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Nr. 4 das Haustor aufgebrochen wurde und jemand laut brüllte: „Frau, Frau!“, versteckte sich Lena in der Bettlade und die Mutter verschwand in dem mit Müll vollgerammelten Kabinett der Nachbarin. Ein Russe taumelte ins Zimmer, fiel aufs Bett und begann sogleich zu schnarchen. Es bestand kein Zweifel, dass Lena ersticken würde, ehe der Russe seinen Rausch ausgeschlafen haben würde. Wenn ich, der Nasenbär, schon damals existiert hätte, wäre es dem Besoffenen schlecht ergangen, denn wenn die Ehre seiner Menschin in Gefahr ist, wird der echte Nasenbär zur Eierschleifmaschine. Der Russe wurde im Traum offensichtlich von einem riesigen Nasenbären gejagt, denn er wälzte sich unruhig hin und her, fiel vom Bett, kotzte den Boden voll und taumelte seines Weges.

      Lena war schon als Kind vor allem mit sich selber und ihren fixen Ideen beschäftigt, aber für ihren kleinen Bruder hatte sie immer eine Schwäche. Ich selber habe ja mit diesem Bruder nichts am Hut. Er ist ein hochnasiger Fatzke, der seine spitze Nase rümpft, wenn von meinem uringetränkten Nest zwischen Rigips und Außenwand die Rede ist. Aber meine Menschin schätzte als Kind sowohl die gemeinsamen Spiele und Unternehmungen mit diesem Kerl als auch die Streitereien, die nie in Entfremdung mündeten. Als das Baby Erich gebracht wurde, knallte sie ihm sogleich eine, um deutlich zu machen, wer hier das Sagen hat. Als der Knabe heranwuchs, wurde das meiste gemeinsam unternommen: Pilze gesammelt, Kirschen geerntet, Theater aufgeführt, groß angelegte Bastelprojekte verwirklicht und jahrelang Indianer gespielt, mit fix verteilten Rollen. Der im Wienerwald am versteckten Ort gebaute Wigwam wurde von Ottakring aus immer zu Fuß erwandert.

      In den frühen 50er Jahren lehrte sie ihren Bruder die Grundregeln des Balletttanzes und die beiden gingen als Duo Brauer auf Tournee. Im 21. Jahrhundert wurde sie ihres Bruders letzte Partnerin für Bergwanderungen. Zu diesem Zweck gebe ich ihr in meiner übertriebenen Güte oft einen Tag Urlaub, nur um die beiden widerlichen Haarbüschelhunde nicht riechen zu müssen, die bei diesen Touren mitgenommen werden. Eines Tages aber geschah eine bodenlose Gemeinheit, ein richtiges Verbrechen. Man wollte mich loswerden und brachte mich nach Schönbrunn. Ich wusste gleich, dass hinter dieser Teufelei nur der Spitznasenbruder stecken kann, und der Tag meiner Rache wird unweigerlich kommen. In Schönbrunn wurde ich mit anderen Nasenbären zusammengesperrt, lauter ungebildetes, langweiliges Tiergartengesindel. Ich verstand es aber, mich so aufzuführen, dass ich nach wenigen Tagen wieder in meine Wohnung gebracht wurde. Über das Geschehene verlor ich kein Wort, aber ich erscheine meiner verräterischen Menschin oft im Traum, wo sie erleben muss, wie ich von Wärtern und Besuchern gedemütigt und gefoltert werde. Damit muss sie jetzt leben.

       Das Viererhaus

      Das Haus Nr. 4 am Ludo-Hartmann-Platz war wie alle Zinskasernen von armen Teufeln bewohnt. Es scheint Naturgesetz zu sein, dass sich Armut durch besondere Kreativität und intensive zwischenmenschliche Beziehungen entschädigt, Wohlstand hingegen sich selbst mit Kälte und Einsamkeit bestraft. In den 30er Jahren war die Armut in Ottakring so groß, dass der Einfallsreichtum der Leute die merkwürdigsten Blüten zeigte. Da war zum Beispiel die „Spinnerin“, die im dritten Stock ein fensterloses Kabinett bewohnte. Sie besaß vier Meerschweinchen, welche sie in einem Zwillingskinderwagen an sonnigen Tagen im Park spazieren führte. Leider hatte sie Schwierigkeiten mit ihrer Blase und verbreitete gemeinsam mit ihren Meerschweinchen einen furchtbaren Gestank. Es galt bei den Kindern als Mutprobe, in ihrer Nähe vorbeizugehen. Sie pflegte oft alleine bei der Treppe zu stehen und laut schreiend Allfälligem Ausdruck zu verleihen. Diese Gewohnheit behielt sie auch in der Zeit der Nazi-Herrschaft bei, wo besonders die Person Adolf Hitlers das Ziel ihrer teils tschechischen, teils deutschen Beschimpfungen war. Einmal wurde sie auch angezeigt, aber der zuständige Beamte wollte mit ihr nichts zu tun haben.

      Im ersten Stock wohnte ein schreckliches Weib. Es trug stets eine bunt geflickte Schürze und hatte eine scharf gespitzte Nase. Das Weib erinnerte an einen Wellensittich und besaß auch einige Wellensittiche, welche es in einem Käfig am Gangfenster aufbewahrte. Es verbrachte sein Leben am Gang, um darauf zu achten, dass die Nachbarn beim Wasserholen seine Vögel nicht verschreckten. Man musste schleichend gehen und durfte den Wasserhahn nur sukzessive aufdrehen.

