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kann man nicht essen, hatte der alte Herr gesagt. Damals hätte Georg gleich fragen sollen, sich aber doch nicht getraut.

      Er lag, den Arm seitlich aufgestützt, bequem auf der Decke. Auf dem Brettersofa machte Georg es sich bequem, streckte sich rücklings aus und sah in der Enge seines Verstecks, zwischen Schuppen und Mauer, den vorüber ziehenden Wolken nach. Sie verschwanden jenseits der Ziegelwand und andere kamen nach. Große Wolken und kleine, an den Rändern zart und ausgefranst, manche so durchsichtig wie ein Schleier. Er hätte sie gerne festgehalten. Sie kamen und zogen gleich wieder weg. Viel zu schnell, dachte Georg. Viel zu schnell.

      Das war ein guter Platz, sicher einer der schönsten und das beste Sofa, das einer sich wünschen konnte. Als sich Hunger zu melden begann, lief er nicht gleich ins Haus sondern wartete noch eine Weile bis der Gedanke an Brot sich zu steigern begann. In seinem Hosensack hatte er seit Mittag ein kleines Stück Brotrinde; nicht gleich verspeist, so wie er es sonst tat, sondern vorausschauend aufgespart. Das zog er nun genüsslich heraus. Hinter der Schuppentür, wohl verwahrt unter dem vielen Holz, abgedeckt von allen Seiten, so dass kein Regenwasser dazu kam, bewahrte er seinen Schatz auf, ein sorgsam gehütetes Geheimnis. Ein altes Holzkörbchen war es, nicht groß und schon halb zerbrochen, innen mit Zeitungspapier sauber ausgelegt, damit sein Schatz nicht durch alle Ritzen fiel. Hier bewahrte er seine eigenen Nüsse auf, die er – es war ja Ende September – da und dort schon gefunden hatte: am Waldrand auf Feldwegen und neben der Straße. Frau B. hatte ihm nie erlaubt, von den Vorräten der Familie zu essen, und er hielt sich daran, nachdem sie in der Vorratskammer, wo Georg schlief, ihren Nüssesack streng kontrollierte. Nur einmal war Georg mit Recht verdächtigt worden, doch würde das nicht mehr passieren. Mit eigenem Vorrat konnte er Frau B.s Nüsse gleichmütig und ohne die leisesten Nebengedanken betrachten. Jede Nacht konnte er sie riechen und dennoch widerstehen, was ihn irgendwie beinahe erwachsen machte, überlegen und glücklich.

      Jetzt zählte er seine eigenen Nüsse, während er an der Brotrinde kaute. Es waren bereits vierzehn Stück und es würden noch mehr werden bis die Nusszeit vorüber war. Georg bedeckte seinen Schatz mit altem Zeitungspapier und schob das Körbchen unter die Bretter der Hütte, deren doppelter Boden und metallisch klingender Unterbau Schutz genug vor gefräßigen Nagern bot. Dann verdeckte er diesen Platz mit Gartengerät, verwischte die Spuren im Staub und verschloss den Hintereingang der Hütte bevor er zurück ins Haus ging.

      So oft es ihm möglich war, suchte Georg seinen Geheimplatz auf. Von Zeit zu Zeit zählte er seine Schätze. Er tat immer etwas dazu, rechnete, sparte und wusste genau, wie viele Nüsse er wöchentlich verzehren durfte, um den Winter mit Nüssen zu überstehen. Haushalten musste er mit diesem wertvollen Gut, nur keine Verschwendung, dachte Georg. Alles muss seine Ordnung haben. Er gestattete sich keinen Heißhunger mehr, vielleicht auch deswegen nicht, weil Nüsse nur mit den eigenen kräftigen Zähnen zu knacken waren; das gelingt nicht oft hintereinander. Nüsse mit Steinen aufzuschlagen verbot sich von selber, des Lärmes wegen und der Gefahr, wegen unvermeidlicher Spuren entdeckt zu werden. Das Wichtigste an der Sache war, ein Geheimnis zu haben, von dem niemand wusste und kein Mensch auch nur ahnte auf dieser ganzen weiten Welt.

      6 LESENDE

      Seit Herr B. mit dem Motorrad unterwegs war schlief er selten daheim. Zwecks Erlernung eines Berufes war auch der Sohn der Frau B. aus dem Haus, deshalb beleuchtete die sparsame Frau abends nur einen der vorhandenen Räume. Georg durfte die Vorratskammer, wo für ihn das alte Eisenbett aufgestellt worden war verlassen und Frau B. richtete das Sofa gegenüber ihrer eigenen Schlafstatt für ihn her, so dass die beiden Alleingelassenen abends je eine Ecke des großen Wohnraums für sich haben konnten, einander kaum sichtbar durch den massiven Tisch in der Mitte, auf dessen Fläche sich Wäschekörbe und anderer Hausrat türmten. Das Schlafzimmer der Eheleute blieb bei Nacht und Tag unbetreten. Kalt, leer und manchmal sogar verschlossen.

      Georg erinnerte sich dieser Zeit als seiner besten an jenem Ort. Frau B. widmete sich abends den Liebesromanen mit solchem Eifer, dass sie alles um sich herum vergaß, für ein Gespräch keine Zeit war, auch nicht für Unbequemes wie Rügen, Zurechtweisungen oder gar Schulgeschichten, die er ohnedies am liebsten verschwieg. Vorsorglich hatte Frau B., so wie für sich selber auch für Georg eine Lampe neben sein Bett gestellt, deren warmes Licht ein neues, angenehmes Gefühl in ihm wachrief, das er nicht zu benennen wusste. Allein mit sich selber und doch nicht einsam.

