Скачать книгу

Robert, BrahmsBrahms, Johannes und GriegGrieg, Edvard lagen ihr weniger. Sie meinte, dass sie vergeblich versucht hätten, das Klavier wie ein eigenes »Instrument« zu behandeln, während es in Wirklichkeit nur ein unvollkommener Ersatz für das Orchester sei.[102] Bei wem sie lernte – ob bei ihrer Mutter, im Selbststudium oder bei einem Lehrer –, ist leider nicht bekannt.

      Im Mai 1905 trat sie bei einer Feier auf, die das Lyzeum zum 100. Todestag Friedrich SchillersSchiller, Friedrich gab. Die gesamte Presse – das kleine Czernowitz hatte sieben Tageszeitungen! – berichtete darüber. Gemeinsam mit fünf anderen Mädchen sang Dora Solopartien aus dem »Lied von der Glocke« in einer zeitgenössischen Vertonung, eine »anmutige Huldigung« an den »Verkünder der Freiheit und Wahrheit«.[103]

      Auch Camilla, die Heldin ihres Romans, ist eine begabte Sängerin. Dora weiß das Timbre ihrer Stimme genau zu beschreiben:

      Tief und dunkel, nicht groß, aber warm und lebendig, frei von falschem Schmelz und Sentimentalität. Sie stieg, klar, einfach und ungezwungen empor und senkte sich mit der Leichtigkeit einer Feder, die zur Ruhe kommt.[104]

      Sang Dora so ähnlich? »Warm und lebendig«, aber nicht »groß« genug, um zur Bühne zu gehen, was ihr VaterKellner, Leon vermutlich auch nie erlaubt hätte? Ihre Liebe zur Musik soll sie immer behalten haben. In ihrem letzten – Londoner – Domizil stand ein Blüthner-Flügel, an dem sie spielte und sang, meistens BeethovenBeethoven, Ludwig van.[105]

      Als der erst 57-jährige Eduard ReißReiß, Eduard 1907 an einem Schlaganfall starb, war die Trauer groß. Von allen Seiten gingen Kondolenzschreiben ein, sogar vom »Verein der christlichen Deutschen«. Zu seinem Begräbnis hatten sich sämtliche Schülerinnen des Mädchenlyzeums, viele Studenten, der Vorstand der jüdischen Kultusgemeinde und große Teile der Bürgerschaft versammelt. Alle Zeitungen waren sich darüber einig, dass ReißReiß, Eduard den »nationalen und konfessionellen Frieden« in dieser »vielsprachigen Gemeinde« gestärkt und gefördert habe und auf lange Sicht von niemandem ersetzt werden könne.[106]

      Die Trennung

      Ungefähr um diese Zeit, im Frühjahr 1907, muss Anna KellnerKellner, Anna (geb. Weiß) sich entschlossen haben, Czernowitz zu verlassen und wieder nach Wien zu gehen. Zur Begründung gab sie an, dass sie PaulaKellner, Paula nicht länger allein lassen wollte; dass ViktorKellner, Viktor, der kurz vor dem Eintritt ins Gymnasium stand, sich geweigert habe, Rumänisch zu lernen, was in Czernowitz obligatorisch gewesen sei; vor allem aber, dass Dora, die im Juli 1906 ihre Lyzeal-Matura bestanden hatte, unbedingt wieder nach Wien wollte, um ihre höhere Schulbildung fortzusetzen. Das wäre zwar auch am Staatsgymnasium von Czernowitz möglich gewesen, wie das Beispiel von Ninon AusländerAusländer, Ninon, der späteren Frau Hermann HessesHesse, Hermann, zeigt,[107] doch für Dora war das keine Option. Sie hatte Heimweh und wollte nur fort.

