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zu tun? Hatte er sein Judentum nicht jahrelang verleugnet, ja gehasst? Trug er nicht die feinsten Tailleurs, um nicht als Jude aufzufallen? Hatte er sich nicht nur aus Berechnung der »Judenfrage« zugewandt, weil er als dramatischer Autor gescheitert war, weil seinen Stücken die »mimetische Treibkraft«, seinen Figuren »Seele« und »Herz« fehlten?

      Es gab schwere Zerwürfnisse, in deren Verlauf KellnerKellner, Leon sein Redaktionsamt aufgab. Von »enger Freundschaft« konnte bald keine Rede mehr sein. HerzlHerzl, Theodor suchte Politiker und Finanzleute in aller Welt auf, um sie für seine Idee eines »Judenstaates« zu gewinnen. KellnerKellner, Leon dagegen versah seinen Dienst an der Oberrealschule und sehnte sich nach den alten jüdischen Ritualen seiner Kindheit, dem Kol Nidre, dem Sabbat oder dem hebräischen Synagogengesang.

      Die Kinder warten mit geheimer Angst und doch auch mit Sehnsucht auf den großen, den unvergesslichen Augenblick: Jetzt ist er da! Der Vater legt die rechte Hand dem Knaben, die linke dem Mädchen aufs Haupt und segnet sie mit den uralten Worten des Erzvaters, während die Mutter eine Träne um die andere in den geschlossenen Augen zerdrückt. Wir gehen zu Kol Nidre. […] Die Außenwelt mit ihren […] lärmenden Geschäften versinkt, wie wir die Schwelle des Gotteshauses betreten, das Schicksal […] hält still in seinem Laufe, unsere eigenen Leidenschaften […] weichen für die Dauer von Nacht und Tag ehrerbietig zurück und lassen uns unangefochten allein mit unserem Gemüte, unserem Gott. […] Wunderbare Töne aus einer […] verschollenen Welt schlagen an unser Ohr, und das letzte Stäubchen Alltäglichkeit wird durch die himmlische Melodie von unserer Seele genommen.[76]

      In diesem Zustand religiöser Euphorie hatte er wohl wenig Augen für Dora, die allmählich in die Pubertät kam und gar nicht mehr wusste, wohin sie gehörte: Wien, Troppau, Wien, London, wieder Wien, demnächst vielleicht Syrien, Palästina oder gar Uganda? Sie hatte nie Zeit, irgendwo sesshaft zu werden. Kaum eingelebt, musste sie schon wieder fort. Sie war wissbegierig und lernte schnell, aber viel zu unsystematisch, weil alles dem Gutdünken ihres Vaters überlassen war. Das Einzige, was ihr in diesen Jahren blieb, war der »weiche, verträumte Dialekt ihrer Kindheit«.[77] Doch selbst den hatte sie in London schon fast verlernt.

      HerzlsHerzl, Theodor Tod

      Im Juli 1904 starb Theodor HerzlHerzl, Theodor. Er wurde nur 44 Jahre alt. Als offizielle Todesursache wurde Herzschwäche angegeben. Aber KellnerKellner, Leon meinte, er sei schon lange in einem Zustand von Verzückung, Verzweiflung, ja Besessenheit gewesen, der an Irrsinn gegrenzt habe.[78] PaulaKellner, Paula, inzwischen 19, hatte ihn zuletzt beim Chanukka-Ball einer jüdischen Studentenverbindung gesehen – »blass, still, gelb und erschöpft«.[79] In ihren Erinnerungen deutet sie an, dass ihr VaterKellner, Leon eine Mitschuld an seinem Tod gehabt haben könnte, weil er nicht loyal genug gewesen sei:

      Kurz vor seinem Tod hatte HerzlHerzl, Theodor die Idee, seinen Judenstaat auf der Sinai-Halbinsel zu gründen. Kellner hielt diese Idee für undurchführbar, weil diese Halbinsel eine reine Wüste war. HerzlHerzl, Theodor fuhr auf und bezichtigte KellnerKellner, Leon des Verrats. Trauriger Abschied. Die Idee wurde dann aber auch vom britischen Hochkommissar Ägyptens, Lord CromerBaring, Evelyn 1. Earl of Cromer, abgelehnt.[80]