      Die kühlen Wände rückten zwar näher, doch verströmten die beiden Lampen im Raum, eine neben ihm, die andere von der gegenüber liegenden Zimmerecke her ein warmes, stetiges Licht, das die umstehenden Gegenstände wie alt vertraute Freunde mit sanften Schatten umwob. Zum ersten Mal fühlte Georg deutlich die Nähe der sonst so strengen Frau. Seltsamerweise flößte sie ihm hier keine Furcht ein. Lesend und stumm schien sie mit ihm, so wie mit sich selber zufrieden und löschte jeweils zu einer vorhersehbaren Zeit leise ihr Licht. Das tat Georg ihr nach und beschäftigte sich im Übrigen gelassen mit eigenen Gedanken. Deren gab es genug.

      Deutlich in Erinnerung blieben die Winter. In der Familie des Herrn B. wurde das Weihnachtsfest kaum beachtet, Weihnachtsbaum und Geschenke tat Herr B. als puren Unsinn ab, er hielt nichts vom Verwöhnen der Bankerte. Kerzen anzünden, Turmblasereien und anderes Brauchtum, das die Augen und Ohren, wohl auch die Herzen der Menschen erfreuen konnte, interessierten ihn nicht. Doch einmal, oder – gar zweimal? – hatten Bertls Bitten doch eine Ausnahme erwirkt. Weil der kleine Georg meist ohnehin beim Holzschlägern mithelfen musste, sollte er draußen die Waldarbeiter um ein Bäumchen bitten und erhielt es auch zu seiner und Bertls Freude. Das gelang ihm noch ein zweites Mal, erinnerte er sich später, doch dann konnte davon keine Rede mehr sein.

      Mit vierzehn war Bertl bereits aus dem Haus. Wo, das wurde dem drei Jahre jüngeren Georg nicht mitgeteilt. Vielleicht bei seinem Lehrherrn? Bei seinem leiblichen Vater oder sonst irgendwo, das wusste Georg nicht. Er erinnerte sich aber oft an seine Erlebnisse im Wald mit den abgeschnittenen Fichten.

      Ein Christbaum wäre halt schön, ließ sich Georgs Stimme von seiner Zimmerecke her vernehmen, weil es schon Abend war und Frau B. bereits mit dem Lesen eines spannenden Liebesromans beschäftigt. Georg sagte das gar nicht laut, doch hörbar genug. Es war ja auch tatsächlich Weihnachtszeit und am nächsten Tag Heiliger Abend. Frau B. fühlte sich zwar gestört, fand aber doch eine Antwort. Was denn net no alles! meinte sie unwirsch. So was macht nur a Arbeit und steht dann herum. Als Georg antworten wollte, fiel sie ihm ungeduldig ins Wort: Wennst an willst, holst dir halt an vom Wald, weil kaufen tua ma kan.

      *

      Ja die Liebesromane! Hätte denn einer gedacht, dass auch in Georgs Sinnen damals kaum anderes zu existieren schien als die Liebe? Sie rumorte in seinem Kopf wie ein verborgener, im Hinterhalt aufmüpfig drängender, doch nie in Erscheinung tretender Geist. Georg war verliebt und wusste nicht, was er darüber denken sollte. Die Kathi vom Nachbarhaus, die mit den lichten Locken und den himmelblauen Maschen hinter den Ohren war es, die von der Vorderbank des weitläufigen Klassenraums her ihn oft freundlich ansah, sich nur allzu gern umdrehte und zu allem lachte, was immer auch Georg sagte und tat. Gern hätte er ihre Zöpfe angefasst und mit ihr geredet. Doch wie sollte er das beginnen?

      Einmal war auf dem Weg in die Trafik in einem der Romanhefte der Frau B. ein praktischer Hinweis über die Liebe zu lesen. Blumen! Ein Mann bringt seiner Geliebten Blumen und die Angehimmelte freut sich darüber. Georg erinnerte sich auch eines Kinofilms, in dem so ein Blumenstrauß eine wichtige Rolle gespielt hatte. Nichts leichter als das, hatte Georg damals im Frühling gedacht. Blumen wachsen ja überall. Bald hatte er eine Faust voll Löwenzahnblüten gepflückt und mit einer Schnur zusammengebündelt, sie wie das Holz aus dem Wald fest eingeschnürt, damit nichts verloren ging. Das Ergebnis dieser süßen Mühe warf er abends über die Mauer, damit die lieben Nachbarn sie fänden beim Gießen: die Kathi und ihre Mutter. Was soll denn sonst ein Mann tun, dachte Georg bangen Herzens, damit ein Mädchen mit ihm zu reden beginnt?

      Heimlich hatte also auch Georg diese nützlichen schönen, nur ganz wenig zerfledderten Romanhefte des Trafikanten im Auge. Wie ist das denn mit der Liebe, sinnierte er noch im nachtdunklen Zimmer. Zwei Leute verlieben sich und wünschen sich einen Kuss. Wenn das vorbei ist, hören sie aber nicht auf zu wünschen, was ziemlich

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