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neue Schulform des »Mädchen-Lyzeums« war so beliebt wie umstritten. Viele, besonders jüdische Eltern freuten sich, dass ihre Töchter endlich etwas anderes lernen konnten als Zeichnen, Singen und Sticken. Es gab aber auch Pädagogen, die strikt dagegen waren, weil »das weibliche Nervensystem […] zarter (und) reizbarer« sei als das männliche. Da Mädchen in der Regel langsamer lernten als Jungen, müssten sie sich doppelt so stark anstrengen. Sie müssten Tag und Nacht über ihren Büchern sitzen, anstatt sich an der frischen Luft zu bewegen oder zu schlafen. Die »Rosen« auf ihren Wangen würden erbleichen, und an die Stelle von Frohsinn träten »Mattigkeit, Missmut und Verdrossenheit«.[85]

      PaulaKellner, Paula spürte davon allerdings nichts. Ganz im Gegenteil. Sie war glücklich auf dem Lyzeum.

      Mein gedrücktes Selbstvertrauen richtete sich auf, […] ich wurde ein ganz normales Mädel, wenn auch noch immer ein wenig prüde. Ich freundete mich zum ersten Male mit Menschen an.[86]

      Im Sommer 1903 machte PaulaKellner, Paula die »Lyzeal-Matura« und hielt in der Prüfung einen Vortrag über »Die Bühne Shakespeares«, der sogar in den Jahresberichten der Schule erwähnt wurde.[87] Sie wollte nun Schriftstellerin oder Übersetzerin werden wie ihre MutterKellner, Anna (geb. Weiß). Doch ihr VaterKellner, Leon war dagegen. Das sei zu unsicher, nichts für ein Mädel. Also gab sie nach und ging auf das Lehrerinnenseminar, trat aber der zionistischen Studentenverbindung »Bar Kochba« bei und nahm Kurse in Hebräisch und Säbelfechten.[88] Denn für sie als noch immer überzeugte Herzl-Anhängerin war klar: Eines Tages würde sie nach Palästina gehen und beim Aufbau einer neuen Gesellschaft helfen. Als sie eines Tages ihr Diplom in der Hand hielt, war die MutterKellner, Anna (geb. Weiß) stolz, die Großmutter, Klara WeißWeiß, Klara, dagegen gar nicht. Denn obwohl sie selbst äußerst tatkräftig war, ihrem Mann immer im Geschäft geholfen hatte und einen gut gehenden Konfektionsladen auf der Bielitzer Tempelstraße betrieb, seitdem es mit dem Wollhandel bergab ging, war sie – zumindest verbal – gegen jede Frauenemanzipation. Sie hoffe, PaulaKellner, Paula werde einen guten Mann finden und es nie nötig haben, zu unterrichten, schrieb sie an ihre Tochter.[89] PaulaKellner, Paula behauptet sogar, sie habe versucht, das frisch erworbene Diplom zu zerreißen.[90] Doch das mag Übertreibung gewesen sein, denn PaulaKellner, Paula hatte ein sehr schlechtes Verhältnis zu Klara WeißWeiß, Klara, während sie LeaKellner, Lea, die Großmutter väterlicherseits, innig liebte.

      Zwischen Wien und Abbazia

      Im März 1904 erhielt KellnerKellner, Leon die Nachricht, dass er zum außerordentlichen Professor für englische Philologie an die Universität Czernowitz berufen worden sei. 1875 als »Franz-Josephs-Universität« gegründet, war sie noch relativ jung, die erste deutschsprachige Universität der Bukowina. Es studierten dort Deutsche, Polen, Ruthenen, Moldauer und Rumänen, darunter so viele Juden, dass böse Zungen von einer speziellen »Juden-Universität« sprachen.[91] Vorläufig gab es nur drei Fakultäten: eine philosophische, eine juristische und eine für griechisch-orthodoxe Theologie. Kaum jemand freute sich über eine Berufung in die »k.u.k. akademische Strafkolonie Czernowitz«, denn die Stadt war über tausend Kilometer von Wien entfernt, am Ende der Welt sozusagen. Die Eisenbahn brauchte fast 23 Stunden für die Strecke.

