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Charakter besitzen würden wie die Hermine Brauer. Man bräuchte keine Schlösser an den Türen, keine Polizei, keine Gerichte, kein Militär, kein Geld, keine Tretminen und keine Atombomben. Jeder wüsste, was er der Gesellschaft schuldet und würde mit Freuden seinen Teil zum Wohlergehen der Menschheit beitragen. Solch ein Paradies hätten wir, wären alle so wie Hermine. Wenn es darum ging, einen Schrebergarten zu erben oder eine Wohnung im Gemeindebau zu bekommen, ließ sie anderen den Vortritt. Die Zimmer-Küche-Wohnung am Ludo-Hartmann-Platz schien ihr groß genug für vier Personen und besonders die schönen Parkbäume vor den Fenstern waren ihr wichtiger als die Probleme mit den Gangtoiletten und der Waschküche. Der monatliche Waschtag forderte tatsächlich alle ihre physischen Kräfte, denn die gekochte, gebürstete und gerumpelte nasse Wäsche musste zum Trocknen vom Keller auf den Dachboden im fünften Stock getragen werden. Als es für Juden verboten war, einen Beruf auszuüben, wusch Hermine auch die Wäsche anderer Leute, machte Näharbeiten und lernte Englisch in der Hoffnung, mit ihrer Familie in die USA auswandern zu können. Als es ans Hungern ging, fütterte sie ihre heranwachsenden Kinder und magerte selbst zum Skelett ab. Das Hungerödem hinderte sie aber nicht, ihren Sohn in die Geheimnisse der Harmonielehre einzuweihen und für ihre Tochter alte Kleider zu wenden. Sie konnte nicht lügen, Versprechungen wurden immer eingehalten und im Verzeihen war sie Weltmeisterin. Wieso konnte sie sich so verhalten, obwohl sie weder Lohn noch Strafe in einem Jenseits erwartete? Und wieso zeigen so viele Menschen ein gegenteiliges Verhalten, obwohl sie eine fixe Vorstellung von Himmel und Hölle haben? Es mag schon stimmen, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, aber offensichtlich hat unser Bewusstsein keine sehr große Bedeutung für unser Verhalten. Das Lebenswetter der Hermine Sekirnjak-Brauer zeigte fast immer schwere Wolkenberge mit bescheidenen Aufhellungen zwischen den beiden Weltkriegen. Den Verlust ihres Mannes konnte sie nie verwinden, aber im Alter sah sie mit Stolz auf das geglückte Leben ihrer erwachsenen Kinder.

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       Hermine Brauer mit den Kindern Lena und Erich 1935 bei einem Ausflug in den Wienerwald.

       Bericht eines Nasenbären

      Ich bin ein Nasenbär von der edelsten Sorte und die von mir unterjochten Lebewesen sind Legion. Abgesehen von Fischen, Leguanen, Schlangen und dergleichen Kreppzeug wären da zu nennen: ein Uhu, ein Stinktier, zwei widerliche hundeartige Haarbüschel und meine persönliche Sklavin, die Menschin Lena Brauer. Über Intelligenz und Bildungsgrad des Schuppengesindels will ich mich gar nicht äußern. Was sich aber der Uhu an Peinlichkeiten leistet, muss unbedingt geschildert werden. Seine ganze Flugkunst besteht darin, dass er seine Flügel abwechselnd ausbreitet und nach unten klappt. Wenn er nun durch eine offene Türe fliegt und die Flügel sind abwärts geklappt, kommt er durch, sind sie ausgebreitet, bleibt er am Türstock hängen und fällt krächzend zu Boden. Dieser Trottel von einem Vogel ist nicht imstande, das zu begreifen und entsprechende Flügelschlagberechnungen anzustellen. Das Stinktier sollte eigentlich Tier ohne Stink heißen, denn seine Stinkdrüsen, die das einzig Bemerkenswerte an ihm waren, wurden ihm entfernt. Die beiden widerlichen Haarbüschel werden manchmal frech und müssen von mir regelmäßig und prophylaktisch gebissen werden. Mit der Menschin gab es zu Beginn sogar einen kleinen Machtkampf um die Vorherrschaft im Haus, der natürlich von mir gewonnen wurde. Zur Sicherheit beiße ich sie ab und zu in die Hand, wenn sie mich füttert oder streichelt. Es empfiehlt sich immer, Sklaven an ihre untergeordnete Position zu erinnern. Im Verhältnis zu anderen Menschen beweist diese meine Untergebene aber ein recht gutes Durchsetzungsvermögen, und wenn sie sich mit ihrem Nachbarn streitet, der wegen eines ausgelaufenen Aquariums viel Wirbel macht, bin ich so richtig stolz auf sie.

