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entwickelte, das »Behring’sche Gold«. Das »ElserleWeiss, Else Elserle« hatte offenbar nichts mehr davon. Ob Dora damit behandelt wurde oder aufgrund ihrer kräftigen Konstitution überlebte, ist nicht bekannt. Sicher ist nur, dass Anna KellnerKellner, Anna (geb. Weiß) mit ihr nach Meran fuhr, wovon man sich Heilung versprach. Ihr Bruder, Dr. Moritz WeißWeiß, Moritz, der gutverdienende Generalsekretär einer Kohlenwerksgesellschaft, begleitete sie auf der langen Zugfahrt und übernahm die Kosten.[55] Wieder stand Dora im Mittelpunkt. Wieder war sie der »Star«. Für PaulaKellner, Paula, die mit dem Vater in Wien blieb und an Dienstboten delegiert wurde, eine erneute Kränkung.

      Doch kaum war die Krankheit überstanden, braute sich neues Unheil zusammen. Für den Herbst 1895 waren Stadtratswahlen angesetzt worden. Nach großen Erfolgen der Christlich-Sozialen Partei stand zu befürchten, dass deren Führer, Rechtsanwalt Dr. Karl LuegerLueger, Karl, Bürgermeister von Wien werden würde. Er zog bereits durch die Wirtshäuser und hielt flammende Reden, die vor allem ein Thema hatten: die Juden!

      Ja, in Wien gibt es doch Juden wie Sand am Meere, wohin man geht, nichts als Juden, geht man auf die Ringstraße, nichts als Juden, geht man ins Theater, nichts als Juden, geht man in den Stadtpark, nichts als Juden, geht man ins Concert, nichts als Juden, geht man auf den Ball, nichts als Juden, geht man auf die Universität, wieder nichts als Juden. […] Meine Herren, ich kann ja nichts dafür, dass beinahe alle Journalisten Juden sind und nur hie und da in der Redaktion ein Redaktionschrist gehalten wird, den sie allenfalls vorführen können.[56]

      LuegerLueger, Karl sah sehr gut aus und hatte viel Charme, der besonders die kleinen Leute, aber auch viele Beamte und Lehrer ansprach. Seine Reden hielt er in breitestem Wienerisch. Auch der katholische Klerus liebte ihn und blickte zu ihm auf wie zu einem Herrgott. Für KellnerKellner, Leon, der bisher jede politische Einmischung vermieden hatte, wurde es höchste Zeit, sein Studierstübchen zu verlassen und Position zu beziehen.

      »Mit Leib und Seele Zionist«

      Am 9. April 1896 wurde das dritte und letzte Kind der Kellners geboren, diesmal ein Junge: ViktorKellner, Viktor. Dora beharrte auf ihrem Lieblingsnamen »Fiesco«, aber leider konnte man ihr diesen Wunsch nicht erfüllen. Mit ViktorKellner, Viktor war sie aber auch ganz zufrieden. Denn sie sprach ständig von einer Märchenfigur namens »Vickerich«, die sie sehr liebte.[57] Angeblich soll sie von Ludwig BechsteinBechstein, Ludwig stammen, in dessen Texten sie aber nicht nachweisbar ist.

      Eines Abends – es war gegen elf, die Eltern waren ausgegangen – klingelte es an der Tür. Dora, ViktorKellner, Viktor und die Hausmädchen schliefen schon. Aber PaulaKellner, Paula sprang mit nackten Füßen aus dem Bett und schaute nach, wer da war. Sie hatte gerade »einen verbotenen Roman« gelesen, wahrscheinlich eine »Empfehlung« der Hausmädchen. Der Vater konnte ihr zwar verbieten, zur Schule zu gehen. Doch die Neugier konnte er ihr nicht nehmen.