      Tatsächlich hatte sich die Stimmung in der Stadt sehr verändert, seitdem der Kampf um die Nachfolge von ReißReiß, Eduard ausgebrochen war. Bei aller Verehrung des Toten bestanden die Christlich-Sozialen darauf, dass diesmal kein Jude gewählt werden sollte. Eine Zeitung schrieb, »in Kreisen, welche dem antisemitischen Klüngel nicht allzu fern stehen«, sei gedroht worden, dass andernfalls »Blut fließen« würde.[108] Dazu kam es allerdings nicht. Denn Christen und Juden einigten sich auf einen gemäßigten Kandidaten. Bis zu seiner Wahl war die Stadt jedoch herrenlos. Johlende Burschen randalierten auf dem Ringplatz. Die Fenster einer jüdischen Schule wurden zertrümmert. »Auf der ganzen Linie war kein Wachmann zu sehen. Die beste Voraussetzung für ein Pogrom!« hieß es in der Presse.[109]

      AnnaKellner, Anna (geb. Weiß) wird später viele Legenden über ihre angeblich rundum glückliche Ehe verbreiten. Sie seien in 45 Jahren kaum länger als einen Tag getrennt gewesen, schreibt sie zum Beispiel.[110] Tatsächlich waren sie es für mindestens sieben Jahre, denn nach ihrem Wegzug blieb KellnerKellner, Leon noch bis 1914 in Czernowitz, und zwar freiwillig. Er hätte sich wegversetzen lassen können, notfalls wieder an eine Schule in Wien. Doch er blieb lieber in Czernowitz, wo er Vorträge über GoetheGoethe, Johann Wolfgang von und ShakespeareShakespeare, William hielt, eine weitere jüdische »Toynbee-Halle« gründete, im Vorstand der Kultusgemeinde mitwirkte und als Vorsitzender eines »jüdischen Volksrates« sogar in den Landtag einzog, obwohl AnnaKellner, Anna (geb. Weiß) und ihre Mutter strikt dagegen waren.

      »Lass dich nicht in Politik ein!«, warnte Klara WeißWeiß, Klara. Er werde kein »häusliches Glück« und keine »innere Ruhe« mehr finden.[111]

      Doch er ließ sich ein, und zwar vehement. Anders als früher vertrat er nun nicht mehr explizit die Idee eines »Judenstaates« in Palästina, sondern forderte mehr Autonomie für die Juden in Österreich, sprich: ihre Gleichstellung mit den anderen Volksgruppen wie den Rumänen, Ruthenen, »Deutschen« und Böhmen und die Anerkennung des Jiddischen als eigene Sprache:

      Wien sagt uns, das Jüdische sei keine Sprache, folglich könne die Regierung die Juden nicht als Nationalität anerkennen […]. Staatstheoretiker von anderer Färbung sagen, die Juden seien keine Nation, denn es fehle ihnen der Boden; wieder andere sagen, sie können die Juden nicht als Nation anerkennen, weil sie nicht bewiesen haben, dass sie eine reine Rasse sind und dergleichen Kinkerlitzchen mehr.

      Die Juden von heute […] fragen […] euch, die anerkannten Nationalitäten: Sind wir Rumänen? (Zwischenruf) Keine Spur! Wir fragen die Ruthenen: Zählen Sie uns zu den Ruthenen, wenn wir die ruthenische Sprache sprechen? Denn es gibt viele Juden, die vortrefflich Ruthenisch sprechen. Die Ruthenen antworten: Keine Spur!

      Nun kommen die Deutschen. Ich bilde mir ein, dass viele von uns die deutsche Sprache und Literatur so sehr in sich aufgenommen haben, dass man sie nach der Sprache sicherlich nicht von den arischen Deutschen unterscheidet. Richtet man aber an die Deutschen die Frage, ob jene Leute, die die deutsche Sprache, Literatur und Kultur in sich aufgenommen haben, Deutsche sind, dann werden die Herren sicherlich mit »Nein« antworten. Was sind wir also? Sie selbst sagen, dass wir nicht Rumänen, nicht Deutsche und nicht Ruthenen sind; wir sagen Ihnen, wir sind Juden![112]

      Das war eine Abkehr vom klassischen Zionismus-Gedanken, der Anfang einer Karriere als Volkstribun. Wo immer KellnerKellner, Leon sich in Czernowitz oder der Bukowina blicken ließ, die jüdische Bevölkerung feierte ihn und rief »Hoch, Kellner!«. Mochte es seiner Frau gefallen oder nicht: Er dachte gar nicht an eine Rückkehr nach Wien, sondern genoss seinen Ruhm und seinen politischen Auftrag.

      Endlich sesshaft

      AnnaKellner, Anna (geb. Weiß) musste sich also mit den Kindern alleine durchschlagen, genauer: mit ViktorKellner, Viktor und Dora, denn PaulaKellner,

Скачать книгу