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einem Winkel kauerten mit über den Kopf gezogenen Schürzen zwei Mägde und weinten.

      Tief erschüttert entschloß der Bürgermeister sich endlich einzutreten.

      Der Graf von Claudieuse war der erste, der ihn bemerkte. »Ah! da ist der brave Sénéchal!« sagte er. »Treten Sie näher, lieber Freund, treten Sie näher! ... Das Jahr 1871 ist, wie Sie sehen, ein verhängnisvolles Jahr. Von allem, was ich besaß, wird bei Tagesgrauen nichts mehr übrig sein als ein paar Schaufeln Asche.«

      »Es ist ein großes Unglück«, antwortete der würdige Bürgermeister, »aber wir befürchteten eins, das noch viel unersetzlicher wäre ... doch Gott sei Dank, Sie werden am Leben bleiben ...«

      »Wer weiß, ich leide fürchterlich!« ...

      Bei diesen Worten fuhr Frau von Claudieuse zusammen.

      »Trivulce«, flüsterte sie mit sanft flehender Stimme, »Trivulce!«

      Nie mag ein Liebender auf die Freundin seines Herzens einen zärtlicheren Blick geworfen haben als der, den Herr von Claudieuse auf seine Gemahlin warf.

      »Vergib mir, liebe Geneviève, vergib mir meinen Mangel an Mut –«

      Ein nervöser Krampf schnitt ihm die Worte ab; gleich darauf rief er mit gellender Stimme: »Himmel und Hölle, Doktor, Sie foltern mich!«

      »Hier habe ich Chloroform«, entgegnete kaltblütig der Arzt.

      »Ich will keines.«

      »Dann entschließen Sie sich, den Schmerz auszuhalten, und bleiben Sie still, denn jede Ihrer Bewegungen vermehrt ihr Leiden.«

      Darauf wischte er mit dem Schwamm den feinen Blutfaden ab, der über sein Skalpell rieselte. »Übrigens«, fügte er hinzu, »wollen wir einige Minuten Pause machen ... Meine Augen und meine Hände werden müde; ich bin eben nicht mehr jung.«

      Der Doktor Seignebos zählte sechzig Jahre. Er war ein kleiner Mann mit galligem Teint, mager, kahlköpfig, von einer mehr als nachlässigen Haltung, stets eine goldene Brille auf der Nase, die abzunehmen, sauberzuwischen und wieder aufzusetzen seine Hauptbeschäftigung schien. Sein medizinischer Ruf war groß, man führte in Sauveterre Wunder von Heilungen an, die er vollbracht; dennoch habe er wenig Freunde. Die Arbeiter warfen ihm seine hochmütige Amtsmiene vor, die Bauern seine Gewinnsucht, die Bürger seine politischen Ansichten. Man erzählte sich, eines Abends bei einem Gelage hätte er mit erhobenem Glase ausgerufen: »Ich trinke auf das Gedächtnis des einzigen Arztes, dessen reinen und edlen Ruf ich beneide, auf das Gedächtnis meines Landsmannes, des Doktors Guillotin de Saintes.«

      Hatte er wirklich diesen Toast ausgebracht? Gewiß ist, daß er den wütenden Demokraten spielte und daß er die Seele und das Orakel der kleinen sozialistischen Zusammenkünfte der Nachbarschaft war. Er erregte Erstaunen, wenn er das Kapitel der Reformen und die Fortschrittspläne erörterte, von denen er träumte.

      Er setzte seine Zuhörer in Schreck durch den Ton, in dem er davon sprach, daß man mit Feuer und Schwert bis auf den Grund der verfaulten Eingeweide der Gesellschaft dringen müsse.

      Diese oft wunderlichen Ansichten und Wohlfahrtstheorien und die oft noch wunderlicheren Grundsätze, die er offen kundgab, hatten dann und wann sogar Zweifel an der normalen Verstandesbeschaffenheit des Doktors Seignebos erregt.