      Ein interessanter Mann war auch der „Huat-Onkel“. Er sammelte alte Hüte, welche er einen über dem anderen aufsetzte, so dass er immer einen meterhohen Hutturm balancieren musste.

      Im Dachgeschoß wohnte eine Schreckensfamilie mit vielen Kindern und einem grauen Höllenhund, der als Einziger regelmäßige Mahlzeiten bekam und oft brüllend die Treppe hinunterraste. Die Kinder hatten große Angst vor ihm und können sich den Teufel noch heute nur als diesen Hund vorstellen.

      Eine Nachbarin war eine merkwürdige Witwe. Sie verstand es, in ihrem winzigen Kabinett einen paradiesartigen Garten aus alten Regenschirmen, zerbrochenen Nachttöpfen und allem, was man auf dem Misthaufen findet, aufzubauen. Von ihren täglichen Spaziergängen kam sie nie mit leeren Händen heim. Manchmal waren es nur weggeworfene Straßenbahnfahrscheine, die sie sorgfältig in Schachteln aufbewahrte, aber wenn ihr das Glück hold war, brachte sie wohl auch eine zerbrochene Nippfigur mit. Ihr Zimmer war bis in Armhöhe mit diesen Dingen angefüllt und man konnte sich nur auf einem schmalen Pfad durch diesen blühenden Garten bewegen.

      Im Parterre wohnte eine hysterische Frau. Sie wurde nachts von Gestalten mit Hundeköpfen verfolgt, die unter ihrem Bett saßen. Man hörte oft ihre schrillen Angstschreie.

      Im Keller wohnte der Spiritus mit seiner Frau. Dieser bemerkenswerte Mann hatte die übliche Kindheit der armen Leute durchlebt, mit Hunger, Schlägen und minimaler Schulbildung. Im Alter von 14 Jahren arbeitete er als Teichgräber. Der absolute Höhepunkt seines Lebens war der Beginn des Ersten Weltkrieges. Er bekam eine Uniform, zum ersten Mal in seinem Leben neue Schuhe und bei der Abfahrt an die Front wollte der Jubel und Applaus der Menge am Bahnhof kein Ende nehmen. Der Jubel galt ihm, denn aus dem schmutzigen Teichgräber, einem Nichts innerhalb der Gesellschaft, war ein eleganter und unbesiegbarer Krieger seiner Majestät des Kaisers geworden. Diese schönste Zeit seines Lebens dauerte vier Wochen, dann riss ihm ein Schrapnell das linke Bein ab und er war wieder Teichgräber, jetzt mit nur einem Bein noch eine Stufe tiefer als die zweibeinigen Teichgräber. Er begann zu trinken, heiratete eine schreckliche Frau und wohnte in der Kellerwohnung neben der Waschküche. Wenn er betrunken war, hatte er die Angewohnheit, auf der Kellerstiege sitzend lauthals die Welt zu verfluchen und den Leuten zu sagen, wer sie sind. Es ist jammerschade, dass es von diesen in saftigem Wiener Dialekt vorgetragenen Tiraden keine Tondokumente gibt. Was trank er? Er trank Spiritus, und das war auch sein Spitzname, den ihm die Kinder im Park nachriefen. Wenn er nüchtern war, reagierte er nicht, aber meistens war er besoffen. Dann warf er den Kindern seine Holzstelze nach und musste qualvoll auf einem Bein hüpfen, um die Stelze wieder zu holen. Dabei riefen die lieben Kleinen: „Spiritus hupf, Spiritus hupf!“ Einer von den Fratzen, der ansonsten nicht gerade durch besonderes Wohlverhalten auffiel, beteiligte sich nicht an diesen Hänseleien und das hatte seinen guten Grund.

      Spiritus hatte von der Gemeinde das Privileg bekommen, die Wurzelstrünke gefällter Bäume auszugraben und das Holz zu verkaufen. Heute kann sich in Österreich wohl kaum jemand mehr vorstellen, was es heißt, die Wurzeln eines alten Baumes mit Schaufel und Krampen auszugraben und das eisenharte Holz ofengerecht zu zerkleinern. Für Spiritus jedoch war es ein Freudentag, wenn er stolz, einen Brief von der Magistratsabteilung auf den Hut gesteckt, Schaufel und Krampen unter dem Arm, loshumpelte. Da kam es dann oft vor, dass der Bub mit dem guten Grund ihn begleitete. Wenn dann das Graben so weit gediehen war, dass der gelbe Lehm zum Vorschein kam, packte das Kind einen guten Klumpen in seine mitgebrachte Schultasche und eilte nach Hause. Der Lehm verwandelte sich unter seinen kundigen Händen in Löwen, Hunde, Vögel und Indianer. Luftgetrocknet und bemalt, aber ungebrannt wurden diese Figuren im Laufe der Jahre allerdings wieder zu gelbem Staub. Der Spiritus verfolgte das Treiben des Knaben immer mit großem Interesse.

       Aus dem Liederzyklus „Brauer Liedermappe“

      Wer sitzt durt auf der Köllerstiegen, die Stelzen in die Händ,

      dort sitzt mein Nachbar Spiritus, dem haben’s den Fuaß

      verbrennt.

      Er hot a klane Flaschen, die versteckt er unterm Huat.

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