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Er wusste, wie sie hieß, er hätte bloß nach Halle hereinfahren und sich erkundigen müssen. Er hätte wenigstens fragen müssen, ob sein Kind lebte und sie auch. Aber einem Mörder war so etwas egal. Ihr Onkel hatte recht.

      Sie senkte den Kopf. »Ich werde Herrn Rehnikel heiraten«, flüsterte sie. Sie blieb stehen und atmete. Die Abendsonne schien ungerührt durch das bunte Fensterglas, als wäre nicht eben eine neue Seite in ihrem Lebensbuch aufgeschlagen worden.

      Der Händler stand einen Schritt von der Wand entfernt, als die beiden in die Stube zurückkehrten. Conrad Bertram lächelte freundlich, nur seine Unterlippe zitterte. Er bat den Mann, seine Frage zu wiederholen.

      Herr Rehnikel lächelte nicht mehr. Er schwieg nachdenklich, im Raum lag die Luft schwer wie Blei. Er ging auf Magdalene zu, am Tisch vorbei, griff nach ihrer Hand und zog sie mit sich vor das mittlere der drei Fenster. Sie hielt den Kopf gesenkt, sie mochte ihm jetzt nicht ins Gesicht sehen. Unten auf der Straße liefen Menschen, alte und junge. Es waren Fußgänger, die vom Markt heimkehrten. Einer war dabei, der ging mit elastischen Schritten, das lange schwarze Haar wehte im Wind. Er ging, als käme er mit flatternden Mantelschößen einen Hügel hinauf, den Hügel zu einer Hütte. Es war niemand, den sie kannte. Es war irgendein Bauer, er zog einen Esel am Strick hinter sich her. Draußen dämmerte es. Niemand sah sich nach dem Mädchen am Fenster um, niemand schaute nach oben.

      »Wollt Ihr mein Eheweib werden, vor Gott und den Menschen?« Magdalenes Blick blieb am Boden kleben. Nichts bleibt, wie es ist. Von dem Schwur, den jener Mann ihr geleistet hatte, war nichts mehr übrig. Es war der Schwur eines Mörders. Der galt nicht.

      Sie atmete tief ein. »Es überrascht mich, dass es sich angehört hat, als hätte ich etwas gegen unsere Verbindung vorzubringen«, sie hob den Kopf und sah ihm gerade ins Gesicht, »diesen Eindruck hattet Ihr doch nicht, oder?«

      Die Männer antworteten beide nicht. Der Onkel vier Schritte hinter ihr stieß ein warnendes Fauchen aus seinen Nasenflügeln. Der Händler schüttelte den Kopf.

      »Nun«, fuhr sie fort, »das wäre auch nicht klug von mir gewesen.«

      Conrad Bertram stand in ihrem Rücken, daher konnte er ihren Blick nicht sehen. Magdalene fixierte den Rehnikel. Sie schaute ihm direkt in die Augen. Herr Rehnikel senkte den Blick nicht vor ihr. Er bewegte sich nicht und blinzelte nicht, er erwiderte ihren Blick, bis sie das Zeitgefühl für dieses Schweigen verlor. Beide schwiegen so lange, bis es Magdalene als Erste nicht mehr aushielt. Sie öffnete den Mund, sie gab ihre Antwort: »Ich erkläre mich einverstanden.«

      Sie sah in dem Augenblick, dass Herr Rehnikel den Atem angehalten hatte. Der Onkel schnaufte erleichtert. Er ging auf den Händler zu, schüttelte ihm die Hand und fing an, salbungsvoll zu reden.

      Herr Rehnikel hob die Hand, Conrad Bertram schwieg augenblicklich. Magdalene sah, was er wollte. Der Händler zog ein Etui aus der Börse am Gürtel und öffnete es. Er ergriff ihre Rechte und steckte einen dünnen Ring auf den vierten Finger, golden mit einem kleinen roten Stein in der Mitte.

      Magdalene konnte den Blick nicht von dem Schmuck wenden. Es war ein wunderschönes Stück, sie liebte es sofort. Herr Rehnikel tat das, was man bei Verlobungen üblicherweise tut. »Ich bin dein, du bist mein«, sprach er langsam die Formel, die die Kirche für die Gültigkeit verlangte. Sie warteten auf Magdalenes Antwort.

      »Ich bin dein, du bist mein«, wiederholte sie diesem fremden Menschen ins Gesicht hinein. Es war ein Satz, der eher zum Mond und den Sternen gehörte als hierher. Eher war der Mond ihrer als ein nach Nelken und Zimt riechender alter Mann. Der Onkel fasste sie bei den Schultern, als wollte er sie umarmen, aber er zog sie nicht näher heran. Er gratulierte ihr mit blumigen Worten, dabei galt seine Gratulation dem eigenen Geschäft. Der Händler indessen beobachtete Magdalene. Er folgte mit seinen Blicken jeder Bewegung ihrer Hand mit dem Ring am Finger.

      Das Mädchen bekam einen der drei Becher. Die Männer tranken ihr zu. Sie nippte vorsichtig von dem sauren, unverdünnten Wein. Das kam in Tante Dorotheas sparsamem Haushalt nicht oft vor. Mit einem Schlag ergoss sich die Familie ins Zimmer. Sie mussten draußen gewartet haben und stürzten sich jetzt auf Magdalenes rechte Hand, schüttelten sie, die Mädchen betasteten neugierig den roten Stein an ihrem Ring. Conrad Bertram redete über alle Köpfe hinweg und zog Bilanz, was er in den letzten neun Jahren aus Magdalene habe machen können, von einem mageren Kind zu einer gesunden, stolzen Braut. Sie musterten Magdalene wie einen Affen bei den Gauklern.