      HerzlHerzl, Theodor wurde in seinen letzten Jahren aber nicht nur von KellnerKellner, Leon, sondern auch von vielen anderen kritisch gesehen, besonders seit dem sechsten zionistischen Kongress in Basel 1903, der im Zeichen der Pogrome im russischen Kischinew stand, bei denen Tausende von Juden misshandelt oder getötet worden waren. Sowohl die »assimilierten« als auch die sozialistischen und orthodoxen Teilnehmer sprachen über kaum etwas anderes und fühlten sich durch den selbstherrlich agierenden HerzlHerzl, Theodor nicht vertreten. Immer mehr drängte sich das Gefühl auf, dass den Juden im Hier und Jetzt geholfen werden müsse anstatt in einem hypothetischen Zion. In Wien lebten um diese Zeit etwa 147000 Juden, von denen nur 872 Mitglieder der zionistischen Weltorganisation waren und den Mitgliedsbeitrag, den »Schekel«, zahlten, ein denkbar schlechtes Ergebnis.[81] Bei so viel Kritik aus allen Lagern scheint HerzlHerzl, Theodor KellnerKellner, Leon noch am meisten vertraut zu haben, sonst hätte er ihn nicht zum Herausgeber seines Nachlasses bestimmt, was KellnerKellner, Leon offenbar selbst überrascht, ja schockiert hat, denn es waren ungeheure Materialmengen aufzuarbeiten: »Eindrücke, Einfälle, Lesefrüchte, Dialogfetzen, geflügelte Worte, Keime zu Feuilletons, Erzählungen, Entwürfe zu Theaterstücken« und eine Korrespondenz, die sich über ein Vierteljahrhundert erstreckte.[82]

      Die Zeit um HerzlsHerzl, Theodor Krankheit und Tod fiel zusammen mit einer Zeit großer Umbrüche in der Familie Kellner. PaulaKellner, Paula ertrotzte sich die Erlaubnis, eine Schule besuchen zu dürfen, das relativ neu eröffnete Mädchenlyzeum am Kohlmarkt Ecke Wallnerstraße. Es gehörte einer Germanistin namens Eugenie SchwarzwaldSchwarzwald, Eugenie, auch »Genia« oder »Frau Doktor« genannt, weil sie in Zürich über Berthold von Regensburg promoviert hatte. Wie KellnerKellner, Leon stammte sie aus einer jüdischen Familie in Galizien, war aber in Czernowitz aufgewachsen, wo ihr Vater ein Büro für Reklame und Arbeitsvermittlung betrieb. Nach der Heirat mit dem Juristen Hermann SchwarzwaldSchwarzwald, Hermann kaufte sie ein altes Schulgebäude und verkündete mit großer Emphase ihr Programm, das für eine gewaltfreie Pädagogik stehen sollte, für Förderung von Weltoffenheit, Phantasie und Gestaltungskraft:

      Ich habe ein System der individualisierenden […] Behandlung eingebürgert und dadurch die Schule für alle Schülerinnen zu einem Heim gemacht, in das sie mit Freude kommen und das sie ungern verlassen – eine Gemütsverfassung, welche die Hauptquelle der hohen Lernerfolge ist. […] Den hygienischen Bedürfnissen ist durch einen rationellen Turnunterricht und die zahlreichen Klassenausflüge im Frühling und Sommer genügt.[83]

      Das Institut von Eugenie SchwarzwaldSchwarzwald, Eugenie war nur eins von mindestens sieben Mädchenlyzeen, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts in Wien eröffnet worden waren. Sie alle verdankten ihre Entstehung den »Kämpfe(n) um die Mädchenbildungsreform«, die in einem »Trommelfeuer von Pamphleten und Petitionen« ausgetragen wurden, nicht nur seitens der Frauenbewegung, sondern auch von den »liberalen und sozialistischen Parteien«.[84] Oft wurde dabei der Vergleich mit Deutschland bemüht: Sogar in Preußen, einem Hort der Reaktion, gebe es weiterführende Schulen für Mädchen, in Österreich aber so gut wie gar nicht.

      Das Prinzip war überall dasselbe: in sechs sogenannten Lyzealklassen wurden die üblichen Fächer wie Deutsch, Englisch, Französisch, Mathematik, Naturwissenschaften, Religion und Geschichte gelehrt. Danach konnte eine »Lyzeal-Matura« abgelegt werden, die zum Besuch eines Lehrerinnenseminars oder zur Gasthörerschaft an der Universität berechtigte. Schülerinnen, die »richtig«

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