      PaulaKellner, Paula weigerte sich kategorisch, mitzugehen. Sie wollte in Wien bleiben und ihr Studium fortsetzen. AnnaKellner, Anna (geb. Weiß) war verzweifelt, weil sie schon wieder umziehen musste, und dann auch noch in die hinterste Provinz. Freunde rieten ihr, wenigstens ein Wiener Hausmädchen mitzunehmen, denn in Czernowitz bekomme man »gewöhnlich nur Rutheninnen, die nichts anhätten als ein Hemd und einen Pelz«.[92]

      Und Dora? Sie war 14 Jahre alt, auf dem Höhepunkt ihrer Pubertät. Nach unzähligen Umzügen hatte sie seit zwei Jahren endlich einen »festen Wohnsitz« in einem »vornehmen Zinshaus mit prachtvollem großen Garten« in der Nußdorfer Straße 25 im Alsergrund.[93] Der Besitzer, Julius LöwLöw, Julius, betrieb dort ein »Realitäten- und Hypotheken-Bureau«. Auf der Straße gab es mehrere Geschäfte: eine k.u.k. Hofbäckerei, einen Laden für »billige und elegante Kleider« und vor allem die 1880 eröffnete »Detailmarkthalle«, die heute noch steht. Hier wurde alles angeboten, was Zunge und Herz eines Feinschmeckers erfreute: Fleisch, Wild, Fisch und Geflügel, Brot, feines Gebäck, Obst, Gemüse, Gewürze, Eier, Sauerkraut und vieles mehr. Dora war fasziniert von dieser Welt, deren Bilder und Gerüche sie nie mehr loslassen würden. Noch Jahrzehnte später schwärmte sie von Stadtvierteln, aus deren Geschäften sich »Kirschen und Tulpen, Hummer, Flundern und Taschenkrebse in wildem Überfluss bis auf den Bürgersteig« ergossen, von Straßen, auf denen Händler ihr »wirres Geschrei erschallen« ließen und Hausfrauen die Lammschulter für den Sonntagstisch prüften.[94]

      Und diese schöne Welt sollte sie nun verlassen, um in die »k.u.k. akademische Strafkolonie Czernowitz« zu gehen, eine Stadt mit ungefähr 80000 Einwohnern, die zwar berühmt für ihre prächtigen Kuppeln, ihre Vielfalt der Sprachen und Religionen und ihr hoch entwickeltes »deutsches« Kulturleben war, aber auch für ihre Bettler, ihren Matsch, ihren Schneeregen und ihren Straßenkot, für ihren Bahnhof, der, gelblich und halb verfallen, schon seit Jahren renoviert werden sollte, um den Reisenden eine etwas freundlichere Begrüßung zu bieten?

      Im Frühjahr 1904 trat KellnerKellner, Leon seine Stellung in Czernowitz an, nachdem er sich glanzvoll aus Wien verabschiedet hatte. In der von ihm gegründeten jüdischen Bildungs- oder »Toynbee-Halle« im Stadtteil Brigittenau hatte er einen Vortrag über »Israel als Gastvolk« gehalten. Viele Zuhörer sollen unter Tränen gesagt haben, er sei es, der sie zum Judentum zurückgeführt habe durch Konzerte, Vorträge, Sprachkurse und gemeinsame Feste. Beladen mit Blumen und verfolgt von »tausendstimmigem Hoch« sei er traurig von dannen geschlichen, so als ob ihm der Jubel irgendwie peinlich gewesen sei.[95]

      PaulaKellner, Paula blieb also in Wien, um ihr Studium fortzusetzen, während AnnaKellner, Anna (geb. Weiß), Dora und ViktorKellner, Viktor ihm zähneknirschend nach Czernowitz folgten, allerdings erst im Herbst, nach einem Sommerurlaub in Abbazia, heute Opatija, Kroatien, ein ungewohnter Luxus, für den KellnerKellner, Leon tief in die Tasche gegriffen haben muss. Es war nobel und schön hier. Aristokraten aus aller Welt waren zu Gast, Kaiser Franz JosephFranz Joseph I., Elisabeth von RumänienElisabeth von Rumänien, Sophie von SchwedenSophie von Schweden. In der Nähe der Strandpromenade waren viele Prachtvillen gebaut worden, aber in der Stadt gab es noch enge, italienisch anmutende Gassen und kleine Kirchen mit schlanken Türmen. Wenn der Kaiser kam, wurde der ganze Ort mit bengalischen Feuern beleuchtet. Überall wehte die Flagge der Habsburger Monarchie. In den Schaufenstern standen Kaiserbüsten. Bis in den Winter blühten Rosen, Kamelien und Oleander. Die Kellners müssen sich wie im Paradies

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