      PaulaKellner, Paula stellte sich also auf die Zehenspitzen und sah durch das Guckloch in der Wohnungstür. Draußen standen zwei Herren. Der eine hatte ein »Mopsgesicht« mit »hängendem Schnurrbart«. Der andere war »groß und unwahrscheinlich schön, mit schwarzem Bart und blitzenden Augen«. Er trug einen Pelzmantel und eine Melone. Als sie öffnete, gab er ihr die Hand und stellte sich vor:

      »Gestatten! Doktor Theodor HerzlHerzl, Theodor! Ist es möglich, deinen Herrn VaterKellner, Leon zu sprechen?«

      PaulaKellner, Paula verneinte, ging wieder ins Bett und spürte: Sie hatte sich verliebt! Er hatte einen so schönen Bariton, dieser HerzlHerzl, Theodor! Und er war überhaupt so anziehend und elegant, tausendmal mehr als ihr VaterKellner, Leon, der immer zerschlissene Röcke trug und leicht vierschrötig und provinziell wirkte. Ihr Leben lang sollte HerzlHerzl, Theodor ihr Schwarm, ihr Idol bleiben. »Die Bewegung, die er geschmiedet hatte«, habe »ihr ganzes Wesen« erfüllt, schreibt sie in ihren Erinnerungen.[58]

      HerzlHerzl, Theodor hatte KellnerKellner, Leon gerade sein neu erschienenes Buch geschickt, Der Judenstaat,[59] seine erste politisch-programmatische Schrift nach einigen mäßig erfolgreichen Theaterstücken. Es kam genau im richtigen Moment, auf einem Höhepunkt der deutsch-österreichischen Judenhetze. HerzlHerzl, Theodor schrieb darin:

      Die Angriffe in Parlamenten, Versammlungen, Presse, auf Kirchenkanzeln, auf der Straße, auf Reisen – Ausschließung aus gewissen Hotels – und selbst an Unterhaltungsorten mehren sich von Tag zu Tag. […] Tatsache ist es, dass es überall auf dasselbe hinausgeht, und es lässt sich im klassischen […] Rufe zusammenfassen: Juden raus! – Ich werde nun die Judenfrage in ihrer knappsten Form ausdrücken: Müssen wir schon ›raus‹? Und wohin? Oder können wir noch bleiben? Und wie lange?[60]

      HerzlHerzl, Theodor entwickelte ein Modell, auf das in dieser Konsequenz noch niemand gekommen war: ein eigenes Land für die Juden, am besten in Argentinien oder Palästina. Er wollte eine »Jewish Company« gründen, die Land kaufen, Häuser bauen und Juden in verschiedenen Handwerken unterweisen sollte. Die gemeinsame Sprache sollte Deutsch sein, die Verfassung eine »aristokratische Republik«. Füge es sich, dass auch Andersgläubige in dieser Republik wohnten, solle ihnen Schutz und Respekt gewährt werden.

      Die »Bewegung«, die HerzlHerzl, Theodor »geschmiedet« hatte, hieß: Zionismus. KellnerKellner, Leon ließ sich sofort davon anstecken. Schon im Juni 1896 schrieb er an einen Freund in Troppau:

      Ich bin mit Leib und Seele Zionist. […] Wir wollen so viele arme Juden […] als nur möglich nach den fruchtbaren Teilen von Palästina und Syrien bringen und ihnen dort eine Selbstverwaltung sichern – das ist alles. […] Ich bin ein guter Österreicher in jeder Beziehung, bereit, mit dem Vaterlande Freud und Leid zu teilen […]. Ich lebe mit Christen, arbeite mit ihnen, erziehe christliche Kinder […]. Die deutsche Sprache ist mir zum zweiten Vaterlande, zur geistigen Heimat geworden, und ich bin ein deutscher Schriftsteller […]. Aber wie viele meiner Stammes- und Glaubensgenossen haben eine […] solche Gegenwart? […] Und weiß ich, was meinen Kindern bevorsteht?[61]

      Neue Heimat London

      Als Dora ins schulpflichtige Alter kam, war von Schulbesuch so wenig die Rede wie bei PaulaKellner, Paula, zumal auch HerzlHerzl, Theodor beschlossen hatte, seine Kinder PaulineHerzl, Pauline, TrudeHerzl,

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