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in dem er, Georg, einmal heimlich gelesen. Am Schluss gibt es immer die Versöhnung. Was für ein Glück, dass er mit seinen elf Jahren nun wirklich schon sehr verliebt war, also Erfahrungen hatte. Zu einem Kuss war es allerdings nie gekommen.

      Durchaus verständlich war für Georg, dass auch Frau B. die Romanhefte so spannend fand, dass sie gar nicht aufhören konnte damit. Ein besonders gutes Brot muss das sein, dachte er, weil sie nie hungrig wird während des Lesens. Er schon. Waren das vielleicht Liebesgeschichten, die er nicht lesen durfte? Er verkniff sich die Frage, um die neue Friedlichkeit der Frau B. nicht auf die Probe zu stellen. Neuerdings hatte sie ihm sogar geraten, doch die Bücher ihres Sohnes zu lesen, die in der Kammer herumlagen. Georg selbst hätte nie darum bitten wollen, hatte auch selber derlei niemals geschenkt bekommen. Also betrachtete er die Schätze des Ziehbruders, der ja nicht sein Bruder war und überhaupt nie sein hätte wollen mit kühler Distanz, nahm sie eines Abends aber trotzdem mit in sein Bett. Seinen Hunger vergaß er gleich nach den ersten Seiten der Abenteurergeschichten und erfreute sich an ihnen ohne Bitterkeit.

      So ließ es sich leben. Immer wieder erinnerte sich Georg an den alten Herrn, der seine Bücher im Glasschrank ein anderes Brot genannt hatte. Für Frau B. schien das tatsächlich zuzutreffen, Georg irrte sich nicht. Sie hatte keinen anderen Appetit als den nach neuen Heften. Die Abenteuerbücher des Bertl auf Georgs Nachttisch waren bald ausgelesen und entsprechend hungrig lag er da. Einmal, er konnte nicht anders, schlich er barfuß wie er war, um den Tisch herum und erblickte Frau B. in ihrem Bett, unter der Tuchent, den Kopf seitwärts in die abgewinkelte Hand gestützt. Sie sah nicht auf, als er, mit Herzklopfen zwar, aber doch mutig, um eins ihrer Hefte bat. Nimm was d’ willst, brummte sie, weil es ihr wirklich egal war, und blätterte geschwind eine Seite um.

      Der Vorteil dieser Lesezeiten lag klar auf der Hand. Friede war eingekehrt, seit die Liebesgeschichten sich auf Tischen und Sesseln stapelten. Stille und beinah Behaglichkeit. Auf seinem regelmäßigen Weg zum Romanheftverleiher nahm Georg daher nach und nach noch weitere Leseproben aus dem Dunstkreis der Frau B., was ihn veranlasste, abends immer wieder in die gegenüber liegende Zimmerecke zu schleichen und um die nächste Geschichte zu bitten. Er las so lang, bis er meinte, nun alles zu wissen über die Liebe und sie am Ende recht eintönig fand.

      Du hast Recht, es ist immer das Gleiche, sagte der Trafikant. Nimmst halt was anderes. Und fingerte aus seinem Regal einen stattlichen, nur wenig beschädigten Band hervor. Das war ein richtiges Buch. Joseph Conrad, Engländer zur Zeit Charles Dickens. „Der Verdammte der Inseln“. Damit begann was bald nicht mehr enden sollte, die Lust auf Bücher samt allen Möglichkeiten, die sich daraus ergaben. Georg gelang ein erster Blick über die armselige, den wachen Geist beengende Dörflichkeit hinaus in ein buntes Dasein. Leichtfüßig wie er war gelang ihm der Übertritt wie im Spiel.

      Was der Wahl-Engländer Joseph Conrad damals für Georg bedeutete ist aus seinem späteren Leben nicht mehr wegzudenken. Dieser große reisende Mann ganz anderer Herkunft führte ihn – durch Vermittlung eines Trafikanten – aus seiner Einsamkeit heraus. Nahm ihn ganz einfach an die Hand und öffnete dem verschlossenen Kostkind der Familie B. mit seinen großen Romanen die erste Tür in die Welt erlesener Literatur. Joseph Conrad lenkte das Interesse des Knaben von öden Liebesgeschichten in eine Richtung, die auch später dem Heranwachsenden das Leben spannend und immer wieder erträglich machte, war Initiator seltener Erfahrungswelten und stillen Leseglücks. Ließ ihn teilhaben an den Abenteuern des Dschungels, fuhr mit ihm auf schwarzer, stürmischer See, drängte Georgs kurze, aber umso schmerzvoller erlittene eigene Lebenserfahrung in den Hintergrund, vielleicht in ähnlichem Ausmaß wie der Autor selbst seine bösen Erfahrungen durch Hingabe an das Schreiben gemeistert hatte. Abenteuerliche Geschichten waren es, die Georg da las. Wilder und gefährlicher als alles, was sich in Georgs Kopf bisher als wild und gefährlich gezeigt hatte.

      7 WAS, WO UND WARUM

      Von Zeiten bewussten Lesens darf also fortan die Rede sein. Denn wessen Zeit und Geschichte vordem im minder Bewussten geblieben, weil sie misslich, verwerflich oder einfach nicht zu verstehen war, dem wird das Ereignis erster wacher Leseerlebnisse umso näher sein, Momente der Bewusstwerdung seiner selbst umso deutlicher im Gedächtnis bleiben um später viele dunkle Stunden und schweigende Nächte zu füllen. Und um wieder erzählt zu werden.

