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mit der Mutter immer schlechter verstand. AnnaKellner, Anna (geb. Weiß) war strikt dagegen, dass sie nach Palästina auswandern wollte und soll für diesen Fall sogar mit Selbstmord gedroht haben.[113] Sie war keine Verehrerin HerzlsHerzl, Theodor und seiner Thesen, sondern hielt sich weitmöglichst vom Zionismus fern, eine Haltung, die sie erst Jahrzehnte später revidieren würde.

      Im ersten Jahr scheinen sie mal da, mal dort unterkommen zu sein. Erst 1908 ist wieder eine feste Adresse nachweisbar: Messerschmidtgasse 23 im 18. Bezirk, zwischen Währing und Gersthof. Es gab dort keine romantische »Detailmarkthalle« wie auf der Nußdorfer Straße. Alles war nüchtern, sachlich und modern. Die Fahrbahn und die Bürgersteige wurden gerade verbreitert. Überall entstanden Neubauten.[114] Statt der alten Glöckerlbahn fuhr hier die Dampftramway, mit der man bequem den Westbahnhof erreichen konnte. Die Zimmer im Haus waren groß und hell. Es gab elektrisches Licht. In einer Nachbarwohnung wurde sogar ein »kleines Sanatorium« betrieben, vermutlich für psychisch Kranke.[115]

      Wien hatte sich verändert, war moderner und lebenswerter geworden, und zwar ausgerechnet unter Bürgermeister Karl LuegerLueger, Karl, der so heftig gegen die Juden agitiert hatte. Es waren neue Parkanlagen, Kirchen, Schulen und Krankenhäuser entstanden, in Simmering wurde ein neues Gaswerk gebaut, es gab mehr bezahlbaren Wohnraum, und auch für die Armen und Arbeitslosen wurde mehr getan. LuegerLueger, Karl war als Redner etwas leiser geworden. Man hörte ihn nicht mehr so oft gegen die Juden hetzen und munkelte sogar, dass er gesagt habe:

      Ja wissen’s, der Antisemitismus is a sehr gutes Agitationsmittel, um in der Politik hinaufzukommen. Wenn man aber einmal oben is, kann man ihn nimmer brauchen, denn des is a Pöbelsport![116]

      Seit 1907 ging Dora auf dieselbe Schule, die auch PaulaKellner, Paula besucht hatte: die Eugenie-Schwarzwald-Schule, deren Leiterin inzwischen noch populärer geworden war, eine Lichtgestalt der Mädchenreformpädagogik. Da Dora ihre Lyzeal-Matura schon gemacht hatte, trat sie sofort in die zweite Stufe der Gymnasialkurse ein, um sich auf die »richtige« Matura vorzubereiten. Im Jahresbericht der Schule heißt es zu diesen Kursen:

      Als Vorbildung wird die Absolvierung der unteren drei Lyzealklassen oder der Bürgerschule mit entsprechender privater Ergänzung der Kenntnisse vorausgesetzt, da die modernen Sprachen den Untergrund der gymnasialen Schulung zu bilden haben; eine Aufnahmeprüfung hat in zweifelhaften Fällen das Vorhandensein der nötigen Kenntnisse nachzuweisen. […] Diese Institution soll keine »Presse« sein, sondern eine wirklich humanistische Bildungsanstalt; ihr Ziel ist nicht einzig und allein die Maturität, sondern die Vermittlung einer gründlichen klassizistischen Bildung.[117]

      Liest man die Lehrpläne dieser Gymnasialkurse etwas genauer, muss man allerdings doch den Eindruck gewinnen, dass es sich hier um eine Pauk- und Drillanstalt ohne großen pädagogischen Anspruch handelte. Es ging im Grunde nur darum, den Mädchen in vier Jahren einzuhämmern, wofür die Jungen neun Jahre Zeit hatten: Latein und Griechisch, die Voraussetzung für das humanistische Abitur.