      Es waren die Wohlwollendsten, die sich damit begnügten, ihn »ein Original« zu nennen. Dieses »Original« war selbstverständlich Herrn Sénéchal, dem einstigen reaktionären Sachwalter, nicht sehr zugetan. Auf den Staatsanwalt der Republik sah er verächtlich wie auf einen unnützen Spürhund alter Scharteken herab. Herrn Galpin-Daveline aber haßte er von Herzen. Dennoch grüßte er sie alle drei, und ohne sich darum zu kümmern, ob er von seinem Patienten gehört wurde oder nicht, sagte er: »Sie sehen, meine Herren, Herr von Claudieuse ist in einer sehr mißlichen Lage ... Es ist eine mit Schrot geladene Flinte gewesen, die man auf ihn abgeschossen, und die Wirkung, die durch Wunden dieser Art entsteht, ist unberechenbar. Ich wäre wohl geneigt zu glauben, daß kein wesentliches Organ angegriffen ist, aber dafür einstehen kann ich nicht. Ich habe oft in meiner Praxis winzige Verletzungen beobachtet, wie eben ein Schrotkorn sie hervorbringen kann, Verletzungen, die dennoch tödlich waren und erst nach zwölf oder fünfzehn Tagen es erwiesen.«

      Er hätte vermutlich noch lange so fortgefahren, wäre er nicht in barschem Ton unterbrochen worden. »Herr Doktor«, sprach der Untersuchungsrichter, »um eines Verbrechens willen, das vollbracht worden ist, bin ich hier. Der Schuldige muß entdeckt und bestraft werden. Und im Namen der Justiz fordere ich von diesem Augenblick an die Beihilfe Ihrer Aufklärungen.«

      3

      Durch diesen einzigen Satz bemächtigte Herr Galpin-Daveline sich eigenmächtig der Situation und wies dem Doktor Seignebos, Herrn Sénéchal und selbst dem Staatsanwalt die zweite Stelle zu.

      Es existierte nichts mehr als ein Verbrechen, dessen Urheber entdeckt werden mußte, und der Richter in seiner Person.

      Aber wie sehr er sich auch bemühte, seine gewohnte Steifheit und jene Verachtung jedes menschlichen Gefühls zu steigern, die der Justiz mehr Feinde zugezogen als ihre grausamsten Fehlgriffe, alles an ihm bebte vor verhaltener Genugtuung, alles bis auf die Haare seines wie die Buchsbäume von Versailles zugespitzten Bartes.

      »Also, Herr Doktor«, fuhr er fort, »haben Sie etwas dagegen, daß ich den Verletzten verhöre?«

      »Besser wäre es ohne Zweifel«, brummte der Doktor Seignebos, »ihn in Ruhe zu lassen, soeben habe ich ihn eine Stunde lang gemartert, und in einigen Augenblicken werde ich von neuem anfangen, die Schrotkörner herauszuziehen, die in dem Fleisch stecken ... Doch wenn Sie darauf bestehen ...«

      »Ich bestehe darauf ...«

      »Nun, dann beeilen Sie sich, das Fieber wird nicht mehr lange ausbleiben.«

      »Daveline«, sagte Herr Daubigeon, der seine Unzufriedenheit ohne Hehl sehen ließ, »Daveline!«

      Der andere schien es nicht zu hören.

      »Fühlen Sie sich imstande, auf meine Fragen zu antworten, Herr Graf?« fragte er.

      »Oh, vollkommen!«

      »Dann haben Sie die Güte, mir zu sagen, was Sie von den unheilvollen Begebenheiten dieser Nacht wissen.«

      Von seiner Gemahlin und dem Doktor Seignebos unterstützt, richtete der Graf von Claudieuse sich in seinen Kissen auf.

      »Was ich weiß«, begann er, »wird leider der Nachforschung der Justiz nichts helfen. Es mochte etwa elf Uhr sein, denn ich könnte nicht einmal die Stunde genau angeben, ich hatte mich niedergelegt und seit geraumer Weile mein Licht ausgelöscht, als ein sehr greller Schein durch die Fensterscheiben brach. Ich wunderte mich darüber, aber ohne mich zu bedenken, denn ich befand mich bereits in jenem Stadium von Halbschlummer, der, ohne eigentlicher Schlaf zu sein, doch auch kein Wachen mehr ist. Ich fragte mich wohl was das sei, stand aber nicht auf. Erst ein lautes Geräusch, wie von einer einstürzenden Mauer, brachte mich zum Bewußtsein. – Aber dann sprang ich aus meinem Bett und wußte: es brennt.

      Meine Unruhe verdoppelte sich, als mir zum Bewußtsein kam, daß in meinem Hof und um die Gebäude sechzehntausend Holzhaufen vom Schlag des vergangenen Winters lagen. Halb angekleidet stürzte ich auf die Treppe hinaus. Ich war sehr verstört, ja ich gestehe, ich war es in solchem Grade, daß es mir nur mit der größten Mühe gelang,

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