      Zum Glück trat Anna in die Tür. Sie kam auf das Mädchen zu und umarmte es, Tränen glänzten in ihren Augen. Magdalene war froh, dass sie sich an ihrer Amme festhalten konnte. Sie plauderten alle mit dem Rehnikel; das verschaffte ihr Gelegenheit, Anna nach dem Hans zu fragen. Er schlief.

      Anna wünschte ihrem Lenchen Glück. Das Mädchen verkniff sich die bissige Antwort, die ihr auf der Zunge lag. Anna meinte, was sie sagte. Sie sagte, sie wünschte, Magdalenes Eltern und ihr Bruder könnten das erleben. Magdalene wünschte sich das nicht. Sie hätten es als Schande empfunden, ihre Tochter und Schwester an einen einfachen Händler verkauft zu sehen.

      Tante Dorothea kam näher. Sie streckte Magdalene ihre rechte Hand entgegen, fing Magdalenes Rechte ein und schüttelte sie. Die Tante öffnete den Mund, blieb aber noch stumm. Einen Augenblick lang sah sie aus wie ein Fisch, weil sie sich mit offenem Mund von Magdalene wegwandte und erst dann, quer durch den Raum, dem Gast ihre Frage stellte. »Wann wird denn die Hochzeit stattfinden?«

      Die Gespräche verstummten, sogar Magdalenes plappernde Basen waren augenblicklich still. Herr Rehnikel sah Conrad Bertram an und nickte ihm zu. Der richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Er schwieg und genoss die Aufmerksamkeit einen Augenblick, bis er antwortete: »In einer Woche, am 15. Juni.«

      Magdalene stieg nach oben in ihr Zimmer. Schon als Kind hatte sie hier oben gewohnt, direkt unterm Giebel, wo es im Winter eisig wurde und im Sommer so heiß, dass einem im Liegen der Schweiß von der Haut rann. Man konnte die Spatzen auf dem First tschilpen hören und die Mäuse an den Balken rascheln. Manchmal knackte es im Holz und zwischen den Schindeln. Der Raum besaß ein einziges kleines Giebelfenster, der Wind pfiff an den Dachbalken vorüber. Es war ihr Zuhause. Die Treppe war schmal und wackelig, und außer der Magd Anna kam niemand freiwillig hier hinauf. Magdalene verschränkte die Arme und ging leise, um den Hans nicht zu wecken, hinüber zum Spiegel, dem einzigen Luxus in ihrem Zimmer.

      Auf ihre Schönheit war sie nicht stolz. An ihr gab es eine einzige Besonderheit, das war ihr Haar. Ansonsten war da nichts: ein kräftiger Wuchs, ein ovales, regelmäßiges Gesicht, große graue Augen, eine Haut von eher gelblichem Ton, zu dichte Brauen. Überhaupt fand sie ihr Gesicht zu grob, sich selbst derb und bäurisch. Doch auf das Haar war sie stolz. Es war dickes, kastanienbraunes Haar, unwillig gekraust und schwer in den Zopf zu bändigen. Seine Farbe unterschied sie deutlich von anderen Mädchen. Viele ringsum besaßen blondes Haar, was in jeder Schattierung zu sehen war, von einer Farbe wie Holzasche, wie Baumrinde, wie Lehmziegel, wie Straßenstaub. Manche hatten schwarzes oder schwarzbraunes Haar. Sehr wenige hatten feuerrotes Haar. Das war so gut wie alles. Dazwischen gab es ein einziges Mädchen mit Haaren in einer wirklich braunen Farbe, die nichts mit dem verwaschenen Dunkelblond zu tun hatte und nichts mit dem Schwarzbraun. Es war Magdalene mit ihrer Kastanienfarbe. Niemand, den sie kannte, hatte solches Haar, leuchtend braun und kräftig.

      Seit sie denken konnte, trug Magdalene unterm Hemd an einem Lederband ihr Amulett, Annas Geschenk. Kein Zweifel, dieses Amulett war die Ursache dafür, dass Magdalene als Letzte ihrer Familie all die Schicksalsschläge überlebt hatte. Nur wusste sie nicht recht wozu. Der einzige Sinn in ihrem Leben war jetzt Hans. Es mochte sein, dass Gott sie bloß dazu ausersehen hatte, diesem Kind das Leben zu schenken. Sie streifte das Kleid ab und löste den Zopf, um ihr Haar zu kämmen.

      Hans rührte sich. Er schlug die Augen auf, die wunderschönen dunklen Augen, ganz verträumt, und öffnete den Mund. Er besaß volle, rosige Lippen und wölbte sie suchend nach vorn. Magdalene hob ihn aus seinem Bett und hielt ihn auf dem Schoß. Er drehte den Kopf schon zur Seite, noch ehe sie das Hemd richtig gehoben hatte. Er trank genießerisch, in langen Zügen, und allmählich öffneten sich seine kleinen Fäuste. Seine Hände lagen weich auf Magdalenes Brust. Sein Gesicht

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