönlich kannte. Er stank zwar nicht, aber er hatte, wie jedermann weiß, Jesus gekreuzigt. Auch war er nicht reich, wie es ja bekanntlich alle Juden sind, aber sicher würde er, wie alle Juden, bald ein riesiges Schuhgeschäft auf der Mariahilfer Straße haben und keiner würde wissen, wo er das Geld hernahm. Dass er fleißig und nie betrunken war, ärgerte die Hausmeisterin auch, denn ihr verstorbener Mann war faul und betrunken gewesen und sie fand, das Schicksal hätte auch ihr einen so fleißigen Juden zum Mann bestimmen sollen. Jedermann wusste, dass Juden gute Ehemänner sind und schnell reich werden, was ja vollkommen in Ordnung ist, wenn es sich um den eigenen Ehemann handelt. Außerdem kümmern sich Juden um Kinder und Enkelkinder. So widersprüchlich wie ihr „Antisemitismus“ war auch ihr Verhalten dem Schuster gegenüber. „Guten Tag, Herr Meister, wie steht das werte Befinden?“, und dann ein undeutliches Gemurmel im Weggehen: „Bagage jüdische, stinkende Bagage, Judengsindl, brumm, brumm, brumm …“ Im November 1938 (Kristallnacht) kamen SA-Männer mitten in der Nacht, brachen die Tür der Schusterwerkstätte auf und nahmen alles Vorhandene in Augenschein. Dann wurde die Tür versiegelt und die Männer zogen lautstark ab. Tags darauf kam der zehnjährige Sohn des Schusters wie immer gegen Mittag in die Werkstätte, brach das Siegel auf und ging hinein. Die Hausmeisterin hatte wie alle Hausmeisterinnen die Fähigkeit, durch Wände durchzusehen. Und so wusste sie auch gleich, dass es ein Trupp SA-Männer war, der geräuschvoll mit einem Lastwagen soeben vorfuhr. Dass in dem NS-Regime ganz andere Dimensionen von Gewalttätigkeit üblich waren als die Boxer und Ohrfeigen vom Vater und Gatten, hatte sie schon mitbekommen, und es war klar, dass ein Judenbub, der ein NS-Siegel aufbricht, zum Krüppel geschlagen wird. Hätte jetzt in ihrem Kopf ein Kampf zwischen Gut und Böse stattgefunden, das klassische „Was geht das mich an, nur nicht einmischen“ hätte sicher gewonnen. Ein solcher Kampf fand aber nicht statt. Die Frau reagierte vollkommen automatisch. Eine Bewusstseinsschicht tief unter ihrem angelernten Antisemitismus löste ihre Reaktion aus, so wie man ohne nachzudenken einen am Rücken liegenden, zappelnden Käfer umdreht. Blitzschnell drängte sie den Knaben in die Gangtoilette und sperrte von außen zu. Durch das Schlüsselloch beobachtete der Bub, wie die SA-Männer sein „Erbe“ wegtrugen: Lederballen, Leisten, Werkzeuge, sogar die Schürze seines Vaters. Es waren eben exakt arbeitende SA-Männer. Als alles vorbei war, sperrte die Hausmeisterin das Klo wieder auf, und als der Sohn des Schusters vorsichtig aus dem Haus trat, hörte er die Alte brummen: „Judengsindl, schleicht’s euch nach Palästina.“
Aus dem Liederzyklus „Motschkern is gsund“
Mir warn gern Rassisten,
des taugert unserm Gmiat.
Der Stammbaum, den mir ham,
is leider verwirrt.
Mir san halt a Packlrass,
weil jeder fremde Schwanz
kummt eine auf Wean
und hinterlasst uns sei Substanz.
Die Römer und die Hunnen,
die Magyaren und Feaken,
Türken, Tschuschen, Katzelmacher,
Bayern und Slowaken,
Krowoten, Galizianer
und jede Menge Behm.
Mit so einem Stammbaum
kann dir der Rassismus vergehn.
Im Dritten Reich do hama
so mancherlei vertuscht,