      Im ersten Jahr ihres Schulbesuchs hatte Dora fünf Wochenstunden in Latein und sechs in Griechisch, aber nur zwei in Deutsch. Kunst und Musik wurden überhaupt nicht gelehrt, Geschichte und Philosophie nur sehr oberflächlich. Der Deutschunterricht reichte von den »ältesten Zeiten bis zum Göttinger Hainbund«, also bis 1775. Im Aufsatz mussten Themen wie »Schöne Ferientage« oder »Poesie der Nacht« bearbeitet werden.[118]

      Im darauffolgenden Jahr, 1908, lagen die Schwerpunkte ähnlich. Zehn Stunden CiceroCicero, LiviusLivius, TacitusTacitus, PlatonPlaton, EuripidesEuripides und dergleichen, zwei Stunden Deutsch, hauptsächlich SchillerSchiller, Friedrich und HerderHerder, Johann Gottfried. In Mathematik ging man kaum über bürgerliches Rechnen hinaus. Etwas differenzierter war der Unterricht in »Naturgeschichte«, worunter Zoologie, Somatologie, Botanik und Mineralogie verstanden wurden.[119]

      Im dritten und letzten Jahr entfiel dieses Fach. Dafür wurde ein wenig Physik gelehrt. Im Deutschunterricht ging es laut Lehrplan zwar um die Literatur »bis zur Gegenwart«, es werden aber keine Namen genannt, Stefan ZweigZweig, Stefan, Hugo von HofmannsthalHofmannsthal, Hugo von oder Arthur SchnitzlerSchnitzler, Arthur etwa. Die Aufsatzthemen blieben unverändert anspruchslos und banal: »Warum setzen sich die Menschen den Gefahren des Meeres aus?«, »Warum ist Italien das Land der Sehnsucht der Deutschen?« oder »Die Rolle des Waldes im Haushalte der Natur«. In Geschichte verließ man nie das Territorium des Habsburgerreichs. Deutschland, England oder Frankreich kamen nicht vor, ganz zu schweigen von Russland, Indien oder gar Amerika.[120]

      Im Juli 1909 schloss Dora die Gymnasialkurse ab, zusammen mit 14 anderen Mädchen, überwiegend Jüdinnen. Die meisten strebten nun das »richtige« gymnasiale Abitur an. Alle gaben an, studieren zu wollen, und zwar »Naturwissenschaften« (4), Medizin (4), Musikwissenschaft (1), Lehramt (1), Chemie (1), Philologie (1), Philosophie (1) und Mathematik (1).[121] Unmittelbar danach machte Dora das eigentliche Abitur am Akademischen Gymnasium in Wien, einer von Jesuiten gegründeten Eliteschule, die schon Hugo von HofmannsthalHofmannsthal, Hugo von, Arthur SchnitzlerSchnitzler, Arthur und Franz SchubertSchubert, Franz besucht hatten. Sie bestand wieder alles mit Auszeichnung, als Einzige der acht externen Schülerinnen, die mit einer Ausnahme alle vom Schwarzwald-Lyzeum kamen,[122] eine anscheinend sehr positive Bilanz für diese Schule.

      »Ein infames Luder«

      Viele Mädchen verblieben nach dem Abitur im Bannkreis SchwarzwaldsSchwarzwald, Eugenie, die mit ihrem Mann einen großen Salon führte, in dem SchönbergSchönberg, Arnold, KokoschkaKokoschka, Oskar, Adolf LoosLoos, Adolf und andere Wiener Künstler verkehrten. Es wurde zwar kein Alkohol getrunken, aber hoch her ging es trotzdem. Ehen, ob zu zweit oder zu dritt, wurden gestiftet und wieder auseinandergebracht. Die Geschlechterrollen vermischten sich. Frau SchwarzwaldSchwarzwald, Eugenie hatte ihre speziellen jungen Schützlinge, von denen man nie recht wusste, was sie eigentlich für sie waren: Ersatztöchter? Mitarbeiterinnen? Oder Geliebte? Wenn der berühmte Architekt Adolf LoosLoos, Adolf, Innenausstatter ihrer Villa, sich an kleine Mädchen heranmachte, drückte sie gerne mal ein Auge zu. Seine Frau ElsieLoos, Elsie war mehr als 30 Jahre jünger als er und ebenfalls Absolventin der Schwarzwald-Schule. Er kannte sie schon, seitdem sie sechs war. Doch eines Tages war sie ihm nicht mehr »jung« genug. Deshalb verging er sich immer wieder an kleinen Mädchen, bis er 1928 endlich angezeigt wurde, ein großer Schock für die Wiener Boheme. Bei einer Durchsuchung seiner Wohnung wurden Hunderte pornographischer Bilder von Fünf- und Sechsjährigen gefunden. Viele Kinder, die er missbraucht hatte, sagten gegen ihn aus, aber sein Anwalt Gustav ScheuScheu,

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