      Erzählen war allerdings Georgs Sache damals nicht. Neugierige Frager konnten froh sein, wenn sie überhaupt eine Antwort erhielten, knapp, ungeduldig oder gelangweilt. Das kam erst viel später. Doch kaum berichtete Georg von seiner Schulzeit, noch weniger von vermisster Zuwendung und fehlendem Trost jener Jahre und gar nichts vom Schmerz. Umso wichtiger wurde, was alles im Laufe der Zeit an Büchern ihm unter die Augen kam. Nach mehreren Bänden Joseph Conrad fand sich im Regal des Trafikanten einmal durch Zufall nichts anderes als ein Band Karl May. Dem konnte Georg nicht allzu viel abgewinnen. Ihm gefielen zwar einsame Ritte durch die Prärie, Indianerkämpfe jedoch weit weniger. Sie erinnerten ihn an Kinderspiele, an die Buben seiner Klasse, die derlei unter sich auf den Wiesen hinter dem Dorf ausfochten oder oben am Waldrand. Ihnen war er gern ausgewichen, aus Abscheu vor blutigen Knien und Nasen, vor dummem Geheul und Geschrei.

      Gefällt dir das nicht? wunderte sich der Trafikant. Sind doch richtige Bubengeschichten! So kam es, dass Georg mit der Zeit nur mehr Erwachsenenliteratur zu lesen bekam und sehr zufrieden damit war.

      Mit dem letzten Tag in der dörflichen Volksschule war die Zeit der Kindheit endlich vorbei. Ein Zeugnis darüber hätte es nicht gebraucht, meinte Georg, wenn ihm jene acht unangenehmen Jahre wieder einmal das Gemüt überschatteten. Doch auch ein solches Zeugnis muss eine Zeit lang aufbewahrt werden, als Dokument und Beweis, dass er überhaupt in dieser Gegend gewesen, hier lesen und schreiben gelernt hat und einiges vielleicht doch dazu. Das alles sogar bestätigt mit Stempel und Unterschrift. Dass er in jenen Jahren Generationen von Kaninchen ernährt und allein versorgt, jeden Grashalm im Garten geschnitten und für seine Kostleute, Herrn und Frau B. als billiger Hausknecht für viele Extrawünsche zuhanden war stand nicht darauf. Zerreißen durfte man dieses Papier dennoch nicht, das wurde dem Halbwüchsigen dringlich ans Herz gelegt.

      Andere hatten die Hauptschule besuchen dürfen, die war mehrere Kilometer entfernt. Doch Herr und Frau B. hatten damals gemeint, das sei für Georg nicht nötig, das koste nur Geld, nämlich weil die meisten der Buben dorthin mit einem Wagen gefahren wurden. Und wenn er zu Fuß geht verbraucht er die kostbare Zeit! Dies war das Argument von Frau B. Und womöglich behauptet er später, das sei ihm beschwerlich gewesen. Nein, nein, und was denn nicht noch alles, meinte Frau B. Der Kerl soll lieber im Ort was lernen. Das wird doch genügen. Oder?

      Dabei war es geblieben. Der Bertl, ein Hauptschüler, hatte damals mitfahren dürfen, er war älter und in einer höheren Klasse. Georg durfte das nicht. Ist ohnehin noch so klein und so dürr, die Volksschule passt genau zu ihm! Wer tät denn das Hasenfutter daherbringen, das Gras schneiden und alles andere machen? Da lernt er ja auch was dabei, sagte Frau B.

      Umständlich faltete Georg also sein Zeugnis zusammen, stopfte es in den Beutel, der seine Habseligkeiten barg und beschloss, es so lange bedeckt zu halten, bis niemand mehr danach fragte. Alles Mögliche ging ihm durch den Kopf, damals wie später. Bitterkeiten. Doch wich er gern aus, wenn Frau B. oder irgendein anderer nach seinen Absichten fragte. Frau B. interessierte sich, wie er meinte, ohnedies nicht für seine Ideen. Er wusste, sie hatte andere Sorgen. Sie sorgte sich um den Verbleib ihres Bertl, der sich unlängst erst als Freiwilliger zum Militär gemeldet hatte und sofort genommen worden war. Und jetzt, da er fort war, bangte sie um ihn mehr als um den Verbleib des Herrn B. und war meist auch schweigsam gegenüber dem Kostkind, das ja hoffentlich auch irgendwann erwachsen sein würde und außer Haus. Für Georg fühlte sie sich nicht verantwortlich. Er muss selber schauen, wie er zurechtkommt, meinte sie. Und richtig besehen war er ja wirklich nicht ihr Kind.

      Nach einigem Hin und Her kam sie mit manchen vertrauten Leuten aber doch auf Georgs Zukunft und eine mögliche Lehrzeit zu sprechen. In diesem Fall könne er aber bei ihr nicht bleiben, meist seien die Wege zu weit. Der Bub müsse doch selber wissen, was das Beste für ihn sei. Gehst halt in die Fabrik so wie die anderen. Was willst denn sonst machen, meinte sie. Da bleiben kannst net, Geld hast dir a no net verdient. Wenn aner ka Bauer is und kan eigenen

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