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      Als die Menschin Lena fünf Jahre alt war, verließ sie in einem unbewachten Moment die elterliche Wohnung und machte sich auf den Weg zu ihrer Cousine. Es war nicht sosehr die Cousine, die ihre Phantasie beflügelte, als vielmehr ein Goldfisch, den diese um zwei Jahre ältere Verwandte in einem Einsiedeglas züchtete. Der Fisch ihrer Sehnsüchte befand sich in der Brigittenau. Der Weg von Ottakring dorthin ist weit und kompliziert und selbst der Bürgermeister von Wien würde sich schwer tun, ihn zu finden. Dass sich jemand im Wiener Großstadtverkehr in Lebensgefahr begibt, für einen lächerlichen Goldfisch, kann nur damit erklärt werden, dass im Wunschdenken des Betreffenden der Fisch zum Nasenbären mutierte. Die kleine Lena war ein aufgewecktes Kind mit einem eisernen Willen. Sie wusste, dass die Straßenbahnlinie 5 in die Gegend ihrer Cousine fährt und zappelte unverdrossen dem Schienenstrang nach. Bald befand sie sich in ihr unbekannten Gassen und die Häuser schienen beängstigend groß und grau. Nach zwei Stunden erreichte sie am Donaukanal wieder bekannte Gassen und fühlte im Herzen das unbändige Glücksgefühl des Sieges über mächtige Gewalten. Sie stand vor der Türe mit dem Namen Spitzer, den sie zwar nicht lesen konnte, aber sie kannte die Türe. Die Cousine war da, allerdings war der Goldfisch inzwischen gestorben.

      Ihr ganzes Leben ist auf diese Weise verlaufen. Hatte sich einmal ein Goldfisch in ihrer Phantasie festgesetzt, verfolgte sie ihr Ziel mit Intelligenz, Talent und einem geradezu unglaublichen Ausmaß an Energie bis ins hohe Alter. Das gesteckte Ziel erreichte sie immer, nur der Goldfisch war dann meist schon tot. Dies konnte sie aber nie entmutigen, denn der Weg war ihr wohl wichtiger als das Ziel. Als Tänzerin in allen möglichen Theatern und Clubs blieb sie, völlig unbeeinflusst von ihrer Umgebung, stets ihrer Wandervogelromantik verhaftet. Zwanzig Jahre Amerika, Ehe, Scheidung, Häuserbau, Tanzschulen gegründet, Hundezucht im großen Stil betrieben, Studium, Doktorat in Art, zuletzt als Malerin zurück nach Wien. Alles geschafft und alles zwischen den Fingern zerronnen.

      Im Jahr 1945 war Lena bei einer „arischen“ Tante, als die russischen Panzer von Ottakring in Richtung Gürtel rollten. Dies war auch ihr Weg und sie marschierte unerschrocken und munter neben den Panzern die Koppstraße hinunter. Ihr Winken und Küsseschicken blieb zunächst unbeantwortet, aber als eine Granate mit Getöse in der Nähe einschlug, steckte ein Russe den Kopf aus dem Panzer, brüllte auf Russisch: „Verschwinde!“, und tippte sich mit dem Finger an die Stirn. Lena verschwand in das Haus Nr. 4 am Ludo-Hartmann-Platz und hisste am Fenster ein weißes Leintuch.

       Aus dem Liederzyklus „Wien 1945“

      Im Viererhaus, im Viererhaus,

      do hängen’s a weiße Fahne auf.

      Der Nachbar schaut beim Fenster raus,

      der reißt vor Schreck seine Augen auf.

      „Seid’s denn es wahnsinnig, die SSler schiaßen uns

      des Dach weg, überm Kopf.“

      Im Viererhaus, im Viererhaus,

      do hängen’s gschwind a Hakenkreuz auf.

      Der Nachbar schaut beim Fenster raus,

      der reißt vor Schreck seine Augen auf.

      „Seid’s denn es wahnsinnig, die Russen schiaßen uns

      des Dach weg, überm Kopf.“

      Im Viererhaus, im Viererhaus,

      do hängen’s die dreckige Wäsch auf.

      Die Russen glauben a weiße Fahn (Bierliflag)

      SSler sagen: „Deutsche Hausfrauen“.

      Und so wurde das Viererhaus gerettet.

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      Bald darauf klopfte jemand an die Tür und herein kam ein blutjunger Tatar, der mit Applaus empfangen wurde. Er hatte rohe Kartoffeln mitgebracht, die in einem Rest von Margarine gebraten wurden. Nach dieser frugalen Mahlzeit wurden alle russischen Lieder gesungen, die man vom Vater gelernt hatte. Es war eine grandiose Siegesfeier, und als eine Granate knapp über dem Fenster das Haus aufriss, zuckte der Russe nicht einmal mit der Wimper.

      Einige Tage später, als die Front schon am Donaukanal war, kamen endlose